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Landschaft im Grenzraum Nordostbelgiens
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ZEITSCHRIFT DER VEREINIGUNG FÜR
KULTUR, HEIMATKUNDE UND GESCHICHTE
IM GÖHLTAL
Nr. 87 — Februar 2011
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Im Göhltal
ZEITSCHRIFT DER VEREINIGUNG
FÜR
KULTUR, HEIMATKUNDE UND GESCHICHTE
IM GÖHLTAL
Nr. 87
Februar 2011
Veröffentlicht mit der Unterstützung des Kulturamtes der
deutschsprachigen Gemeinschaft
Vorsitzender: Herbert Lennertz, Stadionstraße 3, 4721 Neu-Moresnet.
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3
Inhaltsverzeichnis
Alfred Bertha Zum Umschlagbild: 5
Hergenrath Das Ravenhaus in Raeren
Albert Janclaes Aus Mutters Kriegserinnerungen 17
Walhorn
Henri Beckers Neswäremde 75
Kelmis
Hans Paul Koll Eine Bonner Jugendgruppe 78
Brühl in Hauset 1936
M. Beaufays-Schillings Geschichten aus Kelmis zwischen 1900 9l
Ladbergen und dem Ersten Weltkrieg
M.-Th. Weinert Im Aquarium 94
Aachen-Forst
Henri Beckers De voofde va Ludwig van Beethoven 95
Kelmis
Henri Beckers Wörter met I-J-K 98
Kelmis
Albert Heusch Schloss Lontzen 104
Herbert Lennertz Jahresrückblick 2010 105
Neu-Moresnet
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5
Zum Umschlagbild:
Das Ravenhaus in Raeren
von Alfred Bertha
Der Aachener „Oberlehrer und Stadtbibliothekar“ Christian Quix ist
in seinen „Beiträgen zu einer historisch-topographischen Beschreibung
des Kreises Eupen!“ im Anschluss an „das Gut Knoppenburg oder der
Hof auf der Heid“ auch kurz auf die Höfe „Neuenbau“ und „Altenbau‘*
eingegangen, die nördlich von Neudorf durch Splisse aus dem Stockle-
hen der adligen Familie von Belven entstanden waren.
Während er den „Neuenbau“ (S. 166) als mit dem „Rauershaus“ bzw.
„Ravenhaus“ identisch setzt, sehen die Kunstdenkmäler von Reiners
und Neu (S. 174) das in den Lehensprotokollen des Aachener Marien-
stiftes genannte „Ravenhaus*“ als eine Bezeichnung für das Gut „Alten-
bau“ an.
Ravenhaus wird in den alten Lehnsprotokollen als „Schloss mit Was-
sergraben und Dämmen umgeben“ beschrieben. Und es hatte „dicke
Türme*“, .
Auch in dem durch das Ministerium der Französischen Gemeinschaft
herausgegebenen Verzeichnis der Kunstdenkmäler (Wallonie, Provinz
Lüttich, Bd. 12/3, S. 1182-1183) wird das Ravenhaus unter der Bezeich-
nung „Altenbau“ aufgelistet und beschrieben.
Wie Willy Gillessen in einem detaillierten Beitrag zu „Ravenhaus*“
darlegt , handelt es sich bei den Eintragungen in den Lehnsregistern
„immer um dasselbe Gut, ob es nun „Gut van den Raeffe, „Ravengut‘“,
„Ravenhaus‘“, „Neuenbau“ oder „Altenbau“ heißt.
Genannt wird der alte Herrensitz „Ravenhaus“ in den Lehnsregistern
erstmals 1420 als „das Gut van den Raeffe“ . Spätere Formen sind „Ra-
vengut“, „Ravenhuysen“, „Raven haoff‘‘, Gut Raef“ u. a. In der preußi-
schen Zeit findet sich durchweg die Form „Rabenhaus“.
Wie die meisten Güter unserer Gegend gehörte auch Ravenhaus dem
Aachener Marienstift und ist wohl, wie Quix darlegt, durch Teilung des
Stocklehens Belven entstanden.
' Aachen, 1837, Verlag J. A. Mayer, Nachdruck 1978.
2 Quix,S. 166
3 „Ravenhaus - Ein alter Herrensitz 1420-1920“ in Geschichtliches Eupen, Bd. V,
1971, 5. 75-95.
7
Wie aus den Lehnsprotokollen des Aachener Marienstiftes hervor-
geht, vergrößerte Symon van Belven zwischen 1566 und 1574 durch
zahlreiche Zukäufe das Areal des Ravenhofes, so dass, wie W. Gillessen
dazu bemerkt, „die alten Gebäude nicht mehr ausreichten und durch
neue und größere ersetzt werden mussten. Den Umständen entspre-
chend können wir als das Jahr der Vollendung etwa 1570 annehmen.“
Die Wappen Bertolf von Belven und von der Heyden zieren das Ein-
gangstor zu Ravenhaus.
Willy Gillessen weist zum Vergleich auf ein Allianzwappen Simon
Bertolf v. Belven - Guet van der Heyden gen. Belderbusch, das sich im
Hetjens-Museum in Düsseldorf auf einem Raerener Krug befindet (Ab-
bildung in Hellebrandt, Raerener Steinzeug, S. 110 und M. Kohnemann,
Auflagen auf Raerener Steinzeug, S. 73).
In der Folgezeit wurde das neue Ravenhaus sehr häufig in den Lehns-
registern als „Gut Ravershausen genannt Neuebau“ bezeichnet.
Nicht zu verwechseln ist Ravenhaus mit dem Gutshof „Neuenbau““
an der alten Aachener Gasse (Römerstraße), der erst zwischen 1785 und
1851 an Ravenhaus gekommen sein muss und der 1744 von den Ehe-
leuten Willem Steenmetzer und Johanne Kreyz erbaut wurde. Die Jah-
reszahl 1744 sowie die Namen der Erbauer liest man im Türsturz („W
STENM. I. KREIZ“).
Einige wenige der Lehnsregistereintragungen wollen wir hier einfü-
gen.
Am 7. April 1598 empfängt Dieterich Bertolf van Belven „Sitz, Erbe
und Gut Ravershausen gen. Neubau nebst den zugehörenden Gütern*“ .
Am 8. Mai 1647 empfängt Freifrau von Palant nach Tod ihres Vaters
Dieterich von Belven das Gut Ravershausen genannt Neubau, das die-
ser am 7. April 1598 empfangen hatte. Zudem 1/5 der Güter zu Belven,
mit denen der Vater am 7. April 1598, und 190 Morgen in dem Lange-
bend, mit denen er am 6. März 1606 belehnt worden war.
Nach einem Urteil des Rates von Brabant gegen Freifrau Elisabeth van
Belven ging Ravenhaus („das Gut Neuenbau“) am 3. Oktober 1647 in
öffentlichem Verkauf an die Priorin des Klosters St. Leonard zu Aachen.
Am 28. April 1698, bei einem Verkauf von Belven, wird das Gut
Ravenhaus als ein Spliss von Belven bezeichnet, der 1/9 des Stockgutes
umfasst.
Als der Raerener Pfarrer Peter Jak. Grossmeier 1693 ein Haus- und
Einwohnerverzeichnis seiner Pfarre anlegte, registrierte er auf Raven-
+ Coels, Lehensregister, S. 696
8
haus nur eine Familie Steinmetzer mit dem Ehemann Derich (Diede-
rich), der Ehefrau Anna geb. Kerst, deren noch unverheirateter Schwes-
ter Barbara sowie der aus dem Monschauer Land stammenden Magd
Catharina.
Bewohnt war nur der Neubau. Das alte Herrenhaus stand leer.
1784 trennt sich das Aachener Kloster von seinem Raerener Besitz,
der durch Verkauf an die Eheleute Peter Schöffers (auch Schieffer) und
Petronella Egyptien übergeht. Die „Bauten, Weiden, Büsche und Öd-
land genannt Nieuenbouw“ haben eine Größe von 53 Bundern, 2 Mor-
gen und 5 Ruten (1 Bunder = 0,87 ha). Peter Schöffers starb um 1826.
Nach dem Tode seiner Ehefrau hatte er in zweiter Ehe deren Schwester
(?) Maria Carolina Egyptien geheiratet. Das Gut Ravenhaus hat Familie *
Schöffers selbst bewohnt und wohl auch bewirtschaftet. In der Gemein-
dechronik von Raeren findet sich unter dem 28. November 1838 die
Eintragung: „...starb in hiesiger Gemeinde Maria Carolina Egyptien,
Wb (= Wittib) von Peter Schyffer in einem Alter von 90 Jahren. Diesel-
be konnte bis kurz vor ihrem Tode noch täglich zur Kirche gehen, war
seit ungefähr 12 Jahren Wittib und früher mit ihrem Ehemanne Eigent-
hümer und Bewohner des hiesigen Gutes Altenbau.‘“
Zu Beginn der preußischen Zeit erwarb Johann Gerhard Hüffer die-
se Liegenschaften. An ihn erinnern die Maueranker mit der Jahreszahl
1819 und dem Namen JG Huffer an der langen Front des zweiten Pacht-
hofes. Dies weist den Eupener Tuchfabrikanten (und von 1818 bis 1820
auch Bürgermeister seiner Heimatstadt) als Erbauer dieses Hofes aus.
Dessen Sohn, Anton Wilhelm Hüffer, war ebenfalls Tuchfabrikant zu
Eupen. Von diesem (oder dessen Nachfolger) stammt das ursprünglich
schlichte Herrenhaus.
Anton Wilhelm Hüffer verdanken wir auch die Anlage des schönen
Parks „in englischer Art“ (Quix) mit der Fichten- und Ulmenallee nach
Ravenhaus. Ein bei dem Gastwirten Friedrich Schumacher am 9.12.1868
stattgefundener Holzverkauf weist darauf hin, dass wohl vorwiegend
schnell wachsende Pappeln die Allee nach Ravenhaus gesäumt haben.
1822 wurden 15 Parzellen Gemeindewald auf der Flur Rovert, ins-
gesamt 128 Morgen, durch Landrat von Scheibler an Gerhard Johann
Hüffer verkauft, der 1823 verstarb. 1834 heißt es in einer Verkaufsan-
zeige im Korrespondenzblatt „Altenbau im Rover, Eigentum des Herrn
Hüffer“‘.
Durch die Heirat der Tochter des vorgenannten Anton Wilhelm Hüf-
fer, Julia Hüffer, mit dem Bergwerksdirektor Ernst Jeghers ging das
9
Raerener Landhaus mit den dazu gehörenden Gütern nach dem Tode
von Anton Wilhelm Hüffer (17.4.1868) an die Familie Jeghers-Hüffer
über. Anton Wilhelm Hüffer hatte, wie W. Gillessen eruieren konnte,
seine letzten Lebensjahre bei seiner Tochter in Ruhrort verbracht.
Der Schwiegersohn Ernst Jeghers starb am 30.1.1879. Er hat am Her-
renhaus von Ravenhaus bedeutende Umbauten vornehmen lassen.
Häufig wird das Ravenhaus im Zusammenhang mit Holzverkäufen
genannt. So ließ Ernst Jeghers, „jetziger Besitzer der von dem verleb-
ten Herrn Commerzienrat Hüffer herrührenden Güter“, öffentlich auf
Kredit verkaufen „200 Pappeln, stehend in der Allee von Rovert nach
dem Gute Altenbau (Rabenhaus) bei Raeren. Diese Bäume haben einen
Durchmesser von 8-16 Zoll und eine Höhe von 40-50 Fuß. Nähere Aus-
künfte gibt der Verwalter Herr Hammelrath auf Altenbau“. (Korr.-Bl. v.
18.11.1868, Notar Lautz).
Aus der Zeit, wo Familie Jeghers Ravenhaus bewohnte, ist uns der
Name einer Pächterin bekannt. Die Witwe Adolph Renardy wird in
einer Verkaufsanzeige vom 24.3.1877 genannt. Am 27.3.1877 ließ sie
„verziehungshalber, an ihrer Wohnung auf dem Gute Ravenhaus, auch
Altenbau genannt, bei Raeren, auf Credit gegen Bürgschaft öffentlich
verkaufen:
2 schöne Ackerpferde, Wallache, 4 und 2 Jahre alt, 22 schöne Kühe,
wobei eine leere, größtenteils limburger und nordholländischer Rasse, 5
Rinder, mehrere Zuchtkälber, 1 Mutterschwein mit 9 jungen Schwein-
chen von 6 Wochen, 9 Hühner nebst Hahn, alles Pferdegeschirr als:
Hahmen, Zügel, Sattel, Hinterhahmen, Baumseil, Ketten usw.
Sodann eine lange Karre mit breiten Rädern und eiserner Achse, 1
Schlagkarren, 1 Dombasle- und 2 Reitpflüge, 3 Eggen, wobei eine eiser-
ne, 1 Häckselmaschine, fast neu, 1 Wannmühle, 1 Ritsche und sonstiges
Handarbeits- und Feldgeschirr, ferner Haus- und Kellermobilar als: Ti-
sche, Stühle, Canapee’s, Schränke, 1 Glasschrank, 2 Öfen, Kupfer- und
Porzellangeschirr, 200 hölzerne Milchnäpfe, 40 Käsebecken, Milch-
und Waschbütten etc.
Ankäufer von Rindvieh können dasselbe mit Ausnahme der Kälber
bis zum 30. April d. J. auf dem Gute belassen und erhält dasselbe da-
selbst durch die Verkäuferin unentgeltlich Futter und Pflege wie bis-
her, wobei dem Ankäufer gestattet wird, sich zu jeder Tageszeit von
der richtigen Behandlung und Fütterung zu überzeugen und bleibt es
demselben unbenommen, sein Vieh jeden Tag wegzunehmen.“
10
Großer MNMobilarverkanuf Nach dem Tode von Ernst
Bo uf Den Cie Dlaneu DNS + Jeghers ließ die Witwe am
u in der emeinDde geren. 5:55 .
“Ant Anlehen der Frau Witte Eruft Zeghers 17.2.1879 „in der Umgegend
nulia: geborene Hüffer;, Rentnerin und Gutsbe- von Ravenhaus“ 2 Eichen
figerin zu Navenhaus, wohnend wird der Unter-
zeihnete “5 - 1300 44... und 12 Buchen „von bedeu-
am Donnerftag‘ den 23. Oktober, 1879 +ender Stärke und Länge“
HS VormittagE 9 Uhr, ILL I
“auf “dem Gute- Navenhaus folgende Mobilarger SOWie „an der Rover-Allee
enftände als: SAGE m a ; E
genflän Sijhe, Stühle, Beftladen; Commoden“ SA- 200 Kiefernstämme und
3 EM A HE Sa NEE Stangen zu Bau- und Gruben-
— Gengeräthe, einen großen Kochheerd, Matraken, . PA n
fen Bettdedien, inehrere Bettftellen, Mehl« holz geeignet“ versteigern.
+5" 7Biften, Gartenmöbel, Fijchereigeräthe, 2 fat Herr Hammelrath auf Raven-
* = neue "Kinderwagen, 1 großer Kronleuchter,‘ h
#7 "Lampen, Defen, Wafchdütten, verfhiedene® aus werde auf Verlangen das
= Borzellan, Apfelkraut und Apfeleffig, ferner 72 Holz anweisen. (K. Bl. vom
- ; Shfwäne,.1 Boldermagen 26. n
Bffentlich meiftbietend gegen gleich baare Zahlung 8.2.1879).
verfäufen, X A al & si Ge
_“ Gupen, don 17, OMober 1879. + Während man die Ara Hüf-
DZ ‘7 Le Hanne, Notar, = fer Vater und Sohn als eine
er Fortfegung Fr... für Ravenhaus recht glück-
VASE ZA „des Da ‘liche Zeit bezeichnen kann,
Mobilgr X erfanfes . weiß man von Familie Jeg-
; auf dem Cute Kay 2908 pers, dass nicht alles Gold
"U tm der Gemeinde Haeren. I aoleaı v =
Auf Anfiehen der Frau We, Eruft Fegr ist, was glänzt. Die Familie
Her8, Sulidigeb. Hüffer, „Rentnerin_und hatte mehrere Töchter und ei-
utSbefigerin zu Ravenhaus mohnend, wird Der € S
Mnfergeihnete ie nn Ins nen Sohn, der im preußischen
am DMonfag Sen 27. Oktober d, I. Heer als Offizier diente. Es
“und nöfhigenfalls an den darauffolgenden Tagen S $
jedesmal Bor mittags um-9-Uhr-anfangend, geht von diesem die Rede, er
“folgende-Mobilargegenftände,-al8 s*: 5 AL ; a
en ee Sfügle. Beiladen mit-volfän- Nabe das elterliche Vermögen
37.2 Digem Bette, MtebeB RASSE, Ar im Glücksspiel verloren.
rn fen u. Bettdeden, Commoden, Kleiderfhränke, Gr d
Fe A großen Spiegelfchrant, Wafchtifhe, ‚Manz Aus SER Verkaufsan-
EP esitel und EU A On zeigen im Korrespondenz-
“= Bad: und Küchengeräthe,: Mehlkiften, - ar» 4
324 tenmößel, Sijhereigeräthe, Wajehbütten,- 1 blatt des Kreises Eupen (22.
7%, faft- neuen Kinderwagen, 1 großen Kronleuchs und 25.10.1879) ersehen wir,
„ter, „mehrere [höne Lampen, _ perfchiedene8 m f
47 zBorzellan und‘. SGläfer, ee Bartie ‚Borfife dass die Witwe Ernst Jeg-
FE -Beinflafchen, 1 Bücher-Bibliothet, ‚2: Dels . 2
DS Binden Wfl Klee 4 grauts 1678, Julia geb. Hüffer, nach
Gerz upteffe, 1 große Anzahl ausgeftopfter_ SR dem Tode ihres Mannes nicht
An ferner. 2 Schwäne, ‚mehrere {qöne Lorbeers
25 Blume Ser and Olamenpflangen {nsie 7 mehr lange auf Ravenhaus
Ae Biest a 1 MON ne En a, gewohnt hat. Das gesamte
Öfentlich gegen gleich. baare— Zahlung verlaufen. A Ü 3
en 38. -Oltober 1879.: =... Mobilar wurde in zwei Ver-
hessen Be Spanne, Notar, Kaufssitzungen auf Anstehen
Verkaufsanzeigen der Witwe am 23. bzw. 27.
Korr. -Blatt vom 22.10.1879 bzw. 25.10.1879
11
Oktober 1879 durch den Eupener Notar Le Hanne „öffentlich meistbie-
tend gegen gleich bare Zahlung“ verkauft.
Ein Blick auf die zum Verkauf kommenden Gegenstände zeichnet
das Bild einer großbürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts. Es wer-
den in der ersten Verkaufsanzeige (23.10.1879) aufgelistet:
Tische, Stühle, Bettladen, Commoden, Kleiderschränke, Waschti-
sche, Back- und Küchengeräte, ein großer Kochherd, Matratzen, Kissen,
Bettdecken, mehrere Bettstellen, Mehlkisten, Gartenmöbel, Fischerei-
geräte, 2 fast neue Kinderwagen, 1 großer Kronleuchter, Lampen, Öfen,
Waschbütten, verschiedenes Porzellan, Apfelkraut und Apfelessig, fer-
ner 2 Schwäne, 1 Bolderwagen etc.
Da die Fülle der Gegenstände eine Aufteilung derselben in zwei
Lose notwendig machte, folgte ein zweiter Verkauf am Montag, dem
27.10.1879. Die Verkaufsanzeige listet auf:
Tische, Stühle, Bettladen mit vollständigem Bettzeug, Pferdehaar-
Matratzen, Kissen und Bettdecken, Commoden, Kleiderschränke, 1
großen Spiegelschrank, Waschtische, Mantel- und Säulenöfen, 1 gro-
ßen Kochherd, Back- und Küchengeräte, Mehlkisten, Gartenmöbel, Fi-
schereigeräte, Waschbütten, 1 fast neuen Kinderwagen, 1 großen Kron-
leuchter, mehrere schöne Lampen, verschiedenes Porzellan und Gläser,
1 Partie sortierte Weinflaschen, 1 Bücher-Bibliothek, 2 Öldruckbilder,
Apfelkraut und Apfelessig, 1 Krautpresse, 1 große Anzahl ausgestopf-
ter Vögel, ferner 2 Schwäne, mehrere schöne Lorbeerbäume, Zier- und
Blumenpflanzen sowie 7 Mistbeetfenster und 1 Bolderwagen etc.
Frau Jeghers verbrachte ihren Lebensabend „in sehr bescheidenen
Verhältnissen“ in Köln, wo sie am 4. April 1894 verstarb.
Auch Ravenhaus und die Pachthöfe wechselten den Besitzer. Häuser
und Ländereien gingen durch Kauf an den Kölner Baron Jakob Mumm
von Schwarzenstein, der als „Kaufmann und Gutsbesitzer“ auftritt und
nur selten auf Ravenhaus wohnte. Schon 1895 trennte er sich erneut von
seinem Raerener Landhaus. An ihn erinnern nur noch einzelne Grenz-
steine mit den Initialen JuM. (Jakob von Mumm). Sein Name findet sich
im Korrespondenzblatt nur ein einziges Mal, und zwar im Zusammen-
hang mit einem auf Anstehen des Barons am 22. Januar 1880 in Raeren,
im Hotel zur Post, durchgeführten Holzverkauf, wobei „gefälltes Holz
in der Umgebung von Ravenhaus, im Biester und an der Rover-Allee‘““
versteigert wurde.
Nächste Besitzer waren die sehr begüterten Eupener Tuchindustri-
ellen Sternickel und Gülcher. Viktor Sternickel, dessen Frau eine ge-
12
borene Gülcher war, hatte als Landwirt in Ungarn praktische Erfah-
rungen gesammelt. Während die Vorbesitzer Ravenhaus meist nur als
Sommerresidenz genutzt hatten, nahm Familie Sternickel dauernd hier
Wohnung.
Schon 1899 trennten sich Sternickel und Gülcher von Ravenhaus, das
mit allen Ländereien an den Kommerzienrat Adolf Kirdorf (1845-1923)
überging. Der aus Mettmann stammende Kirdorf war Generaldirektor
des Hüttenwerkes Rothe Erde. Seinen ersten Wohnsitz hatte er in Burt-
scheid, die Sommermonate verbrachte er jedoch zumeist auf seinem
Raerener Landsitz.
Kirdorf vergrößerte seinen Besitz durch Zukauf einer an der Straße
von Neudorf nach Belven gelegenen wiese von nahezu 6 ha. und errich- *
tete 1900/1901 den so genannten Oberhof (von Ravenhaus aus gesehen
war es der höher gelegene Hof) mit einer Betriebsfläche von ca. 19 ha.
Dieser neue Hof wird öfters völlig unrichtig auch als“schwarzer wei-
her“ bezeichnet. Er wurde am 1. Mai 1901 bezogen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bot das Herrenhaus mit dem von vier
Säulen getragenen Balkon, den Ziergiebeln des Mansarddaches und
der Obergeschossfenster im Mitteltrakt und den flankierenden Seiten-
trakten unter Flachdach ein ganz auf Symmetrie abgestimmtes Erschei-
nungsbild.
Das Haus besaß zeitweilig auch eine Hauskapelle. Als Hausgeistli-
cher fungierte u. a. Josef Sittard, der am 18.3.1862 die Rektorstelle am
Heidberg in Eupen übernahm.
Ende 1870 war die Kapelle nicht mehr vorhanden.
* ok
Wenn die Flagge vom Dach des Herrenhauses eingezogen war, wurde
damit die Abwesenheit der „Herrschaft“ signalisiert. Unter dem Perso-
nal hatten der Verwalter und der Förster besonders viel Verantwortung.
In der Erinnerung sind die Namen der Verwalter und Gärtner Oberbach
und Hammelrath lebendig geblieben. Sie gaben nach wenigen Jahren
ihren Dienst (zu anspruchsvoll?) auf. Der nächste Verwalter war Werner
de Clercq, der den Eifelhof erwarb.
Der einzige lebende Zeuge dieser alten Zeit ist die mächtige Eiche
vor dem Tor, die einen Stammumfang von ca. 420 cm aufweist und
somit rd. 400 Jahre alt sein kann.
13
In jenem Jahre gehörten 6 stattliche Pachthöfe zu Ravenhaus, und
zwar
- Gut Neuenbau, Pächter: Johann Josef Keutgen und Gertrud Cor-
mann;
- Gut Merols, Pächter: Hermann Kohl-Egyptien;
- Oberhof, Pächter: Willy Gillessen;
- Eifelhof, Ecke Kinkebahn, Pächter (dann Eigentümer) Werner de
Clercq und Anna Croe;
- zwei Höfe „Ravenhaus‘‘ bewirtschaftet durch die Familien Menni-
cken-Kohl und Pauquet-Klinkenberg.
Die Pächterfamilien waren häufig über mehrere Generationen auf
diesen Höfen. Über die Art der Bewirtschaftung (Ackerbau, Viehzucht
und Milchwirtschaft) lassen sich aus Verkaufsanzeigen im Korrespon-
denzblatt des Kreises Eupen einige Schlüsse ziehen. Nehmen wir ein
paar Beispiele des Gutes „Altenbau“‘.
Der erste uns namentlich bekannte Pächter ist Peter Joseph Kriescher,
der am 17.4.1839 in seiner Wohnung „auf dem Alten Bau“ seinen ge-
samten Viehbestand durch Notar Schüller verkaufen lässt. Kriescher
hatte eine stattliche Herde von 24 Milchkühen, 4 Rindern und 1 Stier.
1 Ackerpferd, 1 Fohlen und 9 Faselschweine vervollständigten die
Tierhaltung.
Der „Fuhrpark“ besteht aus nur einem Fruchtwagen und 1 Karren.
Dass Kriescher auch noch etwas Ackerbau betrieben hat, zeigt der Ver-
kauf von 200 Fass Saathafer und 1 Partie Kartoffeln.
Nach dem Tode ihres Mannes bleibt die Witwe Kriescher noch einige
Jahre auf dem Altenbau, wo sie weiterhin Ackerbau und Viehzucht be-
treibt. Erst am 18.4.1844 kommt es zu einem Vieh- und Mobilarverkauf,
der darauf hindeutet, dass die Witwe den Altenbau definitiv verlassen
hat.
Der zum Verkauf kommende Viehbestand zählte 17 Milchkühe und 3
Rinder. Dazu kamen 8 Faselschweine.
Ackerbau hatte man bis dahin ebenfalls betrieben, denn zum Verkauf
kam „1 ganz neuer zweispänniger Pflug mit eiserner Achse, 1 Karren, 1
Welle und 1 Wannmühle (Getreidereinigungsmaschine).
1 Butterfass, 1 Wasserkarre, 1 Partie Hafer, Kartoffeln und Brennholz
sowie „alles Haus- und Kellergerät“ standen ebenfalls auf der Verkaufs-
liste. Die als „Kellergeräte‘““ bezeichneten Objekte dienten in der Regel
der Käseherstellung.
Auf Familie Kriescher folgte auf Altenbau die Familie Heyeres, wie
aus einer Verkaufsanzeige vom 12.3.1847 hervorgeht. Die Witwe Hey-
14
eres (ihr Mann Johann Peter Heyeres war am 20. November 1842 im
Alter von 90 Jahren verstorben) ließ am 26.3.1847 in ihrer Wohnung
auf dem Altenbau ihren Viehbestand (15 Kühe und 3 Rinder) öffentlich
verkaufen. Dazu noch 2 Pferde, 80 Fass Hafer (1 Fass entspricht etwa
30 1) 1 Partie Kartoffeln und Wicken, 1 Hausuhr und 1 Schrank.
Ein im Korrespondenzblatt des Kreises Eupen vom 15.3.1851 ange-
kündigter „Vieh- und Karrenverkauf“ nennt als Pächter auf dem Alten-
bau Johann Franz Cordonnier, der am 10.4.1851 durch Notar Schüller
23 tragende Kühe und 1 leere, 2 Stiere, 1 schönes starkes Ackerpferd
nebst Geschirr sowie 1 fast neue zweispännige Karre mit vierzölligen
Rädern, 1 ganz neue Schlagkarre und 1 neue Wannmühle verkaufen
ließ. N
Zeitweilig hat der Besitzer von Altenbau, Kommerzienrat Hüffer,
auch selber Landwirtschaft betrieben. Eine Verkaufsanzeige im Kor-
respondenzblatt vom 26.8.1865 weist darauf hin, dass der Herr Kom-
merzienrat Hüffer auf seinem Gut Altenbau bei Raeren „wegen Einstel-
lung der Landwirtschaft“ ein Pferd und Ackergerätschaften öffentlich
durch Notar Schüller verkaufen lasse. Das Pferd sei „zu jedem Ge-
brauch tauglich“.
Als Pächter auf dem Altenbau ist 1850 Peter Josef Mennicken belegt.
Im Anschluss an den hiervor im Auftrag von Hüffer durchgeführten
Verkauf ließ Mennicken 1 achtjähriges Pferd und 1 einjähriges Foh-
len, 5 Kühe, 2 Schweine, 50 Fass Saathafer, 20 Fass Gerste, 1 Partie
Kocherbsen, Wicken und Kartoffeln durch den Gerichtsschreiber Kof-
ferath öffentlich meistbietend auf Kredit gegen Bürgschaft versteigern.
Dazu kamen 2 Langkarren mit eisernen Achsen und vierzölligen Rä-
dern, 3 Schlagkarren, worunter „eine ganz neue mit neuer Spurweite“,
1 Schlagkarre ohne Räder, 3 Schlitten, 3 Pflüge, wobei ein englischer
Dombasle-Pflug®, 2 eiserne und 2 hölzerne Eggen, 1 Wannmühle, 1 Rit-
sche, 1 eiserner Rechen mit Rädern (von Croskill), 1 steinerne Welle,
1 Haferquetschmühle, mehrere Bütten, 2 vollständige Pferdegeschirre
und viele andere Ketten, 2 Butterfässer, wovon ein ganz neues, und ver-
schiedene Hausgeräte.
Eine weitere Anzeige vom 8.3.1856 zeigt, dass Frau Mennicken nach
dem Tode ihres Mannes auf dem Altenbau geblieben ist und erst 1856
einen großen „Vieh-, Mobilar- und Fruchtverkauf“ durch Notar Schüller
durchführen lässt. Öffentlich verkauft wurden am 18.3.1856: 3 Acker-
pferde, 4 Faselschweine, 3 lange Karren mit breiten Rädern und Leitern,
$ So benannt nach dem französischen Agronom Dombasle
15
1 Schlagkarre mit breiten Rädern, 2 Pflüge, wobei ein sehr schwerer,
2 Eggen, 1 Welle, 1 Schlitten, schwere und leichte Ketten, sämtliches
Pferdegeschirr, 1 Partie Nutzholz, worunter Karrenhölzer sind, 300 Fass
schöner Saamhafer (= Saathafer), 50 Fass Saamgerste, 6 Fass Erbsen,
1 Partie Kartoffeln, 300 Pfund gutes Schweinefleisch und Schweinefe-
der”.
Auffallend ist, dass Frau Mennicken die Milchviehhaltung wohl
schon früher eingestellt hat.
Nach dem Tode des Pächters Johann Joseph Keutgen i. J. 1866 ließen
die Erben am 27.4.1866 den Nachlass auf dem Altenbau durch den Eu-
pener Notar Lautz verkaufen. Dazu gehörten 24 Milchkühe. An Jung-
vieh werden nur 4 Rinder und 3 Kälber aufgeführt, dazu ein Stier der
limburger Rasse.
Keutgen hat offensichtlich das Schwergewicht auf die Milchwirt-
schaft gelegt. Zur Verarbeitung der Milch und zur Käseherstellung
besaß er 200 Milchnäpfe, 50 Käsebecken, Käseplanken, 1 Butterfass,
„Buttertinnen“ und mehrere andere „Tinnen“ (Tin =großer, metallener
Kübel).
Keutgen bewirtschaftete den Hof mit 2 Pferden, besaß mehrere Kar-
ren (eine lange, 2 Schlagkarren, 1 zweispännige mit breiten Rädern), 1
Dombasle-Pflug, 1 Reitpflug (= Pflug mit Sitz) und 1 Welle.
Da noch keine mineralische Düngung eingesetzt wurde, kam es nach
einer gewissen Anzahl von Jahren auf den Wiesen und Weiden zu Bo-
denerschöpfungserscheinungen. Diesem musste der Pächter durch „Bre-
chen“, d. h. Umpflügen, derjenigen Gründe und Wiesen, „die nicht mehr
in gehörigem ertragsfähigem Zustand sich befinden“ entgegen wirken.
In einem durch Herrn Gillessen in seinem Beitrag über Ravenhaus
zitierten Pachtvertrag vom 20. November 1857 (es handelt sich um Än-
derungsnachträge eines bestehenden Vertrages) zwischen Anton Wil-
helm Hüffer einerseits und den Eheleuten Johann Joseph Keutgen und
Gertrud Cormann andererseits, wird in Artikel 3 genau vorgeschrieben,
wie der Pächter vorzugehen habe.
Es heißt da, „auf Verlangen des Herrn Verpachters‘ solle der Anpäch-
ter gehalten sein, von nicht mehr ertragsfähigen Böden alljährig 4 bis 6
Morgen zu brechen, diese im ersten Jahre mit Guano (= Seevogelmist,
als Phosphatdünger genutzt) zu düngen und mit Hafer einzusäen; so-
dann im folgenden Jahre dieselben mit Stalldünger zu bestellen und mit
7 Aus der Schweinefeder wurde durch Erhitzen das Schmalz gewonnen.
16
„harten Früchten“ einzusäen, und durch Einstreuen von hinlänglichem
Grassamen und 6 bis 8 Pfund wildem Kleesamen wieder in gute Wiesen
zu verwandeln.‘ .
Der Verpächter verpflichtete sich, dem Pächter den notwendigen Gu-
ano zum Selbstkostenpreis zu liefern; allerdings war die Kaufsumme
mit jährlich 10 % zu verzinsen.
Der für Deutschland unglückliche Ausgang des Ersten Weltkrieges
bedeutete für viele deutsche Eigentümer von Landgütern im nunmehr
belgischen Grenzgebiet den Verlust ihres Besitzes in Neubelgien. Ra-
venhaus entging der Beschlagnahme dadurch, dass von Kirdorf drei der
vier „außen liegenden“ Höfe an die derzeitigen Pächter und den vierten
an den Gutsverwalter verkaufte. :
Auch von dem Herrenhaus mit dem Park und den zwei anliegenden
Höfen (insgesamt 70 ha 92 a trennte sich von Kirdorf schweren Her-
zens. Dieses Areal wurde 1923 in zwei ungleich große Höfe gespalten.
Bei einem der zahlreichen Feindflüge der Royal Air Force (RAF) ge-
gen Deutschland und speziell gegen Aachen, bei dem in der Nacht vom
13. auf den 14. Juli 1943, von 1,45 Uhr bis 2,42 Uhr ca. 200 Flugzeuge
im Einsatz waren, wurde auch eine Brandbombe über Raeren abgewor-
fen, wo sie das Ravenhaus traf. Das Haus ging in Flammen auf und steht
seitdem als mahnende Bauruine in der Wiesenlandschaft.
7
Aus Mutters Kriegserinnerungen
von Albert Janclaes
Ein Kindheitstrauma
Eingangs möchte ich von einer Begebenheit berichten, welche ich im
zarten Alter von gerade drei Jahren erlebte. Dieses Ereignis stellt meine
früheste Kindheitserinnerung dar und fügt sich in die nachfolgenden
Kriegserinnerungen meiner Mutter ein.
Es muss ein Frühsommerabend gewesen sein, denn die zu schildern-
de Szene spielte sich nach Einbruch der Dunkelheit ab; aber es war
immer noch angenehm mild.
Angst hatte ich nicht, denn meine Mutter stand hinter mir und ihre
Hände ruhten auf meinen Schultern. Wir standen beide mit dem Rü-
cken zur Eingangstüre eines Hauses und gegenüber erkannte ich den
eindrucksvollen Bau der Walhorner Kirche.
Links und rechts von uns standen weitere Menschen, die ich aber nur
schemenhaft wahrnehmen konnte. Aber selbst wenn ich sie deutlicher
hätte wahrnehmen können, hätte ich vermutlich kein bekanntes Gesicht
erkennen können, denn mein Leben hatte ich bis dahin recht einsam als
Einzelkind auf unserem Hof im Walhorner Feld verlebt.
Jetzt aber blickte ich verwundert auf eine große Menschenmasse, die
im Halbrund vor uns Aufstellung genommen hatte. Viele von ihnen sol-
len Fackeln in den Händen gehalten haben, aber daran kann ich mich
nicht erinnern.
Die Menschen verhielten sich ruhig, so dass die Szenerie nichts Ge-
spenstisches an sich hatte und ich auch keine Angst verspürte.
Linker Hand von dem Haus, vor dem wir standen, ragte eine kleine
Gruppe riesiger Pappeln in den Himmel. Darunter muss wohl ein Po-
dest aufgebaut gewesen sein. Möglicherweise war es auch nur ein Tisch
oder ein Stuhl. Es muss wohl so gewesen sein, denn der Mann, der zu
den versammelten Menschen sprach, ragte deutlich über die Köpfe der
versammelten Menge. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wer da zu der
Menge sprach, noch verstand ich den Sinn der Worte.
Plötzlich jedoch sprach jemand, dessen Stimme ich kannte. Ich dreh-
te meinen Kopf zur Seite und erkannte meinen Vater.
Doch der Tonfall seiner Stimme war eigenartig und sehr erregt. So
hatte ich Vater noch nie reden gehört. Im Verlaufe seiner Ansprache
18
spürte ich eine zunehmende Aggression in seiner Stimme. Ich war ver-
wirrt und begann mich zu ängstigen.
Dann vollzog sich Ungeheuerliches.
Vater zog an einem Seil, das von einer Astgabel einer der Pappeln
herunterhing, und ich sah, wie ein Mensch (dass es nur eine Puppe war,
konnte ich nicht ahnen), dessen Kopf in einer Schlinge hing, immer
höher gezogen wurde und bald hoch über den Köpfen der Anwesenden
baumelte. Besonders erschreckend empfand ich das Baumeln der Bei-
ne, für mich damals ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Gehängte
furchtbare Schmerzen zu erleiden hatte.
Wie konnte Vater so etwas tun? Mein Vater!!
Mit dem Bild vom bald still vom Baume herabhängenden Gehäng-
ten enden meine Erinnerungen an diese grausame Szene. Das Phäno-
men Tod war mir damals natürlich noch kein Begriff. Erfahrungen wie
Angst, Schmerz, väterliche Wutausbrüche und körperliche Züchtigun-
gen waren mir bis zu diesem Zeitpunkt noch völlig unbekannt.
Aus der diesem Ereignis vorangegangenen Zeit habe ich nur noch
wenige Erinnerungsfetzen. So sehe ich uns z. B. in die leergepumpte
und trockengelegte Zisterne einsteigen, über die sich heute das Arsenal
der Kgl. St. Stephanus-Schützen von Walhorn erhebt.
Heute weiß ich, dass die Familie hier Schutz vor den zurückweichen-
den deutschen und den vorrückenden amerikanischen Truppen gesucht
hat.
Doch dieses Erlebnis hatte für mich nichts Bedrohliches.
Das nächste Bild verbinde ich sogar mit höchst positiven Erinnerun-
gen.
Vater stürmt mit mir auf dem Arm freudig erregt auf den Speicher un-
seres Hauses, öffnet die Dachluke und wir blicken von dort gemeinsam
auf eine Kolonne schwerer Panzer, die vom Walhorner Feld in Richtung
Dorf rollen.
«Sieh nur, die Amerikaner sind da! Endlich sind die Amerikaner an-
gekommen!»
Vater konnte sich vor Begeisterung kaum fassen und seine Freude
übertrug sich auch auf mich. Seitdem faszinieren mich schwere Pan-
zer. Kein Wunder, dass ich später meinen Militärdienst in einem Pan-
zerregiment ableisten wollte. Der Wunsch wurde mir erfüllt. Mit der
Matrikelnummer 61/18.881 diente ich 1961-1962 im 1. Regiment der
«Lanciers», welches zu meiner Zeit in Düren stationiert war.
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Die nächsten Erinnerungsbilder haben alle mit bei uns einquartierten
amerikanischen Soldaten zu tun. Ihre Vornamen sind mir noch Jahre
lang in Erinnerung geblieben. Vor allem deshalb, weil sie ausgelassen
mit mir spielten und mich großzügig mit Schokolade und Kaugummi
versorgten.
Dann erinnere ich mich noch an eine Nacht, die wir gemeinsam mit
Nachbarn im Eiskeller der ehemailigen Privatmolkerei Waldemar Fun-
ken verbrachten. Dieser Eiskeller wurde später als Garage in den Neu-
bau Gillessen in der Ketteniser Straße 27 integriert.
Diese «Ausquartierung» hatte zwar nichts direkt Bedrohliches, aber
Mutter erzählte mir später, dass wir während der Rundstedtoffensive in
diesem Keller Schutz gesucht haben.
Nachdem dieses letzte Aufbäumen der Wehrmacht überwunden war
und die Amerikaner ins Rheinland vorrückten, wurde Eupen zur Etap-
penstadt der Alliierten. Fast jeden Tag wurde gefeiert und immer war
Mutter mit mir dabei.
Es war eine herrliche Zeit für Mutter und mich. Manchmal begleitete
uns auch mein Vater. Ich erinnere mich noch an einige kleine Filmsze-
nen und an die Darbietungen des Clowns auf dem Trampolin. Absicht-
lich ungeschickt rutschte der Clown mit einem Bein am Trampolinnnetz
vorbei und ich schrie voller Begeisterung: «Mama, guck, durchgefal-
len» in den Saal. In diesem Augenblick hatte ich die Lacher auf meiner
Seite.
Für Mutter, die, wie auch Vater, von den Nazis während des Krieges
wegen Schwarzschlachtens und illegaler Butterproduktion angezeigt
und inhaftiert worden war, waren die Monate nach der Befreiung durch
die Amerikaner eine permanente «Party». Keine Feier wurde ausgelas-
sen. Vor allem Mutter, die ihren Erstgeborenen (Rudolf) am 21. Februar
1940 nach nur 121 Lebenstagen indirekt als Folge des Krieges verloren
hatte, wollte die neugewonnene Freiheit genießen. Sie war inzwischen
31 Jahre alt und ihr bisheriges Leben war «den Umständen entspre-
chend» verlaufen. Aber Mutter unternahm nichts ohne mich. Ein Kind
an der Hand schützte sie aber auch vor den Nachstellungen der sexuell
ausgehungerten GT’s.
So wird vielleicht verständlich, warum Mutter mich auch zu jener
makabren Veranstaltung mitgenommen hatte. Vielleicht hatte sie keine
Ahnung von dem, was ihr Mann mit seinen Freunden geplant hatte.
Für mich ging an jenem Abend jedenfalls meine bisher unbeschwerte
Kindheit zu Ende.
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Erst heute, im Alter von 66 Jahren, wird mir beim Schreiben dieser
Zeilen bewusst, dass an diesem denkwürdigen Abend im Mai oder Juni
des Jahres 1945 die Verbundenheit zu meinem Vater zerstört worden
war.
Irgenwann wird der wohl auch gespürt haben, dass ich Mutters Nähe
noch mehr suchte als zuvor.
Heute (2010) verstehe ich erst, dass Vater, der Logik folgend, auf
mich und mein Verhältnis zu meiner Mutter/seiner Frau eifersüchtig
werden musste.
Als dann am 21. März 1946 mein Bruder Raymond geboren wurde
und der sich bald, im Gegensatz zu mir, zu einem strahlenden Sonnyboy
entwickelte, konzentrierte er seine ganze väterliche Liebe auf meinen *
Bruder. Für mich und meine Mutter entwickelte sich der Bruch im Lau-
fe der Jahre zu wachsender Ablehnung und zunehmender Aggression.
Ich habe meinen Vater seitdem nur noch schimpfend, brüllend und
prügelnd in Erinnerung Die eigenartige Familienkonstellation begüns-
tigte eine permanente eifersüchtige Rivalität zwischen meinem Bruder
und mir. Trotz aller Gemeinsamkeiten und der gemeinsam verlebten
Party-Jahre blieben wir uns im Grunde doch fremd.
Mein Vater verstarb am 28. Juni 1991.
Meine Mutter verstarb am 10. September 1999, mein Bruder am 17.
Dezember 2000.
Die Gräber habe ich nur ungern besucht.
Dieser große zeitliche Abstand war wohl notwendig, um Klarheit
über die Zusammenhänge zu gewinnen, die mein Leben so nachhaltig
beeinflusst haben. Ich kann mich glücklich schätzen, dass es mir nach
Herzinfarkten (1996 und 1997) vergönnt war, zu so vielen Erkenntnis-
sen zu kommen. Vater, Mutter und Bruder verstarben ohne diese Er-
kenntnisse.
Doch was war wirklich damals geschehen?
Nun, ich kann mich nicht erinnern, dass mir die Ereignisse jenes
Abends und die Hintergründe erklärt worden wären. Dazu war ich mei-
nen Eltern offensichtlich noch zu klein und unverständig. Und in der
Tat: Obwohl man mich zu diesem dramatischen Ereignis mitgenommen
hatte, war ich mit drei Jahren noch nicht so weit, dass ich nachträglich
dazu Fragen hätte stellen können. Also werde ich die Angelegenheit
wohl verdrängt haben.
Mit der Zeit gab es, vor meiner Einschulung, vor allem im Winter-
halbjahr, wenn Vater außer Reichweite war und mein Bruder seinen
21
Verdauungsschlaf hielt, unzählige Küchengespräche zwischen Mutter
und mir. Eigentlich waren es weniger Gespräche als vielmehr Mutters
Erzählungen, denen ich interessiert lauschte.
Im Mittelpunkt dieser Erzählungen standen Mutters Erlebnisse und
Erinnerungen an den gerade erst überstandenen Zweiten Weltkrieg.
Erst als Erwachsener wurde mir bewusst, wie traumatisch diese Zeit
für meine Eltern, vor allem für meine geliebte Mutter, gewesen sein
muss.
Wie sehr das Ereignis, von dem ich oben berichtet habe, verschüttet
war, mag man daran erkennen, dass es in den genannten Küchengesprä-
chen nie zur Sprache kam.
Jahre später (ich war inzwischen verheiratet) erinnerte ich mich an
Mutters Erzählungen und ihren Groll auf die Nazis. Und sie scheute
sich auch nicht, Ross und Reiter zu nennen.
Auch versuchte sie, mir die verwandtschaftlichen Verknüpfungen zu
erklären und mir vom Leben und Wirken der Vorfahren diesseits und
jenseits der nahen Grenze zu berichten.
Anlässlich eines Besuches bat ich sie, doch einmal alles aufzuschrei-
ben.
Mutter war erstaunt. Als sie aber begriff, wie wichtig ihre Notizen
einmal in meinen Händen werden könnten, begann sie zu schreiben und
hörte bis zu ihrem Tode nicht mehr damit auf.
Nach vielen Monaten überreichte sie mir dann als erstes ihre schrift-
lich niedergelegten Kriegserinnerungen.
Bis ich dann Zeit fand, diese erstmals zu lesen, gingen wieder einige
Monate ins Land.
Aber jetzt hatte ich Unterlagen in der Hand, die es mir erlaubten,
noch sehr viele konkrete Fragen zu stellen. In diesem Zusammenhang
erinnerte ich mich auch jenes seltsamen Erlebnisses im Mai oder Juni
1945. Und so kam es, dass ich eines Tages von Mutter nähere Informa-
tionen zu dem grausigen Geschehen meiner frühen Kindheit erbat.
Mutter schaute mich erschrocken an und erkannte, dass sie nicht im
Geringsten ahnte, dass mir diese Begebenheit in Erinnerung geblieben
war. \
Schließlich war ich ja damals erst drei Jahre alt gewesen.
Ihre lapidare Antwort lautete: «Ach ja, das war unsere Befreiungs-
feier hier in Walhorn. Zum Schluss ist dann eine Puppe, Adolf Hitler
darstellend, an der Pappel seitlich des Wohnhauses des Küsters Hubert
Charlier aufgehängt worden.»
22
Ich war baff.
Schließlich fragte ich: «Wie konntet ihr nur?»
Mutter zuckte mit den Schultern; sie wusste einfach nicht, was sie
mir antworten sollte. Ob sie später noch Überlegungen dazu angestellt
hat, weiß ich nicht. Darüber gesprochen haben wir nicht mehr.
Es war damals und später auch für mich schlicht kein Thema mehr.
Bis heute.
Erst beim Schreiben dieser Zeilen wird mir bewusst, was dieses ma-
kabre Geschehen in meiner Seele bewirkt und letztlich bis heute zur
Folge gehabt hat.
Doch nun zu den Kriegserinnerungen meiner Mutter' .
WIE ES DAMALS BEGANN
Als Hitler 1933 in Deutschland an die Macht kam, bildete sich in
unserer Gegend unter der Tarnung eines Segelflugvereines eine nazisti-
sche Sympathiesantengruppierung. Auch die deutschfreundliche „Hei-
mattreue Front“ wurde gegründet. Deren aktivste Werber waren sicher
auch später keine Nazis - aber eben eindeutig deutsch orientiert.
Der größte politische Stänker im Ort war Hubert K., dessen Vater der
Bruder der Großmutter meines Mannes gewesen war. Er war allerdings
so schlau, sich auch später keiner politischen Organisation anzuschlie-
ßen, doch er sorgte dafür, dass seine Frau, eine Altbelgierin, Mitglied
der NSDAP wurde.
Der zweitschlimmste Stänker war Karl S.; er wohnte gegenüber dem
Gemeindehaus. Zeit des Ersten Weltkrieges war er mit der Fleischver-
teilung im Dorf beauftragt gewesen. Spöttisch hatte er damals jede ein-
kaufende Hausfrau zum Schluss gefragt: “Willst du auch noch ein Stück
vom Nühr (Euter) haben?“ Allgemein trug er seitdem den Spitznamen
„D‘r Nühr“. {
Als er feststellen musste, dass es für ihn in diesem Krieg kein Pöst-
chen gab, schimpfte er: „Das sind auch nicht mehr die Deutschen von
früher!“
Ja, ja! Die breite Masse war dem Führer verfallen und glaubte später
auch fest an den Endsieg. Alle erhofften sich Arbeitsplätze, Pöstchen
und Pfründe. Manche sogar auf schöneren Höfen, von denen die Alt-
belgier vertrieben werden sollten. Sie waren ja Angehörige einer Her-
' Huberta Janclaes geb. Teller (* Rabotrath, 1914, + Walhorn, 10.9.1999)
23
renrasse - vor allem die ausgesuchten SS-Leute. Von dieser Sorte gab es
fünf in unserem Dorf.
Während des Hochamtes marschierten sie mit schmetterndem Ge-
sang durch den Ort. In Eupen turnten während dieser Zeit vor der St.
Nikolaus-Pfarrkirche die BAM-Mädchen. Irgendwo war zu dieser Zeit
an jedem Tag ein Aufmarsch.
Mit Hitlers Machtergreifung wurde auch mir als Neunzehnjähriger
klar, dass wir mit diesem Regime unweigerlich einem neuen Krieg ent-
gegen gingen. Beide Lager glaubten jedoch mit Überzeugung an einen
Blitzkrieg. Wir, weil wir uns zu den Alliierten zählten und uns deren
Schlagkraft noch aus dem Ersten Weltkrieg in Erinnerung war. Im La-
ger der Nazis vertraute man den Aussagen des Feldmarschalls Hermann
Göring, der sagte: „Wenn ich all’ meine Flieger einsetze, müssen die
Vögel des Himmels zu Fuß gehen!“
Fünf Jahre später, im Jahre 1938, mein Bräutigam und ich, wir waren
beide 24 Jahre alt, stand unsere Hochzeit bevor. Wir kamen von einem
Möbeleinkauf abends bei mir zuhause an, als alle Nachbarn bei meinen
Eltern rund um den Tisch saßen und im Radio einer Rede des Führers
lauschten. Natürlich nicht aus Sympathie, sondern aus einem von Angst
durchmischten Interesse.
Vor allem mein Vater war bestens über Politik informiert, denn er
besaß schon seit 1926 ein Radiogerät. Ihn interessierten die Nachrichten
aus der ganzen Welt.
Unser Gerät war eine Bastelanlage, die uns ein Amateur hergestellt
hatte. Diese Anlage bedeckte eine ganze Wand. Da konnte man mit Spu-
len wundervoll experimentieren und ich durfte meinem Vater dabei as-
sistieren. Die ganze Anlage funktionierte auf Batterien, die wir aufladen
konnten. Gemeinsam mit meinem Vater habe ich so manche Nacht vor
der Anlage verbracht und in den Äther gelauscht, während meine Mut-
ter längst im „Pröttel‘“ (= Lehnstuhl) eingeschlafen war.
Am Tage nach dieser ominösen Führerrede bekam mein Zukünfti-
ger den Stellungsbefehl zur allgemeinen Mobilmachung. Er bat mich,
zu seinen Eltern zu kommen, da sie zu diesem Zeitpunkt gerade kein
Dienstmädchen hatten. Ich war bereit, diesen Job zu übernehmen und
bekam so Gelegenheit, mein zukünftiges Zuhause etwas näher kennen
zu lernen. Meine Freundin Fanny Loyens lachte und meinte: „Mit dem
Heiraten wird es nun wohl nichts!‘
24
„Glaubst du? In wenigen Tagen werden unsere Soldaten mit diesem
Hitler schon fertig werden“, erwiderte ich.
Eines Morgens läutete es bei meinen zukünftigen Schwiegereltern
Sturm.
Ganz aufgelöst vor Aufregung stand Johann Heck, der allgemein “He-
cke Jennes“ genannt wurde, vor der Tür und sagte zu meiner Schwie-
germutter in Spe: „Es gibt niemals wieder Krieg“!
Er hatte in den Radionachrichten von dem später berühmt gewor-
denen „Münchner Abkommen“ gehört. Wir schrieben den 4. Oktober
49898:
Es war gleichzeitig der 24. Geburtstag meines Bräutigams und mein
eigener, denn wir waren beide am 4. Oktober des Jahres 1914 in Wal- >
horn geboren. ;
Mein Bräutigam wurde daraufhin wieder aus der Mobilisierung ent-
lassen; und ich kehrte vorübergehend wieder in mein Elternhaus zurück.
Einen Monat später haben wir dann am 3. November 1938 im engs-
ten Familienkreis in einer Vervierser Kirche geheiratet und sind gleich,
nach dem Mittagessen in einem Restaurant vor Ort, von Verviers aus
mit der Eisenbahn auf Hochzeitsreise ins französische Elsass gefahren,
wo wir sehr schöne Tage, auch mit Tante Bäbchen und Onkel Albert
Möller-Wintgens verlebt haben. Tante Bäbchen war eine Schwester
meiner (Stief-) Mutter.
Druck erzeugt bekanntlich Gegendruck.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in der kämpferisch gepräg-
ten Vorkriegszeit auch hier in unserer Gegend seitens der Pro-Belgier
die von L6on Degrelle gegründete ultrarechte Partei der „Rexisten“ Fuß
fassen konnte. Endlich eine Partei, die in der Lage zu sein schien, den
Kommunisten und Korrupten im Lande in den Arsch zu treten. Da hat
mein Mann, wie viele andere Altbelgier, gleich mitgemacht. Dort konn-
ten sie ihre ganze aufgestaute Wut abreagieren. Bei den nächsten Wah-
len konnten die Rexisten einen überwältigenden Erfolg verbuchen und
mit beachtlicher Stärke ins Parlament einziehen. Die Jahre von 1936 bis
1938 waren fantastisch !
Nun konnte den Deutsch-Sympathisanten eine beachtliche Kraft ent-
gegen gestellt werden.
Die REX-Versammlungen waren stets bestens organisiert und eben-
falls durch Schutztruppen aus den altbelgischen Gebieten abgesichert.
Da muckte keiner mehr auf!
25
Die Versammlungssäle waren immer brechend voll und ich war im-
mer mit dabei.
Wir fuhren zu jeder Versammlung, manchmal 7 bis 8 Personen in
einem Auto. Aus unseren Kreisen verfügten damals nur der Hauptlehrer
Marcel Thomas und Emil Lamberts aus Astenet über ein Auto.
L6on Degrelle war unser Mann, bis bekannt wurde, dass er von Hit-
ler nach Berlin und Berchtesgaden eingeladen worden war. Jetzt erst er-
kannten wir, dass wir es bei Degrelle mit einem potentiellen belgischen
Diktator ä la Hitler, Franco und Mussolini zu tun hatten. Mit einem
Schlag verlor er 2/3 seiner Anhänger. Mit dem ihm verbleibenden Rest
zog er dann später für „seinen Führer“ mit einem Sonderbataillon gegen
Russland.
Überall, wo er von nun an auftauchtre, rief man ihm zu: „A Berlin!“
(Nach Berlin).
Ein knappes Jahr später, August 1939. Es war der Montag nach der
Lontzener Kirmes. Wir waren gerade erst nach Hause gekommen, als
Hubert Charlier, unser Küster und Organist sowie Sangesbruder mei-
nes Mannes, an unserer Haustür schellte. Da wir aber gerade erst nach
Hause gekommen waren, verhielten wir uns ruhig und machten uns bald
gemeinsam an die Stallarbeit. Kaum hatten wir mit dieser begonnen, als
Hubert Charlier in der Stalltür erschien, und meinem Mann den Stel-
lungsbefehl zur belgischen Armee brachte. Wenn ich mich recht erin-
nere, war er als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr hierzu befugt. Die
Feuerwehr selber war als ganze Organisation zum Schutze der Heimat
erfasst worden und stellte praktisch als Bürgerwehr einen Teil der bel-
gischen Armee dar.
Wir erfuhren, dass auch einer Reihe anderer Walhorner zu diesem
Zeitpunkt der Stellungsbefehl zugestellt worden war. Mit viel Galgen-
humor wurde schließlich gepackt und es war lustig anzusehen, wie
mein Mann schon mit seinem Bauch durch die Uniform gewachsen war.
Schließlich kam die Stunde des Abschieds und damit war ich alleine mit
meinen Schwiegereltern — und im siebten Monat schwanger.
Jeden Monat bekam mein Mann fünf Tage Urlaub. Bei seinem drit-
ten Heimaturlaub konnte ich ihn mit unserem Erstgeborenen „Rudolf“
überraschen, der am 23. Oktober 1939 das Licht der Welt erblickt hatte.
Im Februar 1940 kam mein Mann mit einer starken Grippe in Urlaub,
womit er bald den ganzen Haushalt ansteckte. Außer mir lagen bald alle
krank im Bett. Ich rannte von einem Kranken zum anderen. Außerdem
war es grimmig kalt. Den Schwächsten erwischte es schließlich mit der
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größten Härte. Unser kleiner Sohn starb am 21. Februar 1940, gerade
121 Tage alt. Es war furchtbar, mit ansehen zu müssen, wie er förmlich
erstickte. Schließlich betete ich nur noch: „Herr, nimm ihn zu dir!“
Plötzlich fühlte ich mich furchtbar einsam und alleine. Selbstvorwür-
fe und die quälende Angst vor der unheimlichen Stille befielen mich.
Ich bat schließlich eines der Mädchen der Familie Leys bei mir zu über-
nachten. Schließlich holte ich auch noch meine Cousine Lilly, die als
junges Mädchen von der Kinderlähmung geschlagen worden war und
im Rollstuhl saß, für einige Zeit zu mir. Quälend langsam schlichen die
Wochen dahin, aber allmählich beruhigte ich mich doch.
Es kam der 7. Mai 1940.
Ich war mitten im Hausputz und beschäftigte mich gerade mit den .
Fenstern der Straßenfront, als der Mittagsbus vor unserem Haus hielt
und der Fahrer mir zurief:
„Wenn ich nachher von Eupen zurückkomme, wird es wohl aus sein.
Ich werde dann wohl nicht mehr kommen. Dann wird die Straße zuge-
mauert sein!“
Tatsächlich waren in letzter Zeit an den Verkehrsknotenpunkten und
Straßenkreuzungen Vorbereitungen für Straßensperren und zur Vermi-
nung getroffen worden.
In der folgenden Nacht wurde ich gegen 5 Uhr durch Furcht erre-
gendes, gleichmäßiges Dröhnen geweckt. Aufspringen und mit wenigen
Sätzen zum Radio laufen war eins, denn ich wusste, dass der Sender
Brüssel zu jeder vollen Stunde Nachrichten brachte. Unsere schlimms-
ten Vorahnungen wurden dann auch bald zur Gewissheit. Zum zweiten
Mal innerhalb weniger Jahrzehnte fielen die Deutschen in unser Land
ein. Meine Schwiegermutter jammerte:
„So was noch einmal vier Jahre mitmachen, halte ich nicht aus“!
Ich versuchte, sie zu trösten und voller Überzeugung sagte ich, dass
Weihnachten sicher alles vorbei sein würde. Mein Schwiegervater war
skeptischer, aber auch er war davon überzeugt, dass das westliche Kapi-
tal letzten Endes Sieger bleiben würde.
Von diesem Tag an hielt mein Schwiegervater, wie man heute so sagt,
ganz schön den Kopf rein und verließ nur noch selten das Haus. Da-
für wurde ich dann von ihm immer wieder ins Dorf geschickt, um am
öffentlichen Aushang die neuesten Verordnungen zu studieren und für
Lebensmittel Schlange zu stehen.
Drei Tage nach dem Einmarsch der Deutschen sah man in Eupen
nicht nur die Segelflieger, sondern auch noch andere Gruppen und
Grüppchen in Uniform durch die Stadt marschieren.
ZT
Die kleinsten Uniformträger wurden „Pimpfe“ genannt.
Als ich zufällig in Eupen war, schaute ich baff erstaunt diesem Trei-
ben zu.
Als die Eroberungsfeier in Eupen vorbereitet wurde, hieß es sogar, der
Führer werde persönlich nach Eupen kommen. Offenbar freute man sich.
Sogar die Schulkinder waren bereit, den Führer zu empfangen.
Dies geschah bereits vor der belgischen Kapitulation, während nur
40 Kilometer weiter unser Fort Tancr&mont noch kämpfte. Ich war bei
allem, was sich in Eupen tat, dabei und fuhr meine Antennen aus. Ne-
benbei gab es auch immer was zu hamstern.
Deutlich konnte man feststellen, dass die breite Masse den Altbelgi-
ern gegenüber immer lauter und gehässiger wurde. Schon in den drei-
ßiger Jahren mussten sich unsere Jungs, wenn sie vom regulären Mili-
tärdienst in Urlaub kamen und, wie es Pflicht war, sonntags in Uniform
am Gottesdienst teilnahmen, nach der Messe unflätige Bemerkungen
der Alten anhören. Doch nach dem Krieg traf man nur noch Unschulds-
lämmer, die angeblich nirgendwo Mitglied gewesen waren. Feierlich
schworen sie, niemals mehr einem Verein oder einer Partei beizutreten
- nicht einmal mehr der Marianischen Jungfrauenkongregation !
Als dann nach 18 Tagen für die belgischen Soldaten der Krieg zu
Ende war, kam mein Mann nach neunmonatiger Mobilisationsabwesen-
heit zum Glück unverletzt nach Hause. Sogleich machte er seinen Eltern
Vorhaltungen, weshalb sie nicht beizeiten für genügend Vorräte gesorgt
hätten.
„Ihr musstet doch wissen, wie sehr bald alles rationiert sein würde!
Ihr hattet doch alles schon einmal mitgemacht!‘
Als in den ersten Tagen des Einfalles unsere Straßen von deutschem
Militär verstopft waren, kamen immer wieder mal einzelne Soldaten bei
uns zum Stall herein, um Wasser zu holen. Dabei schimpften sie stets
darüber, dass ihr Proviant nicht wie benötigt nachrücke. Ich war gerade
dabei den Stall zu schrubben, denn das Vieh war nach den langen Win-
termonaten nun wieder auf der Weide
„Schert Euch nach Hause, denn dort sitzen Eure Frauen genauso mit
der Arbeit alleine da wie ich hier‘, sagte ich immer wieder den Soldaten.
Unter den Soldaten waren viele, die die Väter der Jüngeren hätten
sein können. Diese waren schon 1914-1918 dabei gewesen. Voller Zu-
versicht wollten sie in drei Tagen in Paris und spätestens Weihnachten
wieder zuhause sein.
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Es war die Woche vor Pfingsten und uns wurde nun auch klar, warum
in den deutschen Nachrichten in letzter Zeit immer davor gewarnt wor-
den war, zu Pfingsten zu verreisen.
ok
Eines Abends, wir kamen gerade von einem Spaziergang heim, da
gewahrten wir zwei Gestalten, die in der Dunkelheit an uns vorbei has-
teten. Kurz nachdem wir das Haus betreten hatten, hörten wir aus der
Richtung unserer Wiesen das Gezeter mehrerer Personen. Mein Mann
ging hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Was war geschehen?
Zwei entflohene französische Kriegsgefangene hatten im Dorf die
Gaststätte K. aufgesucht. Ausgerechnet K.! Die Wirtsleute waren dar- ”
aufhin gleich zur Bäckerei Radermacher gelaufen, wo sich ein Telefon-
anschluss befand, um die Polizei zu alarmieren. Offenbar müssen die
beiden Franzosen etwas gemerkt haben, denn sie ergriffen die Flucht.
Als schließlich die Feldpolizei eintraf, beteiligten sich alle Gäste an
der Suche nach den beiden Franzosen, die sie schließlich bis in unsere
Wiesen verfolgten. Durch das Auftauchen meines Mannes waren die
Menschenjäger kurz von ihrer Beute abgelenkt worden. Die Flüchten- |
den erkannten ihre Chance und versuchten, sich vom Dunkel der Nacht
schlucken zu lassen. Die Meute wollte die Jagd gerade aufgeben, als der
Sohn des Wirtes rief: „Ich habe sie, hier im Graben liegen sie“! Was aus
den beiden geworden ist, haben wir nie erfahren.
Aber es wurde bald offenkundig, dass in Walhorn mehrere Leute Jagd
auf Flüchtlinge aus Arbeits- oder Gefangenenlagern machten, um das
Kopfgeld von 100 Mark einstreichen zu können. Diese Leute schickten
abends sogar ihre Kinder auf die Suche nach Flüchtlingen.
Als der Junge, der die beiden Flüchtigen entdeckt hatte, schließlich
selber eingezogen wurde und den meisten klar wurde, dass dieser Krieg
nicht zu gewinnen sei, unternahm sein Vater alles Erdenkliche, um ihm
die Flucht zu ermöglichen und bewahrte ihn so vor einem möglichen
Heldentod im Endkampf. Als dann nach dem Krieg das große Durch-
leuchten begann, kamen auch diese Schandtaten bei den untersuchen-
den Beamten zur Sprache. Ich weiß nicht, wie oft seine Mutter bei mei-
nem Mann vorsprach, um ihn zu bitten, doch nichts Nachteiliges über
ihr „B....ken“ zu sagen. Schließlich sorgte mein Mann an betreffender
Stelle dafür, dass man dem Sohn K. sein Verhalten nicht anlastete, denn,
so argumentierte er, der Junge sei damals erst 16 Jahre und damit fast
noch ein Kind gewesen.
29
Was für uns, als Altbelgier, nun selber Ausländer in der Heimatge-
meinde, eine Selbstverständlichkeit war, nämlich Flüchtenden zu hel-
fen, zu beköstigen und an die nächst richtige Adresse weiterzuleiten,
stand damals unter Todesstrafe.
Mit der Zeit entwickelte sich dennoch eine durchgehende Hilfskette
für diese Menschen. Wir versorgten den Abschnitt von unserem Hof bis
zum Hof meiner Eltern in Rabotrath.
Als mit der Zeit die Niederlage der Deutschen immer offenkundiger
wurde, schaltete sich der raffinierte Wirt K. in diese Hilfskette ein. Es
gelang ihm sogar, die Flüchtlinge unterwegs abzufangen, um sie dann
persönlich bis zur belgischen Grenze zu bringen, nicht ohne sich vorher
deren Namen und Heimatadresse geben zu lassen.
Bei der großen Säuberung nach dem Kriege trumpfte er mit diesen
Anschriften auf und am Ende stand er strahlender da als jeder andere
im Dorf..
Uns wäre so etwas nicht im Traume eingefallen - schon alleine, um
keine verräterischen Spuren im Haus zu haben. Aber der örtliche Partei-
führer hatte ja keine Hausdurchsuchung zu befürchten !
STILLE HELDEN
Die Pfadfinderin Irma Kubben vom Montem-Hof
Wenn einer im Dorf eine Palme als stiller Helferin gebührt, dann der
Irma Kubben.
Die führte nachts ganze Kolonnen bis ins altbelgische Baelen. Es gab
aber auch ortsansässige deutsche bzw. neubelgische Familien, die sich
anständig verhielten.
Zum Beispiel die Familien Johnen und Hermens in Walhorn oder
Miessen in Kettenis.
Die charakterstarken Miessen-Söhne von Kettenis
Diese Ketteniser Familie hatte fünf Söhne, von denen sich keiner an
irgendetwas Parteilichem beteiligte. Der Geist der Kinder musste so ge-
festigt sein, dass sie möglichen Verhören stand halten konnten. Hatten
die Kinder den Verhören stand gehalten., wurde zum Schluss noch der
Vater verhört. Zu allerletzt musste das Kind oder die Kinder den Verhö-
renden in Gegenwart des Vaters bestätigen, dass sie aus eigenem Willen
sich an keiner Parteiorganisation beteiligen wollten. Erst dann gab man
Ruhe. Hätte auch nur ein Kind etwas Nachteiliges gesagt, hätte dies für
die Eltern KZ bedeutet.
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Alois Miessen vor dem Exekutionskommando.
Von den fünf Söhnen der Familie Miessen war Alois, der Jüngste,
eingezogen worden.
Als deutscher Soldat wurde er in Frankreich vom Gegner überrollt
und in einer Scheune gefangen genommen. Weil er so gut französisch
sprach, hielt man ihn für einen Spion.
Man beauftragte ihn, ein Erdloch zu graben. Dann musste er sich
aufstellen und anbinden lassen. Längst war ihm bewusst, was mit ihm
geschehen sollte.
In allerletzter Minute kam ihm der rettende Gedanke und er rief: „Ich
bin Belgier“!
Da trat ein Dolmetscher auf ihn zu und er konnte sich erklären. #
Die jüdische Familie Josefs. Ihnen gehörte das Haus Kirchbusch Nr.
87, wo sie auch wohnten.
Erst verschwanden die Großeltern, dann der Mann und schließlich
die Frau mit ihrem Kind. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.
Sie werden wohl in einem KZ der Nazis umgekommen sein.
Der Briefträger Franz Kockartz.
Er wohnte im Hause Krümmelshof, Merolser Straße 18.
Mit seiner Familie bewirtschaftete er den kleinen Bauernhof und
musste nebenher als Briefträger auch die Stellungsbefehle zustellen.
Einer verzweifelten Mutter riet er: “An Stelle ihres Sohnes würde ich
nicht gehen.“ Dies haben andere mitgehört und ihn angezeigt. Für diese
Äußerung wurde er im KZ vergast. Er hinterließ seine Frau, eine Toch-
ter und zwei Söhne.
Der Arbeiter Pauwels k
Er bewohnte mit seiner Frau, der Tochter und zwei Söhnen das Haus
Dorfstraße 37.
Er versuchte eine verzweifelte Mutter mit folgender Aussage zu trös-
ten:
„Es kommen auch mal wieder andere Zeiten.“
Auch er wurde angezeigt, kam ins KZ und nicht wieder heim.
Der Sohn Peter Pauwels
Ein temperamentvoller Draufgänger und verwegener Autofahrer.
Mit diesen Voraussetzungen war er zum Rot-Kreuz-Fahrer eingesetzt
worden. Vielen rettete er so das Leben, so auch meinem Mann und mir.
Nach dem Krieg verdiente er mit dem Kaffeschmuggel viel Geld.
Gemeinsam mit uns feierte er 1950 die erste Asteneter Kirmes. Dann
wollte er mal „schnell“ seine Braut aus Eupen dazu holen. Auf dem
31
Walhorner Feld kam ihm mitten auf der Fahrbahn der neue Walhorner
Hauptlehrer und Fahranfänger Wollwertz entgegen. Peter wich auf den
Seitenstreifen aus, riss sich dabei an einem Baumstumpf den Benzin-
tank auf und prallte gegen den letzten Baum auf seiner Seite. Sein Fahr-
zeug fing Feuer und er verbrannte.
Der Landwirt Hubert Dautzenberg
Der gebürtige Niederländer bewirtschaftete als Pächter den Hof von
Schloss Thor in Astenet.
Als Witwer hatte er mehrere Kinder zu versorgen, wovon eine Tochter
und ein Sohn geistig behindert und dazu fallsüchtig waren. Er schlach-
tete schwarz und wurde verraten.
Es gelang ihm jedoch, noch vor der Verhaftung das geschlachtete
Kalb zu vergraben.
Sein schwachsinniger Sohn führte die Fahnder zu der Stelle, wo das
„Corpus delicti‘“ vergraben war. Auf der anderen Seite bewahrten ihn
seine kranken und pflegebedürftigen Kinder davor, seine Gefängnisstra-
fe antreten zu müssen.
Der Hauptlehrer Marcel Thomas
Den belgischen Lehrpersonen war verboten worden, für die Nazis
Dienst zu tun. Im Gegensatz zu vielen anderen verschwand er über
Nacht ins Landesinnere und betätigte sich im Widerstand. Nach dem
Krieg wurde er wieder mit allen Ehren eingestellt und bekam für die
Kriegsjahre sein Gehalt nachträglich ausgezahlt. An der Asteneter Stra-
Be baute er in Walhorn den ersten Neubau nach dem Kriege. Der starke
Zigarettenraucher verstarb jedoch kurze Zeit später an Lungenkrebs.
Der tapfere Bauer Gerard Keutgen
Gemeinsam mit seiner Frau bewirtschaftete er das Gut „Latenbau“
auf der Anhöhe westlich von Walhorn. Beide hatten zwei kleine Töch-
ter, Käthi und Bertha.
Als Gerard Keutgen den Gestellungsbefehl bekam, ließ er sich beim
Mistausfahren so von der Karre fallen, dass sein Fuß brach. Damit dieser
„Arbeitsunfall“ auch offiziell günstig dokumentiert wurde, „schmierte‘“
er den Feldgendarm.
Fürs Erste hatte er nun Ruhe, doch sein Fuß durfte nicht heilen. Also
„schmierte‘“ er auch noch den Arzt. Da der Krieg jedoch andauerte und
sein Fuß zu heilen drohte, schüttete er sich mehrfach heißes Wasser in
den Holzschuh. Auf diese Weise hat er den Führer um einen Soldaten
gebracht. Nach dem Krieg war der ewig humpelnde Gerard dann schnell
wieder gesund.
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Andere Bauernsöhne meldeten sich sogar freiwillig zur SS, um nach
dem erhofften Endsieg den Erbhof des Vaters ganz in ihren Besitz zu
bekommen. Dafür nahmen sie sogar Russlands Schlamm in Kauf.
Die Stellmacher-Familie Beckers
Der Hauseter Heimatgeschichtler Hermann Heutz hat in seinen Me-
moiren einmal geschrieben, dass seine Generation soviel Prügel von
den Eltern bezogen habe, dass man damit einen Ochsen hätte erschlagen
können.
So war es auch bei der Stellmacher-Familie Beckers gegenüber der
Kapelle „am Lindchen“‘. Der älteste Sohn war Linkshänder, ein „Verge-
hen“, das damals nicht hingenommen wurde. Der heranwachsende Jun-
ge arbeitete mit im väterlichen Betrieb und jedes Mal, wenn der Vater .
sah, dass er bevorzugt seine linke Hand bei der Arbeit einsetzte, schleu-
derte er ihm einen Holzklotz ins Kreuz. Jeder im Dorf wusste das und
viele waren Augenzeuge dieser „Erziehungsmaßnahmen“ geworden.
Möglicherweise war der Junge dieser Behandlung überdrüssig. Jeden-
falls meldete sich dieser Spross einer altbelgischen Familie eines Tages
freiwillig zur deutschen Wehrmacht. Es dauerte dann auch nicht mehr
lange und der Junge durfte sich an der Verwirklichung des Endsieges an
der Front beteiligen.
Einige Zeit später wurde dem Vater nach dem Hochamt vom Briefträ-
ger ein Schreiben von der Wehrmacht ausgehändigt. Neugierig öffnete
der alte Beckers den Brief seines Sohnes. Dann begann er zu weinen,
denn sein Sohn teilte ihm mit, dass ihm an der Front der rechte Arm ab-
geschossen worden sei. Es sei aber nicht weiter schlimm, so schrieb er
weiter, denn er habe ja noch den linken Arm und mit dem könne er als
Linkshänder ja ganz vorzüglich umgehen und trotz dieser Behinderung
im väterlichen Betrieb noch eine nützliche Hülfe sein. Tief beschämt
und voller Verzweiflung sagte der Vater zu seinen Nachbarn: „Wie oft
habe ich Idiot meinen Sohn wegen der Bevorzugung der linken Hand
geschlagen! Jetzt wird ihn ausgerechnet diese Hand ernähren müssen,
ihn und seine Familie!“
WEITERE STILLE HELDEN
Während des Krieges hat es auch Fälle gegeben, wo einer anstelle
seines verheirateten Bruders zur Wehrmacht eingerückt ist.
Henri Koonen tat dies z.B. für seinen Bruder Lorenz Koonen. Hubert
Goor aus Astenet zog für seinen Bruder Peter Goor in den Krieg. Hein-
rich Bastin rückte für seinen Bruder Peter, Vater von vier Kindern, ein.
Aber bei den Bastin geschah auch folgendes:
85
Der Vater der Bastin-Söhne sorgte dafür, dass sein ältester Sohn Jean,
der als Schreinergeselle Zuhause seinen Lohn nicht abgeben wollte, an
die Front kam, wo er mal ordentlich „ran‘“ genommen werden sollte.
Jean verlor in Stalingrad ein Auge.
Im Ersten Weltkrieg hatte sich der alte Kessel von seinem Vater für
die Landwirtschaft reklamieren lassen. An seiner Stelle musste dann der
damalige Gemeindesekretär Lutter, Vater von sieben Kindern, an die
Front. Er kam zum Glück wieder.
DIE WUNDERWAFFE
Der unselige Propagandaminister, der klumpfüßige Dr. Josef Goeb-
bels, hatte ja schon lange in seinen Reden von ihr geschwafelt. Mit ih-
rem Einsatz sollte der totale Sieg, totaler als total verwirklicht werden.
Worauf die Nazis sehnsuchtsvoll hofften und was wir nicht zu glauben
wagten, trat dann doch auf einmal ein.
Es war ein nebliger Morgen, als wir plötzlich ein völlig fremdartiges
Geräusch vernahmen. Es hörte sich an, als fliege eine riesige, surrende
Nähmaschine durch die Luft. Uns war bald klar: dies musste die neue
Wunderwaffe sein. Ab diesem Tage mussten wir mit diesem Geräusch
leben.
Alle 20 Minuten überflog uns eine dieser fürchterlichen Vernich-
tungswaffen in Richtung London. Punkt vier Uhr in der Früh begannen
sie damit und es dauerte bis gegen 9 oder 10 Uhr am Vormittag.
Klein-Albert, mein Sohn, fürchtete sich sehr vor diesem eigenartigen
Geräusch, aber auch wir Erwachsenen begannen diese Raketen zu has-
sen, denn es waren schon einige auch in unserer Gegend nieder gegan-
gen. Ich musste ständig bei meinem Sohn bleiben, um ihn zu beruhigen,
damit er wieder einschlafen konnte.
Von unserem Hof aus gesehen registrierten wir eine südliche und eine
nördliche Abschussstelle. Nachdem die V1 unser Gebiet überflogen hat-
te, konnte ich deren Feuerschweif noch lange auf ihrem Flug nach Ant-
werpen und London verfolgen.
Manchmal wurden einzelne Raketen auch zu anderen Uhrzeiten auf
ihre vernichtende Reise geschickt. Solange man sie hörte, bestand ei-
gentlich keine Gefahr. Wenn aber ihr Strahlentriebwerk aussetzte, war
höchste Gefahr in Verzug. Dann hieß es, sich blitzschnell hinlegen und
Schutz, suchen, notfalls unter dem Ofen.
Mit der Zeit lernten wir die Einschlagstelle durch Zählen zu ermit-
teln.
34
Wenn das Geräusch aussetzte, dann erfolgte der Einschlag in unserer
Gegend bei .,7“.
Hörten wir den Einschlag schon bei „6‘“ oder „5‘, dann war Raeren
oder Merols getroffen worden.
Konnten wir länger als bis „7‘“ zählen, dann war die Gefahr für uns
schon vorüber, denn dann schlugen sie beim Hof Pelzer oder in Rabo-
trath ein.
Als ich später mit meiner Blinddarmgeschichte im Eupener Spital
lag, schlug dort einmal eine ein.
Es war eine fürchterlich heimtückische Waffe !
WIE ES UNS ERWISCHTE ;
Kurz nachdem wir im Mai 1940 von der siegreichen Wehrmacht
überrannt worden waren (mein Mann war noch nicht von seinem 18-Ta-
ge-Feldzug zurück), wurde eine Volkszählung abgehalten, bei der jeder
auch seine Nationalität angeben musste. Ich schrieb, wie man es mich
immer gelehrt hatte: BELGIER VON GEBURT.
Doch die meisten Menschen wussten nicht recht, was sie schreiben
sollten, denn 22 Jahre vorher waren sie ja noch Deutsche gewesen und
so notierten sie: DEUTSCHER.
Der Führer hatte nun leichtes Spiel.
Er hatte die 1920 verloren gegangenen Gebiete ohne nennenswerten
Widerstand und mit Erfolg „heim ins Reich“ geholt.
Bald merkten jedoch unsere Nachbarn, was sie sich mit der Aussage
“Deutsche“ zu sein, eingehandelt hatten. Nach und nach trafen nämlich
bei denen die Bescheide ein, dass sie in die Stammrolle aufgenommen
worden seien.
„Ach das ist nicht so wichtig“, meinten viele, „bald hat der Führer
seinen Krieg gewonnen.“ Ja, so war damals die Meinung hier im Dorf.
In anderen Ortschaften, so z.B. in Lontzen und erst recht in den alt-
belgischen, plattdeutschen Gemeinden wie Membach und Montzen,
waren mit dem Eintreffen der ersten Bescheide plötzlich alle jungen
Männer verschwunden. Sozusagen „über die Wupper“. Aber wo war
hier die Wupper? Manchmal auf dem eigenen Heuboden!
Flugs waren Doppelwände eingezogen worden und nur die vertrau-
enswürdigsten Personen durften davon wissen. Manchmal wusste nicht
mal die Ehefrau, wo sich ihr Mann versteckt hatte. Manche haben so
Wochen, Monate, ja Jahre im Versteck verbracht. Viele der jungen Män-
ner aus den deutschsprachigen Dörfern wie Raeren und Kettenis ver-
steckten.sich bei Verwandten und Freunden im Innern Belgiens.
35
So kam es, dass schließlich nur noch die verbliebenen Alten abends in
der Wirtschaft beisammen saßen. Höllisch passten die Nazispitzel auf,
ob dabei nicht einer der üblichen Naziwitze erzählt wurde oder ob etwas
über den Verbleib der plötzlich verschwundenen jungen Männer gesagt
wurde. Ansonsten ging jedoch alles bald seinen gewohnten Gang.
Am 17. Mai 1942 brachte ich meinen zweiten Sohn Albert zur Welt
und Anfang November traf ich meine Vorbereitungen zum Namenstag
meiner Schwiegermutter.
Wie üblich lud sie zum 19. November, dem Elisabeth-Tag, alle Ver-
wandten und Bekannten zu ihrem Festtag ein. Es sollte die letzte große
Feier auf dem Hof werden.
Selbstverständlich waren auch die Kerres-Verwandten von der „Ei-
senhütte‘“ bei Roetgen geladen, und wie üblich, sollten sie aus ihrem
Jagdrevier einen dicken, fetten Hasen mitbringen. Zu den Festvorberei-
tungen gehörte auch, dass frische Butter gemacht wurde.
Es wurde ein schönes, harmonisches, großbürgerliches Fest, wie es
von Thomas Mann so vortreffllich in seinen Büchern beschrieben wur-
de.
Am folgenden Tag (mein Mann war wegen einer Besorgung abwe-
send) kümmerten wir Frauen uns ums Putzen und Spülen. Niemand
dachte daran, das Butterfass wieder unter dem Briketthaufen zu verste-
cken, als gegen 1 1 Uhr plötzlich unser Haus von der Polizei umstellt und
stürmisch an der Haustürglocke gezogen wurde.
HAUSDURCHSUCHUNG !
Es sei in der Nachbarschaft gewildert worden, wurde uns mitgeteilt.
Ortsförster Lambert Aussems hatte diese Aktion in Bewegung gesetzt.
War es nur ein Vorwand, war es Verrat oder ein schrecklicher Zufall?
Jedenfalls fanden die Polizisten zuerst die Reste unseres Hasen. Aha !
Jetzt suchten sie weiter und entdeckten schließlich auch noch unser
Fass schön mit goldgelber Butter gefüllt. Da ich annahm, dass man
mich mit einem Kleinkind nur milde bestrafen würde, gab ich zu Proto-
koll, die Butter ohne Wissen meines Mannes gemacht zu haben. In der
Folgezeit gab es noch viele Verhöre in dieser Angelegenheit.
Wenige Wochen später verstarb meine Schwiegermutter am 7. Januar
1943. erst sechzigjährig plötzlich und unerwartet an der vom jungen
Aushilfsarzt Dr. Sch. nicht erkannten Zuckerkrankheit.
Am Tage ihrer Beerdigung erhielten wir die Vorladung des Gerichts
in der Sache des verbotenen Buttermachens. Dazu kam noch, dass mein
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Mann am Tage der Beerdigung zusammenbrach und sterbenskrank ins
Eupener Krankenhaus eingeliefert werden musste, wo man ihm am
nächsten Tag am geplatzten Blinddarm operierte und an einer Bauch-
fellentzündung behandelte. Sechs Wochen hat es gedauert, bis er wieder
das Gehen gelernt hatte. Auf mich alleine gestellt, war ich inzwischen
schon mehrmals zu einem guten Anwalt gegangen, der mir vorhielt, al-
les falsch gemacht zu haben. ..“Abstreiten, abstreiten, abstreiten‘“ sagte
er!
Ja aber, die Butter war doch da und auch gefunden worden“ entgeg-
nete ich. Er erwiderte: “Es stand nichts auf der Butter geschrieben, die
konnte ja noch von vor dem Kriege sein.“
Das Gerichtsurteil lautete „ein Monat Gefängnis“ für meinen Mann, -
weil er als Betriebsführer zu wissen hatte, was auf seinem Hof vor sich
ging. Und weil ich die Butter gemacht hatte, bekam auch ich einen Mo-
nat Gefängnis.
Bei der Verkündung des Urteils ließ ich bis zum letzten „.Heil Hitler“
meine geballten Fäuste tief in meinen Taschen.
Die Strafe war 1943, Ende Mai, nacheinander anzutreten. Als Erster
mein Mann. Doch er ignorierte den Termin und meldete sich nicht zum
Strafantritt, so dass er von der Arbeit weg geholt wurde. Als er dann am
letzten Tag seiner einmonatigen Haft nach Hause kam. berichtete er,
dass kurz vorher eine Phosphor-Brandbombe auf das Gerichtsgebäude
gefallen war und dieses in Brand gesetzt hatte.
„Du brauchst sicher nicht zu gehen“ meinte er. “Denen sind bestimmt
alle Unterlagen verbrannt.“
Es dauerte dann tatsächlich bis in den Herbst, bis ich schließlich doch
die Aufforderung erhielt, meine Strafe am 21. September anzutreten.
Für die Zeit meiner Abwesenheit forderte mein Mann nun beim Ar-
beitsamt ein Mädchen an und uns wurde daraufhin die Russin Olena zu-
gewiesen. Trotzdem wollte ich Klein-Albert nicht zuhause lassen, denn
das war mir zu unsicher. Per Fahrrad machte ich mich auf die Suche
nach einem passenden Institut unter der Leitung religiöser Schwestern.
Die Behörden verwiesen mich schließlich an das Eupener Heidberg-
Institut. Dort konnte mein Mann dann jeden Tag seinen Sohn besuchen
und bei dieser Gelegenheit nahm er auch stets frische Milch mit. Und
über einen guten soliden Keller (wegen der möglichen Luftangriffe)
verfügten die guten Schwestern auch. So saß ich denn beruhigt meinen
Monat ab.
BT.
UNSERE PERLE OLENA
Weil ich meinen Strafmonat zu verbüßen hatte, benötigten wir drin-
gend eine Haushaltshilfe, die wir bei der Arbeitsvermittlung beantrag-
ten.
An einem Samstagabend kamen in Kettenis auf einem Lastwagen die
als Hilfe angeforderten Russinnen an. Auch wir bekamen unser Mäd-
chen zugeteilt.
Ein in Tüchern gewickeltes Etwas. Nur Nase und Augen schauten
heraus.
Sie hatte nur bei sich, was sie am Leibe trug.
Als sie in unser Wohnzimmer trat, ging sie gleich auf unsere gro-
ße Europakarte zu, worauf wir mit Nadeln den Frontverlauf abgesteckt
hatten. Wir verstanden, dass sie wissen wollte, wo sie jetzt sei, denn ihre
Sprache verstanden wir nicht.
Nachdem wir ihr dies gezeigt hatten, setzten wir uns zum Abendbrot
zu Tisch.
Sie aber aß nur Brot. Dann stand sie auf und trat vor unser religiöses
Bild an der Wand und machte davor ein dreifaches Kreuzzeichen, wel-
ches in etwa dem unsrigen ähnlich war.
Dabei verbeugte sie sich jedesmal und schließlich ergriff sie meine Hand
und küsste sie knieend. Es war nicht einfach, ihr dies abzugewöhnen.
Mich nannte sie Pani und meinen Mann Pan.
Ich zeigte ihr anschließend ihr Zimmer und wünschte ihr eine gute
Nacht. Am nächsten Tag inspizierte sie eingehend Haus und Hof, wäh-
rend wir uns fragten, was wohl unter ihren Tüchern war. Eins nach dem
anderen konnte ich dann im Laufe der Woche entblättern. Mir war, als
hätte ich meine Schwiegermutter wieder vor mir, in so vielen altertüm-
lichen Stoffstücken war ihr Jungmädchenkörper gehüllt.
Auch stellte ich fest, dass ihr Bettzeug nicht benutzt worden war.
Beim gezielten Nachsehen konnte ich feststellen, dass sie sich zwischen
die Matratze und das Flockenbett schob, offenbar um das Bettzeug zu
schonen.
Allmählich machte ich sie mit ihren Aufgaben vertraut, denn in mei-
ner Abwesenheit musste sie diese ja selbständig verrichten können.
„Geiza“ (Eier), war das erste russische Wort, welches ich von ihr
lernte.
Olena war kräftig, geschickt und gelehrig.
Sie trug ihr Haar zu einem altmodischen Knoten geschlungen. Als ich
ihr diesen Knoten in der dritten Woche abschneiden wollte, zeigte sie
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sich sogar begeistert. Danach wurde sie völlig neu eingekleidet, denn
die Wäsche meiner verstorbenen Schwiegermutter passte ihr und schon
sah sie fast aus wie wir.
Vom Kochen wollte sie nichts wissen. Also musste mein Mann dies
selber besorgen, als ich nach Aachen „zur Kur“ musste. Allmählich be-
kamen wir mit, dass sie, als der Krieg ausbrach, mitten im Studium war,
um Lehrerin zu werden. Während des Studiums hatte sie auch einige
Deutschkenntnisse erworben, wogegen sie sich zwar immer gesträubt
hatte, doch jetzt dankbar war, sich etwas in dieser Sprache zurecht fin-
den zu können. Nach Feierabend blätterte sie in der „Kölner Illustrier-
ten“ und anhand der Witze, die sie sehr mochte, lernte sie recht bald
unsere Sprache in Wort und Schrift. .
Selbstverständlich ignorierten wir die Anordnung der deutschen Ob-
rigkeit, die die Aufnahme von Fremdarbeitern in den Familienkreis ver-
bot. Auch alle sonstige Freiheiten waren ihnen offiziell verboten. Sie
hatten auch alleine zu essen und durften nicht ausgehen.
Durch meinen Bruder Adolf, der statt in der Schule Unterricht zu
bekommen, nach jedem Fliegerangriff ausgeschickt wurde, feindliche
Flugblätter einzusammeln, diese Zeit aber meistens bei uns verbrachte,
erfuhren wir, dass auch in dem Nachbarort Rabotrath in zwei Haushal-
tungen russische Mädchen untergekommen waren. Wir sorgten dann da-
für, dass diese über die Felder zu uns kommen konnten. Zufällig waren
alle drei Mädchen aus dem gleichen Dorf. Die Wiedersehensfreude war
riesig. Waren sie doch wie Vieh aufgeladen und verschleppt worden.
Wie sie uns später erzählte, waren sie von den deutschen Behörden
vom Feld weg in nur 20 Minuten entführt worden. Sie war die Jüngste
von drei Mädchen.
Da monatelang die Front immer wieder über ihre Heimat hin und
her gegangen war, waren sie von russischer Seite aufgefordert worden,
sich eher erschießen als mitnehmen zu lassen. Zwei Mädchen aus ihrem
Dorf hatten es tatsächlich vorgezogen, sich das Leben zu nehmen. Eine,
die hier im Dorf bei der Familie Goor untergekommen war, war frei-
willig mitgegangen, weil sie die Deutschen als Befreier ansah. Deren
Eltern waren nämlich von den Sowjets erschossen worden, weil sie bei
einer allgemeinen Missernte nicht auch das Selbstgezogene abgegeben
hatten.
Olena erzählte uns, dass in ihrer Heimat alle Jungen und Mädchen
von 7 bis 10 Uhr zur Kollektivarbeit zusammen kommen mussten. Ein
kleines Stück Land durften die Eltern zum Eigenbedarf bewirtschaften,
39
was denn auch bis „zum-geht-nicht-mehr“ beackert wurde. Teile der
Eigenproduktion habe der Vater dann in der nächstgelegenen Stadt ver-
kaufen können. Von dem erzielten Geld wurden Schürzen gekauft, denn
die ihnen vom Staat allmonatlich zur Verfügung gestellten Schürzen
waren von so schlechter Qualität, dass sie nur eine Woche hielten. Zur
Herstellung der benötigten Unterwäsche sponn Olenas Mutter Flachs.
Auch hier hatte man die Order erlassen, dass jeder für den Eigen-
bedarf Kartoffeln zu kultivieren hatte, denn „offiziell“ waren keine zu
bekommen. Wir selbst bauten keine Kartoffeln an und holten uns unsere
Ration, gemeinsam mit Jannes Leys auf der Eisenhütte bei unseren Ver-
wandten ab. Auf kritische Fragen erwiderte mein Mann damals immer
nur: „Wir essen keine Kartoffeln“!
Mit der Zeit lernte Olena immer besser Deutsch sprechen, sodass wir
uns bald gut mit ihr verständigen konnten. Auch zeigte sie sich uns ge-
genüber sehr loyal. Wenn wieder ein „Ding“ gedreht wurde, sah und
hörte sie klugerweise nichts. “Zuhause wir auch so machen“, sagte sie
nur.
Aus ihren Erzählungen erfuhren wir, dass in ihrer Heimal die Vorräte
für Mensch und Vieh in Erdlöchern untergebracht wurden. Ihre Bau-
ernhäuser müssen sehr klein gewesen sein. Zum Schlafen kroch abends
Männlein wie Weiblein auf eine Plattform über dem Kamin. Befragt,
warum sie sich mit so vielen Tüchern ständig umhüllte, gab sie an, dies
aus ihrer Heimat wegen des dort ständig wehenden scharfen Windes
so gewohnt zu sein. Dies war denn wohl auch der Grund, weshalb sie
in Gesprächen mit den anderen Russinnen immer sehr laut sprach. Sie
waren es halt gewohnt, immer gegen den Wind anbrüllen zu müssen.
Nachdem Olena bestens mit den anfallenden Arbeiten vertraut ge-
macht war, konnte ich mich nun auf meinen „Kuraufenthalt‘““ in Aachen
vorbereiten. Ich war sicher, Olena würde ihre Sache gut machen.
Sie blieb letztlich bis etwa drei Monate vor Ankunft der Amerikaner
bei uns. Von ihrer Abreise werde ich später berichten.
BEI WASSER UND BROT
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit vom 21. September bis 21. Ok-
tober 1943.
Klein-Albert war 16 Monate alt. Ich zählte 29 Jahre.
Mein Mann brachte mich zum Aachener Gefängnis am Adalbert-
steinweg.
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Als Erstes musste ich die Entlausungsprozedur über mich ergehen
lassen. In einem der vielen Büros übergab man mir die Anstaltskleidung
- für die nächsten vier Wochen mein neuester Modeschick! Nur meinen
Mantel durfte ich behalten.
Schwupp, und ich wurde unter Verschluss genommen.
Die Zelle war etwa drei auf fünf Meter groß, die Tür in der Mitte der
Breite und gegenüber in etwa zwei Meter Höhe das Fenster, woraus
eine Scheibe fehlte. Links neben der Tür befanden sich der Kübel und
ein Schemel.
Wenn mich die Mithäftlinge fragten, wieviel ich denn abzusitzen hat-
te und ich „einen Monat“ sagte, dann lachten sie und meinten: “Einen
Monat sitze ich doch auf dem Kübel ab.“ .
An der Längswand stand mein Bett mit zwei Strohsäcken und einer
Decke drauf. Unter dem Fenster stand ein zweiter Schemel und an der
anderen Längswand das zweite Bett. Daneben ein Tischchen und darü-
ber an der Wand ein kleines Regal, wo jeder seinen Topf und seine Tasse
sowie Löffel und Gabel abstellen konnte. Neben der Tür befand sich
der Heizkörper, doch der war defekt. Zuletzt muss zu den Einrichtungs-
gegenständen noch der Wasserkrug gezählt werden. So wenig braucht
man also zum Leben.
Wie bereits erwähnt, befanden sich auf einem der Betten ein zweiter
Strohsack und vier Decken. Das bedeutete, dass unsere Zelle mit drei
Personen überbelegt war. Ich als Letzte hatte demzufolge mit meinem
“Püss“ auf dem Zellenboden zu schlafen.
Ich hatte also zwei Leidensgenossinnen.
Das waren die ewig hungrige Emma aus der Eifel und Therese aus
Eupen. Emma saß, weil sie etwas gestohlen hatte, und Therese saß
(ohne Urteil !) auf Anordnung der Gestapo ein, weil sie zwei Tage nicht
zur Arbeit erschienen war und dann auf die ihr gemachten Vorhaltungen
unklugerweise geantwortet hatte: “Es kommen auch noch einmal ande-
re Zeiten!“
Zeitweilig waren wir sogar zu viert..
Eine Frau von 60 Jahren wurde zu uns gesteckt, weil sie Sahne von
ihrer Milch abgeschöpft hatte. Ein anderes Mal wurde eine junge Frau
aus Eupen zu uns gesteckt, die sehr lustig war und uns mit vielen Witz-
chen bei Laune hielt. Unser Lachen drang dann sogar bis oben zur Ver-
waltung. Dann wurden wir verwarnt. Doch schon nach fünf Tagen wur-
de uns dieses fröhliche Mädchen wieder genommen.
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Essen gab es erstmals morgens um 6, dann um 12 und um 18 Uhr.
Meist gab es einen Schöpflöffel eines dünnen Süppchens. Vielleicht
auch mal zwei. Einmal pro Woche gab es Rhabarberblättersuppe. die
schlichtweg ungenießbar war. Wir alle kippten diese dann direkt in den
berühmten Kübel. Einmal, als wir diese Suppe serviert bekamen, hatten
wir von 10 Uhr vormittags bis 2 Uhr in der Nacht im Luftschutzbunker
gesessen und hatten Hunger zum Verrücktwerden. Doch auch in dieser
Situation war keiner bereit, dieses Gebräu zu schlucken. Ich hatte von
Anfang an ein kleines Stück Brot in Reserve gehalten, woran ich dann
in solchen Fällen etwas knabberte und der ewig hungrigen Emma etwas
abgeben konnte. Beim Hofgang zupfte sich Emma immer etwas Gras,
um damit ihre Suppe anzureichern..
Tags vor meinem Haftantritt war mir eine ganze Oberkiefer-Zahnpro-
these angepasst worden, die ich nun schön anbehalten musste, um mich
daran zu gewöhnen. Sie saß und hielt in keiner Weise und während ei-
nes Angriffs habe ich sie verloren. Die habe ich dann schleunigst durch
eine neue ersetzen lassen. So machte es mir eigentlich wenig aus, dass
es hier im Gefängnis kaum etwas zu beißen gab.
UNSER TAGESABLAUF
Wecken durch Gebrüll im Flur und Aufschließen der schweren
Schlösser. „Kübel raus!‘ dröhnte es ins Zimmer und einige wurden
dann abkommandiert, diese zu leeren. Danach wurden die Wasserkrüge
gefüllt, und wenn jeder seine Toilette gemacht hatte und bekleidet war,
wurde das Essen ausgeteilt. Anschließend mussten wir die Betten ma-
chen und unsere Zelle putzen. Danach wurde uns unser Tagewerk ge-
bracht. Meist mussten wir Knöpfe annähen, wobei ein gewisses Pensum
erfüllt werden musste.
Wenn die Suppe gar zu dünn gewesen war und uns schnell wieder der
Hunger plagte, legten wir die Arbeit in der Hoffnung beiseite, dass es
bald wieder Essenszeit sei. Wir wussten nie, wie spät es jeweils war. Die
nahe Kirchturmuhr, die uns die Zeit hätte angeben können, war leider
zerbombt worden.
Wenn die Kalfaktorin unsere Untätigkeit gewahrte, wurden wir wie-
der zur Arbeit angetrieben. Oder wir fingen selber wieder an zu arbei-
ten, um uns vom quälenden Hunger abzulenken.
Nach der Mittagssuppe durften wir 15 Minuten lang im Hof spazie-
ren gehen, bevor es dann, ab 14 Uhr, mit der Arbeit weiter ging.
Nach dem Abendessen war dann ab 19 Uhr Ruhe im Bau.
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Ich konnte mich immer erst als Letzte zur Ruhe begeben, denn erst
wenn die beiden anderen im Bett waren, konnte ich meinen Strohsack
auf dem Boden ausbreiten und mich hinlegen. Die Füße am Kübel und
den Kopf in Richtung Heizkörper. Ein Glück, dass er nicht funktionier-
te! Gott, war das in den ersten Tagen hart; aber dann schlief ich herr-
lich. Es kann aber auch sein, dass man von den durchwachten Nächten
im Bunker übermüdet war und in jeder Stellung hätte schlafen können.
Abends vor dem Schlafengehen wurde große Toilette gemacht. Man er-
fand so manchen „Gag“, um sich das Leben so erträglich wie möglich
zu machen.
Wenn während des Zellenaufschlusses und der Zellensäuberung am
Morgen die Aufseher einmal nicht hinschauten, huschte man schnell in -
eine andere Zelle, um Informationen auszutauschen. Hierbei entdeckte
ich am Ende des Flures eine Nähstube. So bat ich denn meine Aufseher,
Strümpfe stopfen zu dürfen, was mir auch gestattet wurde. Endlich war
ich von der stupiden Arbeit befreit und hatte auch etwas mehr Freiheit.
Die ersten beiden Wochen waren für mich direkt ein Studium, denn
oft hatte ich mir, wenn ich auf dem Weg zu meinen Verwandten hier
vorbei kam, die Frage gestellt, was wohl hinter diesen Mauern vorgehen
möge.
Wenn nachts Fliegeralarm gegeben wurde und wir in den Luftschutz-
bunker mussten, hatten wir zwei Innenhöfe zu durchlaufen, bevor wir
zu den Schutzräumen kamen, die sich unter dem Gerichtsgebäude be-
fanden. Manchmal hatten wir diese quälende und störende Prozedur
zweimal pro Nacht zu durchleben.
Im Luftschutzbunker trafen wir dann mit den Durchgangstransporten
zusammen - meist Frauen aus Belgien, die zum Tode verurteilt waren.
Eigenartigerweise fürchteten sie sich kaum, denn sie waren überzeugt,
dass sie noch von den Alliierten befreit würden. Es tröstete sie auch,
zu erfahren, dass deutsche Frauen hier einsitzen mussten. nur weil sie
„Feinden“ zu essen gegeben oder sonstwie geholfen hatten.
Diese Frauen waren auch nicht in Sträflingskleidung!
Was aber noch wichtiger war, sie bekamen dicke Pakete vom Roten
Kreuz und gaben uns davon ab, wenn niemand zuschaute.
Sonntags konnte man Bücher ausleihen, wovon ich mit Begeisterung
Gebrauch machte. Trotzdem wurde ich bald nervös, denn mein Anwalt
hatte mir versprochen, ich würde vorzeitig entlassen und dürfe deshalb
keinen Besuch haben.
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Ich bestürmte den Anstaltspfarrer, doch etwas zu unternehmen und
man fragte sich immer wieder, ob denn die Angehörigen nichts tun
könnten. Quälende Fragen. Und kaum ein Brief wurde durchgelassen.
So rückte schließlich die vierte und letzte Woche näher. In dieser Woche
erlebte ich noch einen großen Angriff auf Aachen mit.
Ein Bombentrichter vor dem Gefängnis hatte uns die Wasserzufuhr
abgeschnitten und ein ganz schwerer Blindgänger lag im Gerichtshof.
Kein Putzen, keine Körperpflege und auch das Trinkwasser wurde ra-
tioniert.
Therese wurde krank und das Leben wurde allmählich unerträglich.
Am Ende litten wir alle unter Durchfall.
Zum Glück wurde ich am Ende dieser Woche entlassen.
HIER LAG DIE SAU!
Am Tage meiner Entlassung holte mich mein Mann am Gefängnis ab.
Auf dem Heimweg erzählte er mir zum einen, dass er gerade ein
Schwein geschlachtet habe, das nun verarbeitet werden müsse und zum
anderen, dass er eine Aufforderung erhalten habe, am nächsten Tag bei
der Polizei vorstellig zu werden.
Wie also angekündigt, hatte ich am Tage nach meiner Entlassung be-
sagtes 150-Kilo-Schwein zu verarbeiten, während mein Mann sich auf
den Weg zur Polizeibehörde nach Eupen machte. Gegen 14 Uhr bekam
ich Bescheid, dass man meinen Mann verhaftet habe und er nicht mehr
nach Hause kommen würde. Es wurde mir jedoch gestattet, ihm noch
einige Butterbrote zu bringen. So getan und mit einem Taxi nach Eupen
gefahren und kurz mit meinem Mann gesprochen, dann zu den Schwes-
tern am Heidberg, um Klein-Albert abzuholen.
Zuhause angekommen rannte mein Schwiegervater tobend umher
und mein Kind fing an zu schreien. Doch alles Lamentieren half nichts.
Auch die Kühe mussten noch gemolken und die Stallarbeit erledigt wer-
den. Mein Schwiegervater war derweil mit dem Zerlegen der Schweine-
hälften beschäftigt, als plötzlich, gegen 22 Uhr, an der Haustür Sturm
geläutet wurde.
Vor uns stand der Hilfsgendarm Jennes Heck, der uns aufgeregt da-
rüber informierte, dass wir für den kommenden Tag mit einer Haus-
durchsuchung zu rechnen hatten und deshalb gut daran täten, bis dahin
alle Spuren unserer Schwarzschlachtung zu verwischen. Wir bedankten
uns und schon verschwand der gute Jennes Heck wieder im Dunkel der
Nacht. Mein Gott, er hatte uns mit diesem Hinweis das Leben gerettet !
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Obwohl wir für unsere früheren Schlachtungen auf dem Heustall
unter dem Heu einen Unterstand gebaut hatten, war es für mich un-
möglich, das Fleisch dort zu lagern. Ich wäre tot umgefallen, wenn die
Beamten auf den Heuboden gestiegen wären - war mir doch bewusst,
was dies für Konsequenzen gehabt hätte.
Der rettende Ausweg war die Zisterne im hintersten Teil unserer Wie-
sen. Wir in der Nacht noch mit Laterne, Leiter, Töpfen und Behältern,
alles auf Schubkarren geladen, dorthin. Mitten in der Nacht, durch die
Dunkelheit huschend. Zum Glück war die Zisterne nur zu etwa 10 Zen-
timeter mit Wasser gefüllt. Wie oft wir in dieser Nacht vom Hof mit der
Schubkarre hin zur Zisterne und wieder zurück gepilgert sind, weiß ich
nicht mehr zu sagen, aber bis zum Morgengrauen waren die Spuren der -
Schwarzschlachterei verschwunden.
Was war dem eigentlich alles voraus gegangen ?
Nun, nachdem 1942 die siegreiche Armee des “GRÖFAZ“, des
“Größten Feldherrn aller Zeiten“ vor Stalingrad eine erste Niederlage
hatte einstecken müssen, war auch den Nazis klar geworden, dass auch
sie nicht unverwundbar waren und dass ihre Sache auf der Kippe stand.
Aus diesem Grunde galt es nun in diesen Kreisen, sich für alle Eventu-
alitäten abzusichern. Vor allem trachteten sie danach, sich lästiger Mit-
wisser ihrer Taten zu entledigen.
Da unsere Familie allgemein als treu zu Belgien stehend und poli-
tisch aktiv bekannt war, standen wir, wie schon unsere Eltern im Ersten
Weltkrieg, unter besonderer Beobachtung und man suchte Vorwände,
um uns aus dem Verkehr ziehen zu können. Immer wieder hatten wir
Razzien und Kontrollen zu erdulden und mit Hilfe bewusster oder un-
bewusster Äußerungen der Nachbarn waren wir ja dann auch fürs But-
termachen bestraft und jeweils für einen Monat in den Bau gewandert.
Doch das war offenbar noch nicht genug gewesen, denn man schnüf-
felte weiter hinter uns her. Bei einem dieser Schnüffelgänge hatte die
Polizei durch das Stallfenster die fette Sau zu Gesicht bekommen und in
ihren Unterlagen feststellen können, dass diese nicht gemeldet worden
war. Unser Glück war nur, dass die Behörden derart langsam arbeiteten,
dass zwischen der Entdeckung der Sau und der Schlachtung derselben
mehrere Tage lagen. Das zweite Glück war, dass uns Jennes Heck ge-
warnt hatte.
Als die Staatsgewalt am nächsten Tag mit großem Aufgebot das Haus
auf den Kopf stellte, waren keine Beweisstücke mehr zu finden. Völlig
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ratlos standen die Beamten vor dem nunmehr leeren Stall und meinten
trotzig: „Hier lag die Sau“!
Unter dieser Überschrift stand dann bezüglich des Prozesses später
eine Notiz in der regionalen Tageszeitung. Doch auch ohne „Corpus
delicti‘“ wanderte mein Mann zur Untersuchungshaft wieder in den Bau
am Adalbertsteinweg. Kurz nachdem ich dieses Haus verlassen hatte,
musste ich nun wieder hin, um für meinen Mann zu kämpfen. Nur selten
wurde mir eine halbe Besuchsstunde gewährt. Sie nützten aber sowieso
nichts, denn immer war ein Beamter dabei.
Es war fast unmöglich, ihm ein Päckchen Zigaretten über den Tisch
zu schieben, wenn man nicht gleichzeitig den Beamten tüchtig schmier-
te:
So begab ich mich denn auf die Suche nach einem Anwalt. An den
uns empfohlenen „Staranwalt‘“ war zunächst nicht heran zu kommen,
wenn der, umgeben von den anderen Anwälten, aus dem Gerichtssaal
rauschte.
Ich konnte bitten, wie ich wollte, einen Termin bekam ich zunächst
nicht. Bis ich ihm den Zeitungsartikel von der „Verschwundenen Sau“
unter die Nase hielt.
Siehe da, nach vierwöchiger Untersuchungshaft meines Mannes, be-
kam ich Anfang Dezember 1943 für 17 Uhr einen Termin. Ich besuch-
te ihn in Begleitung meines Vaters. Der Anwalt empfing mich mit den
Worten: „Also zwei Schweine geschlachtet — darauf steht Zuchthaus!“
Ehrlich und kleinlaut sagte ich: “Nein, eins“.
Tatsächlich hatte mein Mann das ursprünglich vorhandene zweite
Schwein bereits vor meiner Entlassung aus dem Gefängnis mit unserer
höchst zuverlässigen Nachbarfamilie Leys in deren Wohnung (!) ge-
schlachtet.
Obwohl die „fettigen“ Beweise nirgendwo gefunden worden waren,
klärte mich der Anwalt dahingehend auf, dass Hitler als oberster Richter
inzwischen die Gesetzgebung um das so genannte „Annahmegesetz‘“
verschärft hatte, demzufolge auch schon auf Verdacht hin verurteilt
werden konnte. Abstreiten nützte da nicht viel.
Der Gefängnispfarrer versuchte mich mit dem Hinweis zu trösten,
dass mein Mann wohl „nur“ zwei Jahre Zuchthaus zu erwarten habe.
In Begleitung unseres Nachbarn Leys besuchte ich am 17. Dezember
1943 die Gerichtsverhandlung. Unser Anwalt fing mich auf dem Ge-
richtsflur ab, weil er nicht wollte, dass ich an der Verhandlung teilnahm.
Ich blieb also auf dem Gang zurück. Später berichtete mir Herr Leys,
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dass mein Mann zwei Stunden lang die Angriffe des Staatsanwaltes und
die Vorwürfe des Gerichts pariert habe, dass unser Anwalt jedoch kaum
den Mund aufgemacht habe. Dann kam er kurz heraus und meinte, ein
Freispruch sei immer noch drin.
Letztendlich lautete das Urteil „10 Monate Gefängnis“, wobei die
sechswöchige Untersuchungshalt angerechnet wurde. Nach insgesamt
vier Monaten Gefängnis, im Tagesablauf ähnlich wie ich sie erlebt hat-
te, wurde er zur Arbeit auf dem Rittergut Kalkofen verpflichtet, was
eine deutliche Verbesserung im Vergleich zum Anstaltsleben darstellte.
Nachdem das Schwein in der Nacht nach meiner Entlassung in aller
Eile zur Wasserzisterne geschafft worden war. musste dieses, sollte es
nicht verderben, baldmöglichst weiter verarbeitet werden. Jeden Abend ”
pilgerte ich mit meinem Schwiegervater nach Einbruch der Dunkelheit
dorthin und wir holten soviel, wie wir in der Nacht verarbeiten konnten.
Das musste natürlich alles in größter Heimlichkeit geschehen.
Nicht einmal Olena, unsere Russin, konnte uns dabei helfen, weil sie
nichts davon wissen durfte. Einmal um sie nicht unnötig in Gefahr zu
bringen, aber auch, damit sie nichts verraten konnte, sollte sie einmal
verhört werden.
Das hätte nämlich für uns alle den Tod bedeuten können.
Zuletzt fuhren wir nur noch einmal pro Woche zur Zisterne um die
letzten größeren Einzelstücke heraufzuholen.
Todesängste habe ich bei diesen Aktionen ausgestanden und Ge-
spenster in der nahe vorbeiführenden Gasse gesehen.
Auch der Weg von der Zisterne bis zum Haus war nicht ungefährlich,
denn nachts waren ja immer Bomber unterwegs.
Einmal suchte man unsere Wiesen gar mit einem Scheinwerfer ab!
Ich war gerade auf halbem Weg mit zwei Eimern voller Fleisch.
Ein kurzer Sprint bis zur Hecke und hinfallen war eins.
Mein Schwiegervater hatte diese Aktion von der Zisterne aus beob-
achtet und flugs den Kopf eingezogen.
Auch die Angst, wegen dem Schwein eventuell selber noch einmal ins
Gefängnis zurück zu müssen, war ungeheuer. Doch Hunger tut auch weh!
SCHICKSALSMEISTERUNG
Mit der zweiten und bedeutend längeren Inhaftierung meines Mannes
lag die Verantwortung des Hofes und der Familie nun ganz in meinen
Händen. Ein Glück, dass ich in Olena eine zuverlässige Hilfskraft zur
Seite hatte.
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Erwähnen sollte ich an dieser Stelle aber auch unseren Schäferhund,
der mich stets, auch auf meinen nächtlichen Streifzügen begleitete. Zum
Beispiel, wenn ich zur Familie Leys oder zu der etwas weiter wohnen-
den Familie Schifflers wollte, um zu telefonieren. Oder auch, wenn ich
im Dorf, im Aushang am Gemeindehaus, die neuesten Verordnungen
studieren wollte.
Gewiss, wir hatten Pech gehabt, aber im Nachhinein betrachtet, war
unser Zoll an diesen Krieg noch vergleichsweise gering gewesen. Vor
allem hatten wir keinen Hunger zu leiden. Schließlich hatten wir doch
die ganzen Jahre hindurch soviel gebuttert und geschlachtet, dass wir
und die zehnköpfige Familie Leys immer genug zu essen hatten. Die
Familie Leys bekam alleine jeden Tag 10 Liter Milch, wogegen wir von
ihnen Zucker bekamen. Frau Burtscheid, die Pächterin der Bäckerei (ihr
Mann war eingezogen worden), bekam von uns Schmalz vom Schwein
und wir bekamen von ihr dafür Brot und alles andere, was man mit Fett
erkaufen konnte.
Auch die Familie Pauwels, deren Familienvorstand von den Nazis
verhaftet worden war und im KZ umkam, wurde von uns mit “Fetti-
gem“ über die Runden gebracht.
An dieser Stelle muss ich auch die Milchzentrifuge und das Butter-
fass erwähnen, die beide von den Machthabern versiegelt worden wa-
ren. Wenn wir nun Butter machen wollten, mussten wir dies den Be-
hörden melden, um die entsprechende Genehmigung zu erhalten. Was
wir der Obrigkeit aber verheimlichen konnten, war die Existenz einer
zweiten Milchzentrifuge und eines zweiten Butterfasses.
Wenn wir also Butter machen wollten, bauten wir die Zweitgeräte ne-
benan auf und verkoppelten beide miteinander. So konnten wir mittels
elektrischem Kraftstrom gleich die doppelte Menge verarbeiten, wovon
die inoffizielle Menge natürlich sofort in unser Versteck auf dem Heu-
boden wanderte.
Im Hause selber hatten wir nur jeweils für einige Tage Vorrat an
Butter und Eingemachtem, das ja noch von vor dem Kriege stammen
konnte. Die tägliche Ration Butter war entweder im „Aschenschoss“
des Ofens oder in meiner Nähmaschine versteckt. Ein anderes Versteck
lag unter Opas Sofa, wo sich unter dem Teppich eine Klapptür hin zur
Wasserzisterne befand, die mein Mann in den Boden gesägt und mon-
tiert hatte,
Das Erste, was wir nach dem Krieg bauen oder einrichten wollten,
war ein absolut geheimer Raum hinter einer zweiten Wand oder aber
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unter der Erde. Doch letztlich ist es bei diesen Plänen geblieben, zum
Glück haben wir dies bisher auch nicht mehr nötig gehabt.
Mit den Jungs der Familie Leys wurden immer wieder neue Pläne ge-
schmiedet. Wir waren uns deren Loyalität immer absolut sicher. Die har-
ten Burschen hätten auch unter der Folter nichts und niemanden verraten.
Einer der besprochenen Pläne betraf z.B. die Glocken unserer Kirche,
die zu Kriegszwecken eingeschmolzen werden sollten. Mein Mann und
Jannes Leys wollten die bereits vom Turm heruntergeholten Glocken
anfangs doch tatsächlich entführen und in einem nahen Sumpf versen-
ken. Dieser Plan scheiterte aber am Herrn Pastor, der schließlich kalte
Füße bekam und nichts mehr von dem Vorhaben wissen wollte. Zum
Glück ist das uns so vertraute schöne Geläut nach dem Kriege wieder -
unversehrt in unser Dorf zurückgekommen.
In den Augen der Machthaber war unser Tun schon Sabotage der
massiven Art. Aber wir waren jung und risikobereit - und hatten letzt-
lich viele Schutzengel.
DIE FAMILIE LEYS
Bei der schon mehrfach genannten Familie Leys handelte es sich um
einen Familienverband, der, aus dem flämischen Landesteil kommend,
in der Kreuzstraße ein Haus erworben hatte und sesshaft geworden war.
Es war eine verwegene Sippe nach Zigeunerart, die sich mit Korbflech-
ten und Kesselflicken, aber vor allem vom Schrotthandel ernährte und
damit nach dem Kriege glänzende Geschäfte gemacht hat.
Trotz diesem nicht ganz standesgemäßen Hintergrund unterhielten
wir in den Kriegsjahren engen Kontakt zu dieser Familie, weil sie in Be-
zug auf ihre vaterländische Gesinnung und ihre Loyalität uns gegenüber
über jeden Verdacht erhaben war.
Ohne die Hilfe dieser wagemutigen Familie hätten wir viele Wi-
drigkeiten des Alltags nicht meistern können und ohne unsere „fetti-
gen“ Zuwendungen hätte Familie Leys wohl auch nur schwer überleben
können.
Auf die Leys konnten wir uns hundertprozentig verlassen und ihnen
bedingungslos vertrauen. Sie halfen uns bei der Bewirtschaftung des
Hofes und im Gegenzug wurden sie von uns mit Fleisch, Butter, Käse,
Milch und Eiern versorgt.
Nach dem Krieg trennten sich unsere Wege. Für die Leys brachen
nun wahrlich goldene Zeiten an, denn sie hatten jetzt alle Hände voll
zu tun. Eine Goldgräberzeit für Schrotthändler! Die Gewinne wurden
verzockt oder in flüssige, hochprozentige Kalorien umgesetzt.
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Eine Feuersbrunst zerstörte etwa 1950 das Wohnhaus der Familie
Leys bis auf die Grundmauern. Offensichtlich war die Familie nicht
versichert. Damit endete auch deren Familienverband. Sie verteilten
sich nun auf verschiedene Wohnungen im Eupener Land und wurden
„bürgerlich“. Das Grundstück in der Kreuzstraße erwarb das Ehepaar
Rene Schifflers und Agnes Charlier. Sie rissen die Bauruine ab und bau-
ten sich hier ein modernes Eigenheim.
DER HILFSGENDARM JOHANN HECK GENANNT HECKE
JENNES
Auch dieser verdient Erwähnung. Wie bereits gesagt, hat uns der all-
gemein als „Hecke Jennes“ bekannte Hilfsgendarm mit seiner nächt-
lichen Warnung vor der Hausdurchsuchung wahrscheinlich das Leben
gerettet.
Er war so etwas wie ein Dorforiginal, der dennoch über einen wachen
Verstand und über eine gesunde Portion Humor verfügte, und auch über
sich selber lachen konnte.
So erzählte man sich zum Beispiel, dass er nach dem Krieg selber
gesagt haben soll:
„Ich wusste ja, dass die Nazis blöd waren, aber dass sie so blöd wa-
ren, mich zum Gendarm zu machen, hätte selbst ich nicht für möglich
gehalten!‘
Trotzdem genoss er es sichtlich, als Amtsperson „Karriere“ gemacht
zu haben. Stets sah man ihn „wichtig“ mit seiner Aktentasche rumlau-
fen. bzw. mit seinem „Dienstfahrrad‘“ durch die Gegend radeln. Mit be-
sagter Aktentasche betrat er eines Tages eine Dorfgaststätte. wo er sich
von seinem anstrengenden Dienst erholen wollte. Er gesellte sich zu den
Gästen an der Theke und trank mit ihnen etliche Bierchen. Aber bald
drückte die Blase. Jennes begab sich zur Toilette und lies seine Aktenta-
sche unbeaufsichtigt am Fuße der Theke zurüek.
Klar, dass die Zechkumpanen die Gelegenheit nutzten, um einen
Blick hinein zu werfen, denn natürlich vermuteten sie darin hochbrisan-
te Akten; doch sie entdeckten in der Aktentasche lediglich eine große,
frische Speckseite.
Als Jennes erleichtert wieder zwischen seinen Kumpanen Platz ge-
nommen hatte, stieß einer von ihnen „versehentlich“ die Tasche mit
dem Fuss um. um sie sofort aufzuheben und von allen Seiten prüfend
zu betrachten. Dann reichte er die Tasche dem Hilfsgendarm Jennes mit
den Worten: „Hier Ihre Tasche - ich glaube, Ihre Akten bluten!‘“
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Die ganze Gesellschaft grölte vor Vergnügen und auch Hecke Jennes
lachte zum Glück mit. Bei anderen Nazi-Beamten hätte dieser Scherz
auch ins Konzentrationslager führen und so den Tod bedeuten können.
HAUTNAHER KRIEG
Der unvergessliche Osterdienstag des Jahres 1944.
Inzwischen war jedem klar, dass der Krieg, zumindest für unsere Ge-
gend, in die heiße Phase gekommen war. Seit Anfang des Jahres wurde
Aachen jede Nacht von Aufklärungsflugzeugen besucht, die auch gleich
einige „Bömbchen“ abwarfen. Drei dieser „Ostereier‘““ waren auch ein-
mal hinter dem Anwesen Kerres niedergegangen.
An jenem Osterdienstag - die Abendandacht in der Kirche war gerade »
zu Ende gegangen und die Männer trafen sich noch zu einem Gedan-
kenaustausch und Dämmerschoppen in einem der drei Dorfgasthöfe-,
als es plötzlich aus dem Radio tönte: „Achtung! Der Drahtfunk meldet
Bomber im Anflug auf Aachen!“
Der älteste Sohn der Familie Voss, die etwas außerhalb des Dorfes am
Ort Langmüs wohnte, war Arbeiter in einer Munitionsfabrik in Essen.
Er hatte Heimaturlaub und genoss mit den anderen Männern den öster-
lichen Dämmerschoppen, als im Radio die genannte Meldung durch-
gegeben wurde. Dies war nun für ihn Anlass genug, sich unmittelbar
darauf auf den Heimweg zu machen. Er war gerade bei sich zur Haus-
tür hereingekommen, als eine Luftmiene das Haus traf und es förmlich
auseinanderriss. Einen Brand gab es nicht. Aber mit einem Schlage war
eine fünfköpfige, unschuldige Familie ausgelöscht. Im Nachmittag hat-
te ich bei meiner Rückkehr aus Aachen die fünfjährige jüngste Tochter
noch fröhlich im Garten hüpfen sehen.
Die Leiche des ältesten Sohnes fand man später im Hausflur, wo-
gegen die übrigen Familienmitglieder ihren Tod im Keller fanden, wo
sie sich sicher wähnten. Ein nur 50 Meter entfernt stehender Schuppen
hingegen war unbeschädigt geblieben. Das Schicksal hatte jedoch be-
stimmt, dass alle Mitglieder dieser Familie hier, am Osterdienstag 1944,
um 22 Uhr, den Tod fanden!'.
Ich war mit Klein-Albert beim Dorfphotographen Wollgarten gewe-
sen.
Auf dem Heimweg begegnete ich einem Vetter meines Mannes,
Aloys Kerres von Gut Bockenhaag in Raeren. Er hatte en passant in
!_ S. dazu Alb. Creutz, Gedenksteine und Wegekreuze in Lontzen-Herbesthal-Walhorn,
Eupen 2010, S. 399-432.
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Walhorn die Abendandacht besucht und war jetzt auf dem Wege zu uns,
denn er wollte uns warnen.
Aus Vorstandskreisen des Bauernverbandes hatte er nämlich vernom-
men, dass man seitens der herrschenden Naziclique beschlossen hatte,
meinen Mann, der ja in Aachen einsaß, möglichst weit abzuschieben.
Alle, auch die Nazis, spürten, dass etwas in der Luft lag.
Die alliierte Landung in der Normandie stand unmittelbar bevor.
Also begannen viele der örtlichen Nazis ihr Mäntelchen zu wechseln.
Der Gerissenste von allen war der alte Landwirt K., der im Dorf ge-
genüber der Kirche einen Bauernhof und eine Gaststätte bewirtschaftete.
In dieser Osterdienstagnacht ging es heiß her. Es gab Abwehrfeuer
wie noch nie zuvor. Ich holte meinen Sohn Albert aus seinem Bettchen
und gemeinsam mit unserer Fremdarbeiterin Olena verbrachten wir die
Nacht im Kuhstall und zwar in der Futterkrippe, weil der Bau an die-
ser Stelle mit uns stabil erscheinenden Eisenpfeilern und Eisenträgern
versehen war. In den Keller wollte ich nicht, denn zu oft hatte ich in
Aachen mitansehen müssen, wie die in ihren Kellern Schutz suchenden
Menschen dort unter den Trümmern ihrer Häuser begraben wurden.
Tags drauf erfuhr ich zunächst vom furchtbaren Schicksal der Fami-
lie Vos.
Gleichzeitig vernahmen wir, dass ab nun im Nachbarort Raeren ein
Marine-Flackgeschütz seinen Dienst aufgenommen hatte. Das war bald
nicht mehr auszuhalten. Was bisher nur die Unzuversichtlichsten ta-
ten, nämlich in die Keller zu flüchten, musste nun jeder tun. Darum
beschloss ich mit meinen Leuten und der befreundeten Familie I.eys
von nun an im Eiskeller zu nächtigen. Bei jedem Voralarm vollzog sich
dann das gleiche Ritual, wobei jeder bald, selbst schlaftrunken, seine
Handgriffe beherrschte.
Albert‘s Wägelchen stand mit Decken versehen stets im Hausflur be-
reit.
Ich selber schlief ständig im praktischen „Blaumann“.
Sobald die erste Warnung gegeben wurde, kam Alfons, der Sohn von
Jannes Leys, uns durch Sturmgeläut an der Haustür wecken. Olena we-
cken. Albert schnappen, und ab ging die Post.
Das hatten wir so 10 Nächte lang gemacht, als wir zu dem Schluss
kamen, dass es so nicht weiter gehen konnte. So beschlossen wir, uns
diesen Eiskeller, der nach dem Ersten Weltkrieg von Waldemar Funken,
dem Betreiber einer kleinen Privatmolkerei, gebaut worden war, wohn-
licher zu gestalten, denn dieser Raum schien uns sicher und geeignet.
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Hinter der Eingangsfassade, die teilweise noch durch Erdanschüttung
geschützt war, befand sich noch eine zweite stabile Mauer und am Ende
des unterirdischen Raumes gab es eine Öffnung in der Decke, die man
gut als Notausstieg hätte nutzen können.
Wir bedeckten den kalten Boden mit einer 30 Zentimeter dicken
Strohschicht und bauten uns innerhalb des Raumes aus Strohballen
noch eine wärmende Hütte. Dort schliefen wir dann.“Löffelchen in Löf-
felchen‘“, um uns mit unserer Körperwärme noch zusätzlich gegenseitig
warm zu halten. So geschützt merkten wir bald nichts mehr von dem,
was sich draußen tat. Auch mein Schwiegervater und noch einige ande-
re Leute gesellten sich zu uns, wenn es besonders schlimm zu werden
drohte. .
Wir erlebten in dieser Zeit viele schwere Angriffe.
So z.B. auch den großen Angriff auf den Montzener Güterbahnhof,
den die Deutschen während des Ersten Weltkrieges gebaut hatten. Statt
diesen kriegswichtigen Nachschubbahnhof nun der Länge nach anzu-
greifen, flogen ihn die Allierten falsch an und bombardierten ihn leider
nur schräg bzw. quer.
Es gab in diesen Wochen enormes Leid wegen der vielen Toten.
Stumm wurde das Opfer von der Bevölkerung getragen. Diesen furcht-
baren Diktator Hitler los zu werden, sollte noch viele Opfer fordern. Wir
trauerten vor allem um die vollständig ausgelöschte Familie Voss, die
wie wir treue belgische Patrioten waren und nur in Frieden und Freiheit
leben wollten.
Wir beendeten unsere Nächte im Unterstand so gegen fünf Uhr in
der Früh. Während die Familie Leys in ihr Heim zurück kehrte, um dort
noch eine Mütze Schlaf zu nehmen, begann für uns der Arbeitstag mit
der Stallarbeit.
Bei einem der vielen nächtlichen Angriffe jener Zeit auf Aachen wur-
den dort auch ein Onkel und ein Tante von mir auf ihrem Bauernhof
tödlich verletzt. Die Burg Schönrath und die von meinen Verwandten
bewirtschafteten Okonomiegebäude wurden dem Erdboden gleich ge-
macht und zwar so gründlich, dass der über dieses Anwesen führende
Weg fortan 50 Zentimeter höher lag. Ja, das Leben ging einfach über die
Trümmer weiter.
Nach einem Angriff hing das zerfetzte Vieh teilweise in den umste-
henden Bäumen.
Wie hochmütig ragte aus dieser Todeslandschaft um Burg Schönrath
die mit Tierfiguren der stets kunst- und liebevoll geschnittenen Garten-
hecke als Zeichen trotzigen Lebens empor.
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Mit meinem Vater nahm ich Tage später in Richterich, wo eine der
Töchter auf dem dortigen Zehnthof wohnte, an der Beerdigung der bei-
den teil. Und gedachte voller Wehmut der schönen Zeiten, die ich in den
Schulferien bei dieser Familie verbringen durfte. Doch trotz all“ dieser
Leiden lautete die Parole: „Nur nicht aufgeben!“
Entsprechend handelte auch mein Mann im Gefängnis, als er kurz
nach Ostern mit einem Gefangenentransport nach Wittlich zur Acker-
arbeit verlegt werden sollte. Ein Befehl, der ihn sehr beunruhigte, denn
dort hätte er keinen Kontakt mehr mit mir haben können.
In der Reihe der zum Abtransport angetretenen Gefangenen ließ er
sich zunächst immer mehr nach hinten fallen, bis er schließlich doch
erfasst werden sollte.
„Ich kann nur Kühe melken, von Ackerbewirtschaftung verstehe ich
nichts“, sagte er in letzter Minute dem Aufseher. Der akzeptierte das
Argument und ließ ihn zurück.
“Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, kann ich da nur sagen!
So wurde er nun dem Rittergut Kalkofen zugeteilt, dessen Chef Zur-
helle ihn tagtäglich um 8 Uhr am Gefängnis abholen kam. Auf dem Rit-
tergut musste er sich hauptsächlich um die zweimal täglich anfallende
Stallarbeit kümmern. Gegen 17 Uhr wurde er dann wieder in den “Bau“‘
zurückgebracht. Beim anschließenden „Essen fassen“ konnte er seine
Ration dem Mitgefangenen geben, denn er hatte sich auf dem Bauern-
hof schon satt gegessen.
Am Tage nach dem dramatischen Osterdienstag machte ich mich auf
den Weg zu meinem Mann. Im Gefängnis erfuhr ich, dass mein Mann
zum Dienst auf dem Rittergut Kalkofen verpflichtet worden war. Das
war für uns beide eine gute Entwicklung. Josef hatte dort viele Frei-
heiten und konnte sinnvoll in seinem Beruf arbeiten. Und für mich war
die Kontaktaufnahme mit meinem Mann nun wesentlich angenehmer
geworden. Dort ging ich ihn nun jede Woche heimlich besuchen, um
ihn mit Lebensmitteln und den neuesten Meldungen von Radio London
zu versorgen — was eigentlich auch schon wieder lebensgefährlich war.
Jede Woche wählte ich einen anderen Reisetag und auch eine an-
dere Reiseroute. So gelang es mir, ihm immer wieder etwas von dem
verschwundenen Schwein mitzubringen. Nur ihm verriet ich mei-
nen nächsten Besuchstermin und er konnte sich voll darauf verlassen,
dass ich zum vereinbarten Termin auch erscheinen würde, selbst wenn
ich mich verspäten sollte, wenn ich z.B. manchmal durch meterhohe
Schneewehen stapfen musste.
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Auch wenn ich von Astenet aus den Zug benutzte, konnte es passie-
ren, dass ich auf der nur 10 km langen Strecke manchmal stundenlang
festsaß, wenn unterwegs Bombenräumkommandos im Einsatz waren.
Manchmal war auch tagsüber Bombenalarm und man stand dann oft
Stunden in einem Bahnhof oder an einer Haltestelle der Kleinbahn.
Manchmal wurden die Züge auch umständlich über Bleyberg zum Aa-
chener Westbahnhof umdirigiert. Und der Weg zum Rittergut Kalkofen
musste ja auch noch bewältigt werden.
Jedesmal zog ich um 7 Uhr in der Frühe zu Fuß oder per Fahrrad mit
einer Tasche mit Eingemachtem los. Trotz der ständigen Angst wegen
möglicher Kontrollen! Manchmal wurden morgens Fallschirmspringer
gesucht, die in der Nacht gelandet waren. Zu diesem Zeitpunkt war die *
Stallarbeit längst erledigt und zur Vorsicht hatte ich den guten Jannes
Leys gebeten, sich abends um das Vieh zu kümmern, falls ich nicht
rechtzeitig wieder zuhause sein könnte. Auf diesen Mann konnte ich
mich in diesen schlimmen Zeiten wahrlich bedingungslos verlassen.
In Aachen angekommen war mein erster Weg immer zum Gerichts-
gebäude, um Anfragen zu stellen oder dem Untersuchungsrichter meine
Märchen aufzutischen. Da musste vom kleinsten Schreiberling bis zum
höchsten Beamten immer wieder tüchtig geschmiert werden, Hatte ich
aber unseren Anwalt in der Stadt aufzusuchen, stand ich mehrere Male
vor einem Trümmerhaufen, wenn es zwischenzeitlich einen Angriff ge-
geben hatte. Dann musste ich mich auf die Suche machen, ob er über-
lebt hatte und wo er jetzt wohl zu finden sei.
Mir ist mehrmals passiert, dass vor oder hinter mir Blindgänger hoch
gingen. Sehr oft musste ich mit ansehen, wie Leichen oder Verletzte aus
den Trümmern geborgen wurden. Damals schwor ich mir, niemals in
einer Stadt zu wohnen.
Vom Gerichtsgebäude ging ich an der Josefskirche vorbei, wo wo- -
chenlang ein riesiger Blindgänger lag, in Richtung Jülicher Straße bis
kurz vor der Waggonfabrik Talbot, neben der sich das Rittergut Kalk-
ofen befand.
Einmal dort angekommen, erfuhr ich, dass eine Arbeitskolonne in
Richtung Wittlich zusammengestellt worden war, zu der auch mein
Mann gehörte. Das bedeutete „Höchste Alarmstufe‘! Meinem Schwie-
gervater sagte ich nach meiner Rückkehr: „Wenn Sie Josef noch einmal
sprechen wollen, dann jetzt nichts wie hin!“
Ich selber bin anderntags gleich wieder mit Schmierpaketen nach
Aachen gefahren. Zunächst zur Privatwohnung des Gefängnisdirektors,
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dann zum Gefängnispförtner, dann zu allen Beamten, die ich noch von
der dreimonatigen Untersuchungshaft meines Mannes her beim Namen
kannte. Ich ging zum Richter und zum Rechtsanwalt, selbst die Vorzim-
merdamen mussten geschmiert werden. Alle wollten sie fettige Finger
haben.
Zwei Versuche unseres Anwaltes, meinen Mann für einen Landwirt-
schaftsurlaub frei zu bekommen, waren schon gescheitert. Außerdem
muss man wissen, dass schon zwei Anwälte, kaum dass sie sich in den
Fall eingelesen hatten, zur Wehrmacht eingezogen worden waren. Au-
ßerdem: Warum sollten sich diese Leute für mich, eine Ausländerin,
einsetzen und eventuell riskieren, bei den Nazis aufzufallen ?
Oft genug benutzte ich deshalb nur deren Name, um an anderer Stelle
Eindruck zu machen. Mein Mann war längst mutlos geworden, doch ich
ließ nicht locker. Ich wollte ihn, zumindest vorübergehend frei bekom-
men. Die bevorstehende Heuernte war eines der von mir vorgetragenen
Argumente. Gleich mehrfach besuchte ich alleinstehende Bäuerinnen
und bat sie, mir zu bestätigen, dass mein Mann ihnen bei der Arbeit
geholfen habe und seine Hilfe zur bevorstehenden Heuernte auch in
diesem Jahr wieder dringend benötigt würde.
Beim Untersuchungsrichter bekam ich dann zu hören, dass diese
Schreiben noch von -zig Stellen gegengezeichnet werden müssten.
Die letzte Stelle, zu der ich zu gehen hatte, war der Oberkreisbauern-
führer.
Er ließ mich zunächst einmal Stunden lang warten.
Als er dann kurz vor Feierabend, nunmehr alleine, „erstaunt“ fest-
stellte, dass ich immer noch da war. bat er mich hereinzukommen und
ließ mich noch einmal mein Jammer-Verslein aufsagen, doch seine Un-
terschrift bekam ich nicht. Letztlich komplimentierte er mich mit fol-
genden väterlichen Worten hinaus:
„Liebe Frau, ihr Mann kommt nicht frei, denn es spricht zu vieles
dagegen!“
Diesen Parteibonzen wagte ich natürlich nicht zu schmieren.
Beim Untersuchungsrichter sagte ich dann, ich hätte diesen Mann
nicht erreichen können, denn schließlich hatten keine Zeugen diese Be-
gegnung miterlebt.
Hier möchte ich einflechten, dass ich mit der Zeit eine gewisse Rou-
tine im Umgang mit all diesen Leuten erreichte. Schließlich putzte ich
nun schon seit sieben Monaten deren Klinken. Beim Betreten eines Bü-
ros habe ich nie, wie es eigentlich Pflicht war, „Heil Hitler“ gesagt,
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sondern immer nur „Entschuldigen Sie bitte!“ Ich erinnere mich vor al-
lem an einen Sekretär namens Evers, der mir viel Verständnis entgegen
brachte und der mir auch schon mal eine Tasse „Muckefuck“ anbot. Im
Gegensatz zu den Parteibonzen haben mich in Aachen eigentlich alle
stets einwandfrei und höflich behandelt und wunderten sich, wenn ich
schon morgens in ihrer Dienststelle war. „Wann stehen Sie eigentlich
auf?‘ war nicht selten deren Reaktion.
Allmählich ging es nun auf Pfingsten zu.
Albert, der Sohn meines Onkels Karl Wintgens, kam Ende Mai auf
Fronturlaub zu uns, aber er war nicht bereit, mit uns die Nächte im Eis-
keller zu verbringen. Halb scherzhaft, halb aber auch ernst gemeint sag-
te er: j
„Wenn ich etwas abkriege, brauche ich nicht mehr an die Front.“
Er war übrigens zur Panzer-SS eingezogen worden. Schwarze Toten-
kopf-Uniform! Furchtbar!
Gemeinsam wollten wir eigentlich am Pfingstdienstag mit Klein-Al-
bert per Fahrrad zu meinem Mann. Die Nacht zuvor war jedoch fürch-
terlich gewesen, denn es wurden gleich zwei Angriffe auf Aachen geflo-
gen und es dauerte nicht lange, bis auch mein Schwiegervater und der
Panzersoldat bei uns im Eiskeller auftauchten.
„So etwas habe ich nicht einmal an der Front erlebt‘, kommentierte
Albert am Morgen die vergangene Nacht.
Trotzdem hatte auch seine Familie bereits Schlimmeres erleben müs-
sen.
Bevor seine Eltern beide als Köche einer Werkskantine nach Berlin
dienstverpflichtet wurden, besaßen sie in Aachen am Karlsgraben, ge-
genüber dem Bärenhof der Degraa-Brauerei. ein großes Mietshaus und
betrieben im Erdgeschoss eine Gaststätte.
Ihr Haus war schon im ersten Kriegsjahr völlig zerstört worden.
Nachdem, außer den Steinen, alles Brennbare ein Raub der Flammen
geworden war, ragten nur noch die damals üblichen schweren Küchen-
herde aus dem Schutt. Vierzehn an der Zahl, denn so viele Wohnungen
hatte das Haus vor dem Angriff.
Albert Wintgens studierte zu diesem Zeitpunkt in Düsseldorf und mit
der Aushändigung seiner Abiturbescheinigung erhielt er an seinem 18.
Geburtstag auch gleich seine Dienstverpflichtung zum Arbeitsjahr. Un-
mittelbar daran schloss sich dann der Dienst an der Waffe an.
Nun, nach dieser schrecklichen Nacht, fuhren wir letztlich doch ohne
Klein-Albert nach Aachen. Ein Glück, dass wir es uns anders überlegt
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hatten, denn es wurde eine Reise durch einen Hexenkessel. Manchmal
war es nämlich so, dass trotz des nächtlichen Infernos auch noch am
Tage Angriffe geflogen wurden, um zu erledigen, was nachts verschont
oder übersehen worden war.
Auch das schöne Rittergut Kalkofen war diesmal nicht verschont ge-
blieben. Nun hingen auch dort die Kühe in den Bäumen.
Abgesehen vom Turm, worin sich die Menschen zurückgezogen hat-
ten, war alles zerstört worden. Im Radio schwafelte dann tags drauf
das Führerhauptquartier davon, dass da und dort diese und jene Vergel-
tungsangriffe geflogen worden seien.
Letztlich ertrugen die Menschen das ganze Leid in der Hoffnung,
dass durch diese Angriffsflüge der Krieg verkürzt werde. Zur Unter-
stützung sabotierten vor Ort die meisten Menschen eigentlich alles und
jedes. Nur: laut denken, durfte man dies nicht einmal !
Wenn die Geschwader am Tage kamen, konnte man genau beobach-
ten, wie die ‚Jäger die Bomber in Gefechte zu verwickeln suchten. Wenn
dann einer der beiden oder auch beide schließlich abstürzten, dann hieß
es: „Kopf einziehen!“
Wurde so ein Bomber von einem Jäger angegriffen, so versuchte er
natürlich zu entkommen und um seine Fracht nicht wieder mit nach
England nehmen zu müssen, warf er alles wahllos auf einmal ab. Man
wird sich vorstellen können, wie es dort dann aussah, wo diese Fracht
niederging.
ZWEI FANTASTISCHE NACHRICHTEN
Letztlich haben alle mir doch geholfen, denn in der darauf folgenden
Woche erhielt ich am 6. Juni durch unseren Rechtsanwalt auf einmal
die Nachricht, dass mein Mann für drei Wochen beurlaubt worden sei.
Diese Nachricht traf genau am Tage der alliierten Landung in der
Normandie ein!
Was für ein Glückstag!
Nur ich alleine kann ermessen, was für ein Erfolg der strafunterbre-
chende Urlaub eigentlich war, denn vom Gefängnis aus, als Gefangener,
konnte man nichts in dieser Richtung unternehmen. Innerhalb der Ge-
fängnismauern sagte man:
„Die armen Seelen wissen, wann sie erlöst werden; hier aber ist nichts
gewiss.“ Als Insasse stellte man sich voller Ungeduld immer wieder die
Frage: „Tun die da draußen eigentlich nichts für uns?“ Wer wusste dies
besser als ich? Hatte ich doch selbst dort meine Zeit abgesessen.
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Den glücklichen Tag der alliierten Landung habe ich im Detail wie
folgt erlebt.
Wie gewohnt schaltete ich vor 7 Uhr das Radio an, um den engli-
schen Nachrichten zu lauschen. Es war dies die beste Zeit, um nicht von
unerwünschten Zuhörern und Zeugen überrascht zu werden. Ansonsten
musste man schon im Kleiderschrank oder unter der Bettdecke diese
; Sendung verfolgen, oder man musste über eine vertrauenswürdige Per-
son verfügen, die zur gleichen Zeit Schmiere stand.
Gierig lauschte man in den Apparat hinein, um nur ja nichts zu ver-
passen und in der Hoffnung, endlich mal eine positive Nachricht zu
hören.
„ Heute morgen um 6 Uhr sind die alliierten Streitkräfte in der Nor- ”
mandie gelandet“
Das war endlich die Nachricht, auf die wir so lange gewartet hatten!
Nie zuvor und nie wieder danach hat mir das Radio solche Sphären-
musik übermitteln können.
Diese Nachricht haute mich um.
Worauf man Monate, ja Jahre gewartet hatte, war nun endlich Wirk-
lichkeit geworden. Doch in diesem Augenblick dachte ich auch darü-
ber nach, was uns zwischen diesem Tag und dem Ende des Krieges
noch erwarten würde. Wie viele Soldaten und auch Zivilisten hatten
jetzt noch zu sterben? Das war der nächste Gedanke, der mir durch den
Kopf schoss.
Doch dann, das Radio ausgeschaltet und (überlebenswichtig!) die
Skala verstellt und wie ein Blitz zu unserem vertrauenswürdigen Nach-
bar Leys. Ausgerechnet heute hatte die Familie verschlafen und man är-
gerte sieh, teils noch ungläubig, diese sensationelle Nachricht verpasst
zu haben. Die nächsten Nachrichten kamen um 8 Uhr. Jetzt hatte auch
Jannes Leys die freudige Nachricht vernommen und er kam freude-
strahlend zu uns und wir beendeten gemeinsam die schon von mir vor
7 Uhr begonnene Stallarbeit. Dann gab es für mich nur noch eins: Ab
nach Aachen !
In Aachen angekommen, begrüßte ich freudestrahlend meinen Mann
mit den zwei sensationellen Nachrichten :
„Du kriegst drei Wochen Urlaub‘! „Was, nur drei Wochen?“ war sei-
ne Reaktion! Aber ich wusste, war er erst einmal draußen, dann würde
es mir auch gelingen, Verlängerungen genehmigt zu bekommen. Dann:
„Die alliierten Truppen sind in der Normandie gelandet!‘
Diese Nachricht haute ihn nun aber um.
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Er gleich zu seinem Chef, einem absolut zuverlässigen Mann mit auf-
gesetzter Nazi-Maske.
Ungläubig drehte der sich um, um seinerseits durch eigene Quellen
diese Nachricht bestätigt zu bekommen. Zurückgekehrt sagte er:
„Wenn die heute Abend noch auf dem Kontinent sind, dann ist der
Krieg verloren und unsere Wunderwaffe, die VI und die V2 der Nazis
im Eimer!“
Kurze Zeit später räumte die Familie Zurhelle in Aachen die Stellung
und verzog zu ihrem Gut in Ostpreußen.
Wie haarscharf wir an der Vernichtung vorbei gekommen sind, wis-
sen nur jene, die für das Gute gekämpft und gelitten haben. Richtig er-
messen können wir das erst heute, jetzt, wo immer noch neue Tatsachen
offenbar werden.
Für meinen Mann begann dann endlich der lang ersehnte Hafturlaub.
Doch diese drei Wochen gingen viel zu schnell vorüber. Also muss-
ten wir wieder mit „fettigen‘“ Paketen, Bescheinigungen und neuen Un-
terschriften unzählige Klinken putzen, um Urlaubsverlängerungen zu
erwirken. Dieses Schmiersystem brachte uns zweimal einen ganzen
Monat Verlängerung und beim dritten Mal, mit dem Hinweis auf die
bevorstehende Rübenernte (!), sogar gleich eine dreimonatige Verlän-
gerung - also bis Allerheiligen.
Mein Mann war also gerade wieder einige Tage auf seinem Hof,.
als eine kontrollierende „Obrigkeit“ namens Cormann aus Lontzen fest-
stellte, dass wir eine Russin beschäftigten.
Kurz darauf kam der Ortsbauernführer Jean S. mit der Absicht, sich
unsere Olena für die Arbeit auf seinem Hof zu holen, denn seine beiden
Söhne waren zu diesem Zeitpunkt an der Front. Der Älteste, so alt wie
mein Mann, ist später gefallen.
Man kann sich vorstellen, wie erstaunt der war, meinen Mann auf sei-
nem Hof anzutreffen. Betreten sagte er: „Ja. davon wusste ich nichts.“
Darauf mein Mann: „Du siehst ja. ich bin da“! ..Eins zu Null für meine
Leute am Gericht!“ Unverrichteter Dinge zog er vorerst wieder davon.
Etwa drei Monate vor Ankunft der Amerikaner wurde Olena uns
dann doch mit Unterstützung des Ortsbauernführers von Lontzen von
Jean S. abgenommen.
Nirgends waren die „deutschorientierten‘“ Leute übrigens so fana-
tisch und so hinterlistig wie in unserem Dorf- selbst in Aachen nicht.
Dort wurde sogar darüber geschimpft, wie fanatisch man in unserer
Gegend sei. Bei den üblichen Sammlungen, zum Beispiel, gaben viele
60
Aachener nur das kleinste Geldstück. So manifestierten sie ihre Form
der Sabotage.
Wir spendeten demonstrativ nichts.
„Nach dem Kriege werdet ihr gewogen!‘ drohten uns dafür die Par-
teifunktionäre.
Der fanatischste von allen war der alte Herr K., wegen seiner schmu-
cken Parteiuniform auch „Goldfasan‘ genannt. Derselbe hatte schon im
Ersten Weltkrieg all seine List und Tücke spielen lassen und sein Män-
telchen stets nach dem Wind gehängt. Er war es auch, der zum Orts-
bauernführer Stickelmann gesagt hatte: „Wenn Du den Janclaes nicht
anzeigst, dann zeige ich Dich an!“
Damit hatte das Drama bezüglich der Sehwarzschlachterei seinen”
Anfang genommen. Unser Nachbar, der Bauer Josef F., ein Freund und
Sangesbruder meines Mannes, hatte nämlich arglos in der Gaststätte
des K. erzählt, dass er und sein Pflichtjahrmädchen anlässlich eines
Besuches bei uns im Stall zwei Schweine gesehen habe. Ein anderer
Schwätzer wusste daraufhin zu berichten, dass wir aber keine Schweine
angemeldet hätten.
Dies bekam der Wirt K. mit, der daraufhin den Ortsbauernführer S.
erpresste uns anzuzeigen. Ein weiterer gefährlicher Parteibonze war
Ludwig L. aus Astenet. All diese Parteikarrieristen waren auf der Jagd
nach einflussreichen Nachkriegspöstchen.
Nun, mein Mann war also jetzt wieder der Herr auf seinem Hof.
Er war aber nicht dazu bereit, die Nächte im Eiskeller zu verbringen
und beschloss im eigenen Keller für einen sicheren Unterstand zu sor-
gen. Dazu baute er vom Keller aus, unterhalb der rückwärtigen Haustür,
einen Kellerausgang und zog oberhalb des kleinen Raumes, der sich
zwischen der Außenwand und der massiv gebauten Kellertreppe be-
fand, eine mit Drahtbeton verstärkte zusätzliche Decke ein. Nach der
Deckenverstärkung statteten wir den Raum mit Schlafgelegenheiten aus
und konnten nun den Ereignissen recht gelassen entgegen sehen.
Die Wertsachen, Dokumente, Waffen und Ersatzwäsche hatten wir
übrigens schon bei Kriegsbeginn in hermetisch verschließbare Milch-
kannen deponiert, die wir im Boden des Schuppens eingegraben hatten
Wenn nun der Drahtfunk wieder einen Anflug der Bomber auf Aa-
chen meldete, dann hieß dies für uns: ab in den Keller. Die Hektik jener
Wochen fuhr uns alle in die Glieder. Selbst Klein-Albert plärrte bereits
beim ersten Alarmton den damals geläufigen Begriff „Voralarm“. Es
war einfach rührend !
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Manchmal wurde auch Voralarm und Großalarm in einem gege-
ben, dann waren die Bomber auch schon gleich über uns. Allerhöchste
Alarmstufe bedeutete es, wenn das zu bombardierende Gebiet von der
Vorhut mit den sogenannten „Christbäumen““ markiert und ausgeleuch-
tet worden war. Innerhalb dieses Gebietes blieb dann bald kein Stein
mehr auf dem anderen.
Das Warten auf unseren „Victory-Day“ wurde uns in den Kriegsjah-
ren durch die (an sich lebensgefährlichen !) Nachrichten-Sendungen
des BBC LONDON einigermaßen erträglich gemacht. Der unverges-
sene BBC-Sprecher Lindsey Fraser versorgte uns gut, ehrlich und ob-
jektiv in deutscher Sprache zur wirklichen Lage an den Fronten. Dann
gab es da noch die Sendung von J. R. von Salis aus der Schweiz. Beide
Sendungen haben wir nie versäumt.
Die Zusammenfassung des Wochenberichtes der Wehrmacht wurde
vom Propagandaministerium des Dr. Goebbels ins Funkhaus übermit-
telt. Dabei müssen diese vom englischen Geheimdienst abgefangen
worden sein, denn bereits zwei Stunden vor der Veröffentlichung durch
den Großdeutschen Rundfunk wurden diese Wehrmachtsberichte durch
die freien Sender glossiert.
Ein anderer Bericht der Alliierten wurde in Form eines Briefes des
„Gefreiten Adolf‘ an die Daheimgebliebenen von der Front in Frank-
reich gesendet. So etwa im Stil der heute vom Fernsehen her bekannten
„Tegtmeier-Reportagen“ wurden diese fiktiven Briefe im Radio verle-
sen.
Schon lange war es her, dass für Europa die Lichter ausgegangen
waren. Dies ist sogar wörtlich zu nehmen, denn es herrschte Verdunke-
lungszwang. Wenn unbedingt Licht gemacht werden musste, dann nur
Blaulicht, denn alle Glühbirnen waren blau gefärbt. Die Lampen der
Autos verbreiteten nur durch einen etwa 7 Millimeter hohen Schlitz et-
was Licht auf die Fahrbahn. An den Fensterläden waren zusätzlich an
den Rändern Papierstreifen angebracht, damit nur ja kein Lichtstrahl
nach außen dringen konnte.
Die Amis waren also endlich in der Normandie gelandet.
Jetzt konnten wir hoffen, dass die Lichter zu Weihnachten wieder für
uns leuchten würden.
An einem Sonntag im Herbst 1944 hieß es plötzlich, die Amerikaner
sind in Verviers angekommen. Montags stand hier am Steinkreuz ge-
genüber unserem Haus ein deutscher Soldat auf Wache. Gegen Mittag
riefen wir ihn herein und luden ihn zum Essen ein. Beiläufig fragten wir
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ihn, ob er denn eine Ahnung habe, wo die Amerikaner jetzt stünden. Er
breitete eine Karte aus und deutete auf Baelen. „Sie müssen aber keine
Angst haben“, meinte er. Wenn der gewusst hätte, wie wir innerlich ju-
bilierten!
In der Woche zuvor war es hier ziemlich hektisch zugegangen.
Eines Nachts z. B. wollten deutsche Soldaten unser Pferd einfangen.
Hinter den Vorhängen grinsend beobachteten wir ihren vergeblichen Ver-
such. Die Deutschen begannen nämlich, sich zu Fuß oder mit ihren Fahr-
zeugen in Richtung Aachen zu verziehen. Dafür nahmen nun SS-Soldaten
hier Quartier, obwohl ihre Bonzen schon längst verschwunden waren.
Ihr Auftrag lautete: Altbelgier und Antinazis zu verschleppen.
Von diesen Parteisoldaten kam der Befehl: .
„Morgen früh mit Pferd, Wagen, Gepäck und Vieh im Dorf zusam-
men kommen!“
Mein Mann sagte:
„Dazu müssen Sie das Vieh schon selber holen oder hier erschießen!‘
Gleich nach dem 18-Tage-Feldzug hatte er zu mir gesagt:
„ Ich gehe nicht auf die Straße, denn ich habe das unbeschreibliche
Elend der Trecks zu Kriegsbeginn im Landesinnern zur Genüge kennen
gelernt!“
Nie und nimmer sollte man flüchten, hatte er sich damals vorgenom-
men.
Der Einzige, der sich am anderen Morgen mit seinem Vieh im Dorf
einfand, war Hubert P., auch so ein begeisterter „deutschfreundlicher“
Zeitgenosse. Ihn haben schließlich die anderen Bauern des Dorfes wie-
der nach Hause geschickt.
Für meinen Mann war es trotzdem wieder einmal brenzlich gewor-
den.
Erst versteckte er sich in Baelen, dann nachts auf dem Walhorner
Feld bei den „Drei Tannen“. Zuletzt auf unserem Heuboden. Die Vorhut
der Amerikaner war nämlich nicht weniger gefährlich, Doppelrumpf-
Flugzeuge “hüpften‘“ über unsere Dächer und feuerten auf alles, was
sich bewegte. Wir waren in diesen Tagen meistens im Keller.
Am Dienstag sagte mein Mann gegen 13 Uhr zu mir, ich solle nun
mit unserem Sohn zur Wiesenzisterne gehen, wo auch ausreichend Es-
sensreserven eingelagert waren. Die Familie Leys hatte sich dort schon
seit dem frühen Morgen einquartiert.
Kurze Zeit später bezogen deutsche Soldaten unser Haus und brach-
ten im Dachfenster ein Maschinengewehr in Stellung. Massen zurück-
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flutender deutscher Soldaten kamen aus Richtung Eupen in unser Dorf.
Sehr bald war das Haus mit Fahrzeugen umstellt und als schließlich
noch die Straße mit Panzern verstopft war, kamen die amerikanischen
Doppelrumpf-Flugzeuge und bombten alles nieder.
Die Deutschen kamen deshalb nicht vorwärts, weil ihnen der Rück-
weg an der Ecke Ketteniser und Kreuzstraße versperrt worden war. Die
Amerikaner waren nämlich nicht von Baelen aus über Eupen nach Wal-
horn gekommen, sondern hatten Eupen umfahren und den Weg über
Herbesthal-Baum und Rabotrath nach Walhorn eingeschlagen.
An der Ecke des Feickens-Hofes, schräg gegenüber dem heutigen
Wohnhaus meines Sohnes, stand ein deutscher Soldat, der von dort mit
einer Panzerfaust einen US-Panzer getroffen hatte. Der nachfolgende
Panzer stoppte und drehte seine Kanone in Richtung Haus Feickens.
Nur der Geistesgegenwart des Dienstmädchens Traudchen ist es zu ver-
danken, dass das Haus Feickens letztlich doch verschont blieb, denn
Traudchen hatte eiligst ein weißes Bettlaken aus dem Fenster gehängt.
Um 17 Uhr hatten die Amerikaner den höchsten Punkt von Walhorn,
den Johberg, in ihrer Hand.
Nun machten sie mit ihrem Vormarsch Pause.
Bei meinen Eltern in Rabotrath wurde, wie wir später erfuhren, zu
diesem Zeitpunkt bereits tüchtig gefeiert. Für uns aber war nun die
Melkzeit gekommen.
Gott, was hatte ich eine Angst - und das Vieh auch.
Nach der Stallarbeit ging mein Mann vorsichtig bis zum Ortsrand.
Ruhig war es dort aber nicht. Vereinzelt waren noch Schüsse zu hören.
Noch am anderen Morgen „befeuerten‘“ die Deutschen ganz ordentlich
unser Dorf. Bis wenige hundert Meter vor unserem Haus schlugen den
ganzen Tag über die Granaten ein. An diesem Tag fanden drei Mitbürger
den Tod. Einmal Gerhard Aussems, der unbedingt nach dem Heu auf
seinem Feld sehen wollte, dann traf es Frau Arets auf ihrem Fahrrad in
Astenet und schließlich den Herrn Wollgarten vor seinem Haus. Des
weiteren gab es Einschläge in den Kirchenfenstern und in verschiede-
nen Häusern. Schließlich säuberten die großen US-Sherman-Panzer den
Ort vom letzten Widerstand. Dann gab es endlich Candy und am Abend
sah man schon schicke Dämchen durch den Ort flanieren.
Die Amis setzten sich nun im Dorf und in der Umgebung fest. Ihre
Hauptbeschäftigung bestand zunächst darin, in den Wiesen Depots an-
zulegen. Allmählich entstand eine gut funktionierende Etappe und wir
begannen, uns auf die Nachkriegszeit einzustellen.
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DIE BEFREIUNG
Wie bereits beschrieben, hatte man uns unsere Perle Olena abgenom-
men. Aber an der Anwesenheit meines Mannes auf seinem Hof hatten
auch die Nazis nichts ändern können, denn meinem Mann war ganz of-
fiziell ein Hafturlaub bis Allerheiligen gewährt worden. Eine Rückkehr
zum Adalbertsteinweg war für uns deshalb ausgeschlossen, weil wir bis
dahin fest mit dem Eintreffen der Amerikaner und der Befreiung von
den Nazis rechneten.
Am Tage der Ankunft der Amerikaner schlug auch für Olena die
Stunde der Befreiung. Niemand war mehr da, der sie hätte zwingen kön-
nen, noch auf dem Hof Stickelmann zu bleiben. Am Abend kam sie zu
uns und blieb. Ab jetzt wurde sie angemessen für ihren Arbeitseinsatz
bezahlt und bald kleidete sie sich gar eleganter als unsere Damenwelt.
Im Herbst 1945 tauchte plötzlich ein russischer Kommissar auf der
Gemeindeverwaltung auf, der ultimativ verlangte, dass sich alle Russen
binnen einer Stunde vor dem Gemeindehaus zu versammeln hätten. An-
dernfalls würden sie erschossen.
Mein Mann, der zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit dem späteren
Bürgermeister Josef Goka die Geschicke der Gemeinde verwaltete,
sagte dem russischen Kommissar, dass dies in der vorgegebenen Zeit
wegen der Größe der Gemeinde nicht zu schaffen sei. „Gut, dann in
zwei Stunden“, lautete seine ernstzunehmende Erwiderung. Tatsächlich
trafen dann auch alle Walhorner Russinnen vor dem Gemeindehaus ein.
Ausser Maria, die sehr große Angst hatte, waren alle Mädchen froh, ihre
Heimat wiederzusehen. Unserer Olena hatten wir für die Reise einen
Sack voller Textilien und Geld gegeben. Beim Abschied schworen alle
bald wiederzukommen. Dann ging es ab, zur Sammelstelle nach Eupen,
von wo aus es am nächsten Morgen per Eisenbahn nach Russland gehen
sollte. Bevor es jedoch losging, rechnete der Kommissar noch einmal
die Habseligkeilen der Mädchen nach und stellte fest, dass das Mäd-
chen des Bauern Kerres zu wenig bekommen hatte. Mit vorgehaltenem
Revolver wurde Kerres zu weiterer Herausgabe von Geld gezwungen.
Dies geschah gegen 16 Uhr.
Nach seiner Rückkehr molk mein Mann die Kühe und begab sich
bald danach erneut nach Eupen, um nach dem Rechten zu sehen. Da gab
es dann schon welche, die ihn baten:
„Nimm uns wieder hier raus und versteck uns!“
„Gib dem Kommandanten eine Flasche Cognac, dann schaut der
schon weg!“
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Aber die Aufpasser folgten unerbittlich seiner Order.
Am anderen Tag verließ der Zug Eupen über Herbesthal und Astenet
in Richtung Aachen.
Olena warf in Astenet eine an uns gerichtete Karte aus dem Zug, die
uns auch erreichte.
Nach etwa einem Monat kam der einzige männliche hier dienstver-
pflichtete Russe zurück.
Er berichtete, dass ihnen an der Grenze zur russischen Zone alles
abgenommen worden sei.
Ihm sei bedeutet worden, dass er Soldat zu werden habe und auch
den Mädchen sei klar geworden, dass sie in anderer Richtung als ihre
Heimat verfrachtet werden sollten.
Beim Aufbruch hatten ihn die Mädchen angefleht, er möge sie doch
mitnehmen.
Da wurde auch uns klar, dass es unvorstellbar sei, dass diese aufge-
kratzten Mädchen nochmals unter ihresgleichen hätten zufrieden leben
können.
Laut einem polnischen Mädchen, welches anschließend einige Mo-
nate bei uns arbeitete und im Schriftverkehr mit ihrer Mutter stand, sei-
en alle in ein sibirisches Bergwerk gekommen und hätten ihre Heimat
nicht wiedergesehen.
Als Olena kam, war sie gerade 23 Jahre alt. Nicht ganz zwei Jahre ist
sie bei uns geblieben. In dieser Zeit sorgte sie gewissenhaft für meinen
Sohn. Wenn sie Kartoffeln schälte, saß der Kleine immer dabei und aß
rohe Kartoffelstückchen. Das war stets lustig anzusehen.
DIE AMIS
Als ich die ersten Amis sah, kam es mir vor, als sähe ich Menschen
aus einer anderen Welt. So lange Beine! So große schlanke und athle-
tische Menschen gibt es hier heute noch nicht. Es waren schöne Men-
schen mit vornehmen Gesichtszügen. Besonders bei den Kanadiern
fand man ausschließlich große Menschen. Herrliche blonde, nordische
Typen. Unter ihnen gab es auch zahlreiche deutsche Auswanderer.
Nur bei den Armeeangehörigen aus den amerikanischen Südstaaten
fand man auch schon mal kleinere Menschen, außerdem Mischlinge,
Russen, Mongolen, Chinesen und Juden. Viele dieser Soldaten sahen
bei uns den ersten Schnee in ihrem Leben.
Ein Mexikaner z.B. war direkt klein aber ewig lustig. Sein Name
war „Chiplay“. Er war uns besonders ans Herz gewachsen. Einer war
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dabei, der fließend französisch sprach. Sein Name: Maurice Duchene,
ein französischer Einwanderer. Von ihm erfuhr ich zunächst alles Wis-
senswerte. ‘Er diente uns als Dolmetscher, bis auch wir soviel Englisch
beherrschten, um uns direkt mit den Amis zu verständigen.
Wir erfuhren recht bald, dass das Basket-Ballspiel ihr Lieblingssport
war. Überall und wann immer sie hinter der Front etwas Zeit hatten,
wurde ein Match organisiert und ausgetragen. Des öfteren haben wir
uns dieses elegante Spiel des Laufens, Werfens und des sich Streckens
bei offiziellen Veranstaltungen z.B. in Welkenraedt angeschaut. Andere
hatten sich dem Footballspiel verschrieben. Doch dies war für uns weni-
ger interessant und machte auch einen eher plumpen Eindruck.
In ihrer Freizeit erzählten sie mir von ihrer strengen Ausbildung, den
Übungen und Manövern, bei denen es oft fast unmenschlich zugegan-
gen sein muss. Mit wirklich allen Eventualitäten sind sie in ihrer Aus-
bildung konfrontiert worden. Sie waren alle in der Selbstverteidigung
ohne Waffe ausgebildet worden. Die Angst vor den Nazis saß ihnen tief
in den Knochen. Die .lungs waren so hoch motiviert und körperlich
so fit, dass ihnen der Müßiggang hinter der Front manchmal zu schaf-
fen machte. Plötzlich und aus heiterem Himmel entstanden dann wüste
Schlägereien, wobei die Nichtbeteiligten ohne einzugreifen interessiert
zuschauten. Aber bald lachten alle wieder, denn so schnell wie die Kei-
lereien begannen, so schnell waren sie auch wieder vorbei.
Der erste und wichtigste Wunsch unserer Amerikaner war, einmal
Florida erleben zu können. Der zweitwichtigste Wunsch war Europa
kennen zu lernen. Der Krieg verschaffte ihnen hierzu die Gelegenheit.
Mein Gott, sagten sie immer wieder, was können wir unseren Kindern
alles erzählen, wenn wir wieder daheim sein werden. Hoffentlich!
Der Speiseplan der Amis war überaus reichhaltig und abwechslungs-
reich. Sie verfügten über Unmengen an unterschiedlichen Konserven.
Aber manchmal verlangten sie auch nach Frischfleisch. Sie konnten
auch, über Unmengen an Fruchtsäften in Halb- oder Zweiliter-Dosen
verfügen, wovon sie mächtig viel tranken. Wenn es zu kalt war. stellten
sie die geöffneten Dosen auf den Herd, um sich den Saft anzuwärmen.
Einmal hatte es auf dem Speicher, wo sie lagerten, durchgeregnet,
sodass dort zwei der Burschen keinen Platz mehr fanden und wir ihnen
zwei unserer Betten anboten. Als erstes nahmen sie das Holzfüllblatt am
Fußende des Bettes heraus, damit sie ihre Füße an ihren langen Beinen
herausstecken konnten.
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MIT DEN AMERIKANERN LEBEN
Solange die amerikanischen Soldaten mit ihrer Frontspitze noch in
unserer Gegend lagen, versuchten sie mittels Flakfeuer die VI an der
Grenze zu Deutschland abzufangen. Zum Schutze Londons wurden die
V2 an der belgischen Küste mittels Flakfeuer bekämpft. Wir konnten
dies am westlichen Horizont manchmal optisch verfolgen.
Als die Amis später in die deutsche Eifel vorrückten, haben sie dort
auch die Abschussstelle erobert, denn plötzlich war der Spuck glückli-
cherweise vorbei.
Trotzdem wurden wir im März 1945 noch einmal durch eine einzel-
ne, uns überfliegende Rakete erschreckt. Ich nehme an, dass ein allzu
neugieriger Gl versehentlich den Abschussmechanismus betätigt hatte.
Die GI‘s konnten wirklich manchmal wie Kinder sein.
Einmal ließ sich mein Mann von ihnen die Funktionsweise des ihm
unbekannten Maschinengewehrs zeigen. Bereitwillig ließen sie meinen
Mann auch mal ins Blaue schießen. Die Schlitzohren hatten aber das
Gewehr auf Dauerfeuer gestellt. Als mein Mann nun nach Karabiner-
art den Abzugshahn kräftig durchzog, schoss er mit einem gewaltigen
Feuerstoß das ganze Magazin auf einmal leer. Sie hätten das Gelächter
der GT’s und ihre Schadensfreude erleben müssen! Kurze Zeit später
tauchte ein Jeep mit Militärpolizei auf, um zu sehen, was passiert sei.
Zum Glück hatten auch sie genügend Humor, um aus diesem Vorfall
kein Drama zu machen.
Gegen Ende September 1944 setzte der Regen ein und damit began-
nen die Unannehmlichkeiten des herannahenden Winters. Die Wiesen
waren bald tief durchgepflügt und eine Schlammlandschaft. Nirgendwo
wuchs mehr Gras und die im Schlamm stecken gebliebenen Fahrzeu-
ge mussten sich gegenseitig helfen. Wenn dies nicht gelang, wurde ein
Bergepanzer angefordert.
Anfangs hatten wir es recht schwer, uns in der neu gewonnenen Frei-
heit zurecht zu finden. Auch das offizielle Gemeindeleben musste neu
organisiert und ein Gemeinderat gewählt werden. Mein Schwiegerva-
ter, der eigentlich als Einziger vom Vorkriegsgemeinderat her das Recht
und die Kompetenz gehabt hätte, die Amtsgeschäfte zu übernehmen,
traute sich nicht. So nahm denn sein Sohn, mein Mann, die Sache in
seine Hände.
Eines Nachts wurde ich unvermittelt sehr krank.
Mit einem Ami-Jeep wurde ich über Welkenraedt (!) nach Hergenrath
zu einem Militärarzt gebracht, der sofort entschied, meinen Blinddarm
68
zu operieren. Irma, die kleine Schwester unseres Gehilfen Mathieu
Kubben, kam, um Klein-Albert zu versorgen. Nach 20 Tagen wurde
ich aus dem Eupener Krankenhaus entlassen. Bei meiner Heimkehr er-
fuhr ich zu meinem Schrecken, dass mein Sohn in der Zwischenzeit
einmal fast erstickt wäre, denn Irma hatte vergessen, das Heizkissen
auszuschalten !
Das Haus war mit Amis vollgestopft. Von denen wurde ich nach
Strich und Faden verwöhnt. Auch meinem Sohn widmeten sie ihre gan-
ze Aufmerksamkeit. Sie hatten die größte Freude daran, ihm englische
Worte beizubringen. Den Fluch „God damned“‘, den sie bei jeder Gele-
genheit von sich gaben, waren die ersten Worte, die Klein-Albert lernte.
Wenn er nun morgens die Treppe herunter kam begrüßte er uns mit ei-
nem lautstarken und fröhlichen „God damned!‘“ Mit herzhaftem Lachen
wurde sein Auftritt quittiert.
In den ersten Tagen der amerikanischen Präsens vor Ort kam Jean S.
zu uns, um sich für sein Verhalten während der Nazi-Zeit zu entschuldi-
gen. Dabei war er nicht der Schlimmste gewesen.
In diesen Tagen musste die Versorgung der Bevölkerung mit Nah-
rungsmitteln organisiert werden, aber alle landwirtschaftliche Unterla-
gen, auf die mein Mann sich in offizieller Mission hätte stützen können,
waren von Jean Stickelmann inzwischen verbrannt worden. Im August,
mitten im wärmsten Monat, hatten im Dorf tagelang die Schornsteine
wie verrückt geraucht. Ja. es gab viele Spuren zu beseitigen!
Um den ausgebrochenen Ernährungsnotstand in Walhorn zu behe-
ben, war ausgemacht worden, dass die Landwirte wöchentlich, je nach
der Größe ihres Betriebes, ein bis drei Kühe zur Schachtung abgeben
mussten. Reihum, jeder sollte an die Reihe kommen, auch wir. Als je-
doch der Bruder meiner Mutter, der Bauer Hubert Birmans aus Astenet,
an der Reihe war, kam seine Frau Maria, die Taufpatin von Klein-Albert
zu uns. um uns anzuflehen, doch von der Abgabe verschont zu werden.
Stundenlang redete sie auf mich und meinen Mann ein. Doch mein
Mann dachte nicht daran, in ihrem Fall eine Sonderregelung zu treffen.
Wütend verabschiedete sie sich mit den Worten: „Das werdet ihr noch
einmal bitter bereuen!“
Dieser Onkel, Hubert Birmans, war nach dem frühen Tod meiner
Mutter, seiner Schwester, mein Vormund geworden. Da beide kinderlos
waren, stand ich deshalb in der Erbfolge an erster Stelle. Wir vergaßen
bald den peinlichen Vorfall, doch diese Tante hatte ihre Drohung nicht
in den Wind gesprochen. Als 1950 mein Patenonkel im Sterben lag.
wurde ich von ihr nicht einmal mehr zu ihm vorgelassen.
69
Die Krankenpflegerin bat meinen Mann, doch einmal zu ihr zu kom-
men, sie hätte ihm etwas mitzuteilen. Doch wir haben darauf nicht re-
agiert.
Tante Mariechen, die offenbar bereits im Herbst 1944 wusste, dass
mein Onkel nicht mehr lange zu leben haben würde, wollte das gro-
ße Vermögen, dazu gehörte in Lontzen das Schloss Krickelshausen,
auch Kleinhaus genannt, für ihre Seite der Verwandtschaft, die Familie
Kessel, sichern. Ausgerechnet also jener Kessel, dem mein Mann letzt-
lich seinen Gefägnisaufenthalt zu verdanken hatte und für den wir die
verhassten politischen Gegner waren. Der Wirbel um die Viehabgabe
diente der Tante Mariechen also nur als Vorwand ihrer weit im Voraus
geplanten Intrige. Das Ergebnis: ich, als nächste Anverwandte, wurde
enterbt! Doch es lohnt nicht, dem Vergangenen nachzutrauern.
Am frühen Morgen des 16. Dezember 1944 wurden wir unvermittelt
von schwerem Artilleriefeuer geweckt. Im Nu herrschte hektische Auf-
bruchstimmung überall.
Den ganzen folgenden Tag sahen wir die amerikanischen Panzer in
umgekehrter Richtung am östlichen Horizont. Ratten gleich, über die
Landstraße von Eynatten in Richtung Eupen rollen. Uns beschlich ein
grausiges Bangen und man hörte, wie die Kriegsgeräusche näher ka-
men. Die Deutschen waren inzwischen wieder bis zum Eupener Gebiet
vorgedrungen. In der folgenden Nacht wollten wir schon nicht mehr
schlafen gehen.
Wir blieben gestiefelt und gespornt marschbereit in unseren Zimmern
sitzen. Unter keinen Umständen wollte ich wieder den Deutschen in die
Hände fallen. Angestrengt lauschten wir in die Nacht, um uns anhand
der Geräusche ein Bild von der Lage zu machen. Tags drauf wurde es
etwas ruhiger, zum Glück konnten sie aber bald gestoppt werden.
Weihnachten gab es dann wieder Licht, wenn auch nur in unseren
Herzen, denn die Stromzufuhr war defekt. Seitens der Amis waren
schon reichlich Vorbereitungen zum Fest getroffen worden. Sie beka-
men viele Weihnachtspakete von ihren Angehörigen und abends war es
für alle ein Fest, diese miteinander auszupacken.
So ergab sich, dass wir diesen .Jungs auch eine Freude machen woll-
ten.
Wir fragten sie nach Reis und ließen davon bei unserem Bäcker Burt-
scheidt Reisfladen backen. Nachdem Frau Burtscheidt uns gemeinsam
mit ihrer Schwester die Fladen geliefert hatte und wir die Köstlichkei-
ten alsbald auftischten, wollte keiner den ersten Bissen tun. Schließlich
wurde es uns zu bunt und wir griffen zu.
70
Kaum hatten wir den ersten Bissen getan, da stürzte sich auch die
ganze zwanzigköpfige Mannschaft mit Heißhunger auf den süßen Fla-
den. Später erfuhr ich, dass es ihnen streng verboten war, Essbares von
Zivilisten anzunehmen.
Was mich in jener Zeit am meisten berührt hat, war die neue un-
gewöhnliche Toleranz. Alle Menschen konnten plötzlich machen, was
sie wollten. Alles war erlaubt oder zumindest geduldet — wenn es nur
der guten Sache diente. Unsere Wohnstube vereinsamte weder am Tage
noch in der Nacht.
Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Ständig wurde irgend et-
was gekocht oder verspeist. Die Amis waren wie die Kinder- große Kin-
der. Jederzeit waren sie zum Singen und Spielen aufgelegt. z
In allen Ecken des Hauses standen die Gewehre nur so rum. In der
Milchküche hingen ständig irgenwelche nassen Sachen zum Trocknen
auf. Wir wuschen ihnen die Sachen, was sie übrigens sehr gut bezahlten!
Nur Samstagmorgens setzte ich ein böses Gesicht auf, denn dann
wollte ich putzen. Manchmal musste ich dazu zuvor den Spaten zu Hilfe
nehmen, um die festgetretenen Lehmknollen zu entfernen. Wenn sie an-
schließend wieder in das saubere Haus durften, freuten sie sich königlich.
Ich erwähnte bereits, dass die Amis sich oft wie Kinder freuen und
amüsieren konnten.
Dies galt vor allem für die Schwarzen, sie waren immer zu Streichen
aufgelegt, aber auch von ausgesuchter Höflichkeit! Ich finde, dies ver-
dient unbedingt festgehalten zu werden.
Die Schwarzen, wir nannten sie damals natürlich noch Neger, waren
die Elite der Transportfahrer. Ihre Fertigkeit am Lenkrad war sagenhaft
und blieb unübertroffen.
Als das Wetter gar zu schlecht wurde, richteten sie sich auf dem Spei-
cher ein.
Ihre eigene Küche hatten sie im Fahrsilo, gleich neben dem Schup-
pen eingerichtet.
Diese relative Idylle hatte knapp drei Monate gedauert - bis schliess-
lich der Neujahsmorgen 1945 kam.
Ich war im Dorf zur Frühmesse gegangen, als plötzlich wieder deut-
sche Flieger über uns hinweg donnerten. Sie schössen dabei aus allen
Rohren. Viele der MG-Geschosse steckten anschließend im Fußboden
unseres Speichers.
In der Nähe von Rabotrath waren einige Flieger abgeschossen wor-
den.
#1
Mein Mann hat sich die Wracks angesehen, als wir im Nachmittag
bei meinen Eltern unseren Neujahrsbesuch machten.
Was wir so zum Glück nur am Rande am 16. Dezember 1944 und am
1. Januar 1945 mitbekamen, war der Versuch von Nazi-Deutschland,
den Kriegsverlauf mit Hilfe der so genannten „Rundstedt-Offensive“
noch einmal zu ihren Gunsten zu wenden.
Die letztlich fehlgeschlagene Nazi-Offensive brachte unzähligen
Menschen auf beiden Seiten noch einmal Verderben und Tod.
Dank auch der Jungs, die bei uns einige Monate friedlicher Etappe
verleben durften, wurde der Feind letztlich dann bald doch endgültig
besiegt.
Nach den Wintermonaten bereiteten sich die Amis auf den letzten
Akt des Krieges vor.
Zu diesem Zweck wurde im März 1945 ein großes Manöver ange-
setzt, wobei das Vorrücken auf das Zentrum des Feindes noch einmal
geprobt werden musste.
Am Abend zuvor kamen unverhofft amerikanische Soldaten in einem
Jeep angefahren und hielten vor unserem Tor. Unser Schäferhund lief
ihnen wie immer laut bellend entgegen. Die Soldaten zogen ihre Waffen
und erschossen ihn. Er kam zwar noch laut jaulend bis in unser Wohn-
zimmer gelaufen, aber dort verendete er unter dem Küchentisch. Wir
haben trotz unseres Leides niemandem Vorhaltungen gemacht, denn wir
hatten Verständnis dafür, dass der Hund den Ablauf des Manövers hätte
stören können.
Beim nun folgenden Manöver nahmen die Amerikaner auch sonst
keinerlei Rücksichten. Wir schauten ziemlich baff zu, wie sie rück-
sichtslos Hecken, Gatter, Tore und Stiegel in Grund und Boden fuhren.
Trotz dieser Vorkommnisse waren wir letztlich traurig, als sie uns
verließen, um in Richtung Berlin weiter zu ziehen. Ja und so zogen sie
dann weiter. Sie, die über den großen Teich gekommen waren, um uns
die Freiheit zurückzubringen. Mit den besten Wünschen ihrer Familien
versehen, waren sie in Richtung Europa gezogen, woher die meisten
ihrer Vorfahren stammten, um hier ein wildgewordenes, menschenver-
achtendes System der Unterdrückung zu vernichten. Wieviele mussten
dafür ihr junges Leben lassen ?
Meistens konnten wir nur ahnen, was unter den Planen der Fahrzeuge
mit dem großen weißen Kreis und dem roten Kreuz transportiert wurde,
Nur einmal noch haben wir einige unserer Amis wiedergesehen. Sie
waren jetzt in Roetgen stationiert. Von dort waren sie gekommen, um
72
uns noch einmal zu besuchen. Wir wunderten uns, dass man ihnen die
Rangabzeichen abgenommen hatte, mit denen sonst ihre Uniformen
verziert waren. Sie lachten. Sie waren degradiert worden, weil sie ver-
sehentlich ihre eigenen Flieger aufs Korn genommen hatten! Danach
haben wir keinen mehr wiedergesehen.
WEITERE ERLEBNISSPLITTER
Der englische Premier Winston Churchill soll einmal gesagt haben:
„Es ist nicht zu fassen, dass so wenige solche Massen für so wenig
organisieren können!“ Dieser Ausspruch trifft den Nagel auf den Kopf,
wenn ich an die Mutter von Emil und Erich Pelzer denke, die in der hin-
teren Kreuzstraße mit ihrem Mann Emil den Lindenhof bewirtschaftete.
Sie war so geschickt im Umgang mit Menschen und mit den Produkten
ihres Hofes, dass sie von jedem alles haben konnte, was sie nur wollte.
Vor allem mit den Frauen der Industriestadt Verviers, die hier über
Land zogen, um im Eintausch Lebensmittel zu erhalten, trieb sie einen
lebhaften Handel.
Nach jeder Schwarzschlachterei schmierte sie erst mal die Gendar-
merie, damit diese eine besonders starke Wache aufbot, um das Gebiet
um ihren Hof vor unliebsamen Fremden zu sehützen. Nun, sie war eini-
ges älter als wir und daher erfahrener und raffinierter.
Mit den Amerikanern kamen auch einige weltbekannte Persönlich-
keiten in unser Dorf... Im schon mehrfach erwähnten Eiskeller hatten
die Amerikaner vorübergehend ihr Einsatz-Hauptquartier eingerichtet.
Dort waren zu Gast: Der General und spätere US-Präsident Dwigth D.
Eisenhower, die Schauspielerin Marlene Dietrich, berühmt durch den
Film „Der blaue Engel“ und der Kriegsberichterstatter Ernest Heming-
way, der spätere Literatur-Nobelpreisträger und Autor des Bestsellers
„Der alte Mann und das Meer“.
Marlene Dietrich gab einmal eine Vorstellung für die GI’s im alten
Festsaal unseres Dorfes. Ernest Hemingway verbrachte als Kriegsbe-
richterstatter etwa 8 Tage in Walhorn. Von unserem Hof aus konnten
wir ihn vor den Felsen der Rotsch auf einem Klappstuhl an einem Tisch,
den ganzen Tag schreibend beobachten. Er trug seinen bekannten kaki-
farbenen Tropenanzug und war ständig von einer Katze begleitet.
In dieser Zeit waren auf der Wiese unterhalb dieser Rotschfelsen von
einem Deutschen eine größere Zahl Pferde untergebracht worden. Mein
Mann beobachtete einmal, wie sich Ortsfremde daran machten, diese
Pferde einzufangen. Mit seinem „Dienstfahrzeug‘“, einem kleinen Mo-
torrad, machte er sich in seiner Eigenschaft als Feldhüter auf, um nach
73.
dem Rechten zu sehen. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den
Pferdefängern um Mitglieder der ..Armee Blanche“. einer belgischen
Untergrund- und Widerstandsmiliz. Ihre Absicht war, die Tiere an jene
Bauern zu verteilen, die ihre Pferde noch in letzter Minute hatten an die
Deutschen abgeben müssen. (Wie die Sache ausging, hat Mutter nicht
notiert.)
Die Amis machten, wie schon gesagt, oft und gerne Unfug.
Das Pferd meines Vaters wurde zum Beispiel an einem Tag derart
geritten und gejagt, dass es noch in der Nacht verendete. Das neue Pferd
kostete ihm damals den horrenden Betrag von 50.000 BF, denn es waren
kaum welche zu haben.
Auch mein Bruder Adolf, damals 17 Jahre, machte Unfug.
Eines Mittags tauchte er in vollständiger US-Uniform bei uns auf.
Unsere Soldaten und sogar ihr Oberst erschraken ganz schön, als sie ihn
sahen und hielten ihn für einen Spion.
Mein Bruder bekam es nun ganz schön mit der Angst zu tun.
Aber es kam auch anders.
In unseren Wiesen standen massenweise Oel- und Benzinfässer. Ne-
benan in der Koonen-Wiese war die große Reparaturwerkstätte unterge-
bracht. Auf dem von der Familie Kubben bewirtschafteten Gut „Mon-
tem“ gab es ein riesiges Lazarett-Lager.
Es kam eine kurze Zeit, wo Walhorn hermetisch abgeschlossen war
und streng, rund um die Uhr, von Militärpolizisten gemeinsam mit zi-
vilen Einheimischen (in US-Uniformen) bewacht wurde. Das war dann
ein Fest für die jungen Altbelgier wie meinen Bruder.
DER ENDSIEG
Es dauerte dann nicht mehr allzu lange, bis Nazi-Deutschland ka-
pitulierte und die Alliierten in Berlin die Reichskanzlei, das Zentrum
des Teufels, erobert hatten. Unter all jenen, die diesen Krieg lebend
überstanden hatten, brach unbeschreiblicher Jubel aus. Überall wurde
gefeiert.
In unserer Gegend wurde der Tag des Sieges, der „Victory-Day“ in
einer Hauptveranstaltung in Henri-Chapelle gefeiert, bei der auch der
spätere US-Präsident Eisenhower anwesend war. Alle, die sich vom
Joch der Nazis befreit fühlten, waren ebenfalls anwesend. Nie zuvor
und nie wieder später habe ich die „Brabanconne*‘, unsere National-
hymne, so zackig spielen gehört. Nie klang dieses Lied schöner als an
jenem Tag.
74
Unzählige Feierlichkeiten folgten. Fast jeden Tag gab es irgendwo
eine Siegesfeier. Im Eupener Saalbetrieb des Kinos CAPITOL fanden
jede Woche fantastische Fronttheater-Veranstaltungen statt, zu denen
auch interessierte Zivilisten zugelassen waren. Über ein Jahr dauer-
te dieser Veranstaltungsreigen. Jede Woche fuhr ich mit dem Fahrrad
dorthin, mit Klein-Albert im Körbchen vorne an der Lenkstange, Jeder
kannte uns und war uns behilflich. Unbeschreiblich schön auch die un-
zähligen Standkonzerte der Amis in einem uns bis dahin völlig unbe-
kannten „Sound“, Arrangement und Rhythmus. Es war einfach herrlich.
Die Lebensfreude machte das Leben wieder lebenswert.
Bei den zivilen Feiern wurden überall Strohpuppen, Hitler darstel-
lend, verbrannt, bevor es mit Reden, Feuerwerk und Festbällen weitet-
ging. Unbeschreiblich wie „voll“ alles und alle waren !
Im Juli feierten wir mit unseren Befreiern gemeinsam den amerikani-
schen Unabhängigkeitstag. Wie sehr konnten wir in diesem Jahr die Ge-
fühle der Amerikaner verstehen, nachdem uns nach TAUSEND JAH-
REN die Unabhängigkeit gerade erst wieder geschenkt worden war!
Zum Schluss meiner „Kriegserinnerungen“ weiß ich nur noch zu sa-
gen, dass alles Leid der Welt kein Kriegsleid aufwiegt. Alle Menschen
werden geschunden, gedemütigt und gejagt und kriegen nichts dafür
bezahlt. Und selbst wenn sie Geld bekämen, könnten sie nichts dafür
kaufen, weil nichts mehr da ist. Sie können nicht einmal satt werden.
Geschweige denn in Ruhe leben, lieben, schaffen und schlafen. Es zählt
nur noch ein Wort: ÜBERLEBEN !
Im Abspann eines Kriegsfilmes den ich einmal sah, hieß es zum
Schluss: „Wenn Generäle einen Kriegsplan machen, legen sie auch fest,
wo geplündert wird und Frauen vergewaltigt werden und bei Waffen-
stillstandsabkommen wird gleichzeitig auch wieder die Saat zum nächs-
ten Konflikt gelegt!“
1)
2 En
Neswäremde
va Henri Beckers
Vöresch Joahr
hauw b6j oss op n’ Hof
e Vorespäärche z&ch jetrowd
än du jraat he&nge över 0ss
Jaadebank
janz flott e N6s jebowd.
Sue woad £ch
onverhiiofft Tü’ch
va prall Jelök än Kengersäjen,
t’Neske badete sch
i Wärmde, b&j Son,
mä och wenn ‘t woar anet räene.
Du schlooch och op m&ch
e Vönkske över
d’rjanze schöne Mont va Mai,
dat joof rengseröm
werr Klöörän Lääve
än du op-Ens woaret vorbei.
Ech hauw di Jong
noch t’Auvends
vör dat et düster woad jetoat,
v6&r Köpkere
käeke nööjschieresch
utt-t’ Ne&ske now öevere Boad.
De Auw die vloor
noch fließech sörjend
met d’r Bäck vool Voor
än soot da
met utjespre£ide Vlöjelschere
weil’t naats döcks koat noch woar.
t’ Mörjens vond ch
76
t’NGs verloate,
starde verschlaare in dat Lok.
„Sönt se daa now at utjevlore?
Woare se da at jruet jenooch?“
Ech vroar me&ch aaf,
wue se now soote,
sue uene Mam än janz alleng,
än off se selver
hön Voor at vonte,
se woare doch noch esue kleng.
Of now e sue Vöjelsche
j6&€ He&&mwie
hat noa’t Ness, wi Enge va 0ss
dä och t’ Strüe
met sech blitt draare
wue drop s6ch da läeje koss?
Hat da vielleicht esue Dereke
janz verjäete
wue €ns sing W&6sch jestande hat,
dat et jedelt
met Brör än Söstere
sie Odechhuus, wue et sie H&&met hat?
Sow’t da och net
tröck erkänne
6€ va de Sing now, vröösch of langk,
met dämm ‘t delde
de Erinneronge
va bej oss he&nge, över n’ Bank.
Now läckt et at vielleich
sing Wonde
noa dr öchte Lävensdaach,
än jringt et d£ke Vörelströnschere
vermest vielleicht et N&s esuejaar.
SU
Sue hauw &ch do
en Tüt jestande
än wi d’r Daach bauw woar verjange
än du der Oavend vool
wue &ch verlangend Uutkik hool
än loot et Nes
net uet en Owwe
off döcks s£ch ähl now jätt bewäscht,
daaht &ch op Ens,
suen kleng jong Ve&&ngk
Es jraat sesue wie e Miinschekengk,
dat loos s&ch makt va Moddershand
weil de Natuur j&6t ävver höhre Jangk,
suedat t’selver d’r Wäesch wahl vengt
än da sie je Liedche sengt.
Än wie de Auw
ens hauwwe jesonge
hant des Joahr eröm die Jonge
och werrem ene Huchert now jesteft
äen s&ch e Neske ääjerecht.
Flott vl&je se,
va räets no lenks,
weil och do könt now jauw jett Kle&ngs,
die W&&sch stooffiiet
met reng Matratze, än Värekere janz wette
Jönt tesaame die Twei op en Eikere now sette.
Än iije engs Mai
t’letzte Kaländerblättche vellt,
j&6t oad BEld sech werrem Jlieke,
jongk Lääve hat s£ch aajemelt
Werrem rekke sech kleng Vöjelköpkere
ijje Neske now övere Boad
Ech han se d@&s’ Kiier net jetoat.
78
Ferienerlebnisse einer Bonner
Jugendgruppe in Hauset 1936
von Hans Paul Koll
Vorbemerkung
Bei den folgenden Zeilen handelt es sich um die Abschrift einer Ver-
vielfältigung aus dem Jahre 1936, damals gesammelt von „Kaplan Leo-
nards‘“, der sie als „Heft“ seiner Jugendgruppe der Stiftskirche Bonn als
Andenken hinterließ.
Einleitend schrieb der Kaplan: %
„Liebe Jungens!
Hoffentlich habt ihr dieses Heft noch, wenn ihr später einmal sagen
müsst: Die goldene Kindheit liegt schon weit hinter mir. Dann werdet
ihr euch freuen, in diesen Blättern liebe Erinnerungen an unvergessene
Tage zu finden. Darum verwahrt sie gut auf!
Wie lieblich liegt das Dörfchen Hauset eingebettet in Wald und Wie-
sen. Felder gibt es nicht. Die Bauern haben es besser als anderswo. Sie
brauchen nur für das Vieh zu sorgen, für die vielen Kühe, welche man
überall auf den Weiden sieht. Die Wiesen waren in diesem Jahre beson-
ders grün nach den langen Regenwochen. Auch uns ist die erste Woche
in Hauset verregnet. Das war schade, weil wir nicht so viel in den Wald
gehen und nicht schwimmen konnten im See.
Der Regen fiel uns aber nicht ins Herz hinein, da herrschte eitel Son-
nenschein. Keine Stunde gab es Verdruss. Bonner Jungen sind allzeit
fröhlich. Ihre Losung heißt: Uns geht die Sonne nicht unter.“
Die Bonner Jugendgruppe, die in Hauset in der Jugendherberge
(Vollmühle) untergebracht war und unter der Führung von Toni Weber
und der Lagerleiterin Frl. Elisabeth Schlürscheid stand, setzte sich wie
folgt zusammen:
Brink Hans, Flink Josef, Flink Andreas, Hamacher Peter, Hamacher
Josef, Halm Hans, Hoffmeister Kurt, Kirschbaum Willi, Koll Eduard,
Koll Paul, Konvents Franz, Küpper Helmut, Löllgen Willi, Nöthen
Hans, Remmel Josef, Schäfer Hans, Strack Hans, Vogel Otto, Windheu-
ser Peter, Reuter Johann, Reuter Heinrich, Woday Heinrich, Wüstrich
Walter, Zache Hans, Arenz Johann, Birkheuser Hans, Kerkow Adolf,
Kuchem Walter und Schwartz Bernhard.
Kaplan Leonards ließ die Ferienerlebnisse von den einzelnen Teil-
nehmern niederschreiben. Hans Paul Koll, im Bericht Paul Koll genannt
79
und damals mit 9 Jahren einer der jüngsten Teilnehmer, heute in Brühl
ansässig, schrieb die Berichte im Mai 2006 ins Reine, wobei er versucht
hat, sie in der Originalfassung wiederzugeben. „Die damalige Schreib-
weise und auch einige Fehler wurden mit Absicht nicht geändert“.
Nun die Kurzberichte aus der Feder der Jugendlichen.
Sonnige Tage in Hauset
Am 3. August 1936 war der große Tag da. Wir wollten in den Fe-
rien zwei Wochen nach Hauset in Neubelgien fahren. Um 8,22 Uhr
vormittags waren wir am Bahnhof. Unter großem Hallo stiegen wir in
den Zug und fuhren zunächst bis Köln. Dort mussten wir umsteigen in
den Zug, der nach Aachen fuhr. In Aachen wartete schon unser Führer
Toni Weber auf uns. Nach kurzer Zeit kam ein Gemüseauto. Wir klei-
nes Gemüse verstauten unser Gepäck und wurden bis zum Aachener
Dom gefahren. Nach der Besichtigung desselben fuhren wir über die
Grenze nach Hauset. Als wir dort ankamen, wurden wir von den Her-
bergseltern freundlich aufgenommen. In der ersten Woche hatten wir
viel Regen. Trotzdem aber waren wir guter Laune und bekamen viel
Spaß. An den folgenden Tagen bauten wir im Wald Hütten. Bald begann
das Trainieren für die Olympiade. Auch einige Ausflüge machten wir.
Zuerst zum Wallfahrtsort Moresnet, dann wanderten wir nach Astenet
und zuletzt nach Eynatten, wo ein Kinderfest war. Den Tag über, in der
Freizeit, spielten wir meistens am Bach. Viele mussten bemerken, daß
das Wasser naß war. Auf einer Wanderung kamen wir auch am Viadukt,
einer riesigen Brücke, vorbei. Auf drei Schienensträngen übereinander
konnten die Züge fahren. Am Tag der olympischen Spiele brannten wir
am Abend ein großes Feuer ab. Es war die Siegerehrung. Am vorletz-
ten Tage besichtigten wir die Wollfabrik von Herrn Bohlen. Am Abend
packten wir die Sachen. Morgens früh um 10 Uhr bestiegen wir das Ge-
müseauto. Mit dem Zug fuhren wir von Aachen aus nach Bonn zurück.
Um 4,55 Uhr kamen wir in Bonn an. Die sonnigen Tage von Hauset
waren zu Ende!
Der Dom zu Aachen
Der Dom zu Aachen ist in verschiedenen Jahrhunderten zusammen-
gebaut worden. Wir gingen durch das Hauptportal in den Dom. Zur
rechten sahen wir auf einer Säule einen Wolf sitzen, welcher ein Loch
in der Brust hatte. Die Sage erzählt: Als die Aachener den Dom nicht
fertig bekamen, schlossen sie einen Vertrag mit dem Teufel. Der Teufel
80
wollte den Dom fertig bauen, dafür aber die Seele des Ersten, der den
Dom betrete, haben. Da schickten Aachener einen Wolf in den Dom. In
seiner Wut riss der Teufel ihm die Seele aus dem Leibe. Zum Andenken
daran, setzten die Aachener das Wolfsbild in den Dom.
Als wir weiter gingen, kamen wir in den ältesten Teil des Domes,
welchen Karl der Große erbauen ließ. Es war ein schönes altes roma-
nisches Bauwerk mit prachtvollen Mosaikgemälden. Rechts stand eine
Kanzel aus weißem Marmor. Diese hat ein Deutscher Kaiser dem Dom
gestiftet. Hinter uns sahen wir oben den Krönungsstuhl Kaiser Karls des
Großen. Dann gingen wir weiter in den Chor. Hier sahen wir uns zuerst
eine wunderschöne goldene Kanzel an. Sie war mit lauter Edelsteinen
besetzt. Wir hatten gerade Glück, denn gewöhnlich ist die Kanzel durch
ein Schutzgehäuse verdeckt. Als wir kamen, wurde dieses eben aufge-
klappt. Dann sahen wir uns den Hochaltar mit dem Reliquienschrein
und das Adlerpult an. Wie in allen Domen wird hier das Allerheiligste in
einer Seitenkapelle aufbewahrt. Dies ist eine barocke Kapelle, welche
von den Ungarn erbaut wurde. Vor dem Aachener Gnadenbild, in einer
anderen Seitenkapelle, beteten wir ein kurzes Gebet und gingen in die
Schatzkammer des Domes.
Hier sahen wir eine Pracht und einen Reichtum ohne gleichen. Wir
sahen fein gewebte Paramente, prachtvolle Kronen, Schmuckgegen-
stände, alte Messbücher mit herrlichen Verzierungen, wertvolle Kreu-
ze und Monstranzen. Unter anderem sahen wir das Jagdhorn Karls des
Großen, den Schrein mit dem Kleid der allerseligsten Jungfrau Maria ,
den Schrein mit den Windeln des Heilandes, den Schrein mit dem Tu-
che, welches bei der Enthauptung des Heiligen Johannes des Täufers
gebraucht wurde. Nachdem wir dieses gesehen hatten, fuhren wir weiter
nach Hauset.
Johannes Reuter
An der Grenze.
Als wir uns Aachen angeschaut hatten, fuhren wir mit einem Auto
noch 2 km und kamen bald an die deutsche Grenze. Hier erwartete uns
die deutsche Zollschranke und das Zollhaus. Wir mußten Geld und Päs-
se vorzeigen. Bald waren wir an der belgischen Grenze, wo von stren-
gen Zollbeamten zwei Koffer revidiert wurden. Nun ging‘s mit tausend
Freuden ins Ferienparadies, ins Land der Wiesen, Wälder und Bäche.
Sehr interessant waren für uns die belgischen Plakate in französischer
Schrift und das durchlöcherte Geld, auch haben wir belgische Soldaten
81
und Geistliche, welche anders gekleidet sind als bei uns, angetroffen.
Auch der Pfarrer von Hauset ist ein Belgier.
Willi Kirschbaum
Am rauschenden Bach.
An unserer Jugendherberge fließt ein herrlicher Bach vorbei. Früher
war die Herberge eine Mühle. Der Bach war unser liebster Spielplatz.
Wir sind oft hineingefallen, ich am meisten. Oft haben wir Wasser-
schlachten gemacht. Die Herbergseltern haben sich aus zwei Brettern
einen Wasserfall gemacht, damit sie leichter Wasser holen könnten. In
der Freizeit haben wir die Bretter herausgemacht und schwimmen ge-
lassen. Oft sind wir drüber gelaufen. Meistens sind wir ausgerutscht
und fielen dann in den Bach. Wir machten uns auch ein Wehr von Stei-
nen. Darin steckten wir ein Rohr und dann machten wir uns ein Mühl-
chen. Wir stellten es vor das Rohr, so daß es rund lief. An heißen Tagen
schwammen wir auch in dem Bach und abends rauschte er uns in den
Schlaf.
Paul Koll
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Die ehemalige Hauseter Jugendherberge an der Göhlstraße
82
Was uns die Waldseen für Freude brachten.
Nicht weit von unserer Jugendherberge liegen mitten im Walde meh-
rere Seen. Diese sind aus Steinbrüchen entstanden. In einem der Wald-
seen badeten wir oft. Von dem Sprungbrett sind meine Kameraden und
ich schon oft heruntergesprungen. In den anderen Seen zu baden ist
zu gefährlich. So gingen wir an schönen Tagen uns abkühlen von der
Hitze. Auch hatten wir in unserem See ein Olympia = Wettschwimmen.
Wir hatten immer große Freude und planscherten lustig im Wasser. Nur
zu schnell waren die schönen Tage vorbei.
Hans Nöthen
Waldandacht %
Infolge des häufigen Regens konnte unser im vorigen Jahre gewähl-
ter Thingplatz erst nach einigen Tagen aufgesucht werden. Auch in die-
sem Jahre stellten wir dort ein Holzkreuz auf.
An einem schönen Abend zogen wir zur Thingstätte hinauf, um eine
kurze Waldandacht zu halten. Auf dem Querbalken des Kreuzes standen
brennende Kerzen, welche uns der dortige Pastor überlassen hatte. Der
von Sternen bedeckte Himmel überwölbte den Thingplatz, auf dem wir
unser Abendgebet verrichteten. Jeder trug ein Kerzchen in der Hand
und so zogen wir durch die dunkle Nacht unserer Herberge zu. Während
dieser Prozession sangen wir das Lied: „Meerstern, ich dich grüße....‘“
Walter Wüstrich
Die olympischen Spiele
Während in Berlin die Olympiade stattfand, hatten auch wir in Hauset
unsere olympischen Spiele. Eine große Wiese stand uns ganz zur Verfü-
gung. Sie diente uns als Stadion. Nun wurden die Kämpfe ausgefochten.
Zuerst sprangen wir, und zwar Hoch- und Weitsprung. Jeder strengte
sich an wie er konnte, und so wurden Küpper, Arenz, Kirschbaum unse-
re ersten Sieger. Jetzt wurde der Kampf im Bogenschießen ausgetragen,
und zwar auch wieder im Weit- und Hochschuß. Konvents wurde bei-
de Male erster Sieger. Leider konnte das Schwimmen nicht an diesem
Tage stattfinden. Am folgenden Tage wurde Nöthen darin Sieger. Dann
wurden die Kräfte im Laufen gemessen. Hier wurde Schwartz Sieger.
Woday errang den 1. Preis im Kugelstoßen. Nun wurde am Abend des
hohen Tages auch das Olympiafeuer abgebrannt, wobei die Sieger fei-
erlich genannt wurden. Dann waren aber noch drei Sieger im Kuhfladen
83
da, Löllgen, Woday und Reuter Johannes. Die Preisverteilung fand in
Bonn statt, bei der alle 19 Sieger einen Preis bekamen.
Heinrich Reuter
Ein Bauer starb im Dorfe.
Während unserer Abendandacht, welche wir im Kapellchen hiel-
ten, starb ein Bauer aus dem Dorfe. In der Andacht hörten wir, daß der
Großvater von dem Sterbenden der Erbauer des Kapellchens war und
er den Altar angefertigt hatte. Zwei Tage später gingen wir mit einem
Waldkranz zu dem Sterbehause. Den Kranz hatten zwei Jungen von uns
geflochten. Die Tochter des Verstorbenen nahm den Kranz an und führte
uns in das Sterbezimmer. Hier beteten wir für den Toten. Am anderen
Tage wurde uns mitgeteilt, daß wir an der Spitze des Leichenzuges ge-
hen sollten. Am Tage der Beerdigung gingen wir um 1/2 9 Uhr hinauf
zum Sterbehause. Hier hatten sich schon sehr viele Leute versammelt.
Die zwei Jungen, die dazu bestimmt waren, unseren Kranz zu tragen,
holten diesen. Nachdem wir uns aufgestellt hatten, fingen alle an, den
Rosenkranz zu beten. Da begann auch das kleine Glöckchen des Kapell-
chens zu läuten. Sobald der Sarg in den Wagen geschoben war, setzte
sich der Zug in Bewegung. An der Brücke des Baches kamen uns sechs
Geistliche und einige Meßdiener entgegen. Die Geistlichen gingen mit
einem Meßdiener hinter den Totenwagen. Dort segnete der Pfarrer des
Dorfes die Leiche ein. Nun setzte sich der Zug wieder in Bewegung zur
Kirche. In der Kirche wurde der Tote aufgebahrt. Dann wurde an jedem
Altar eine hl. Messe gefeiert. Während dieser Zeit sangen die übrigen
Priester und der Chor die Laudes. Nach den Messen war ein feierliches
Hochamt. In diesem hielten die Leute den Opfergang um den Altar her-
um und bekamen alle einen Totenzettel. Auch wir erhielten einen. Nach
dem Hochamt wurde der Sarg nochmals eingesegnet und dann von vier
Männern hinausgetragen und ins Grab gesenkt. Zum Dank für unsere
Teilnahme fanden wir am Abend einen großen Korb Backwaren vor.
Hans Strack
Droben stehet die Kapelle
Schauet still ins Tal hinab!
Drunten singt bei Wies‘ und Quelle
Froh und hell der Hirtenknab !
An dieses Lied wurden wir erinnert, als wir den Bauer zum Grabe be-
gleiteten. Mit wie viel Liebe hatte er an dem großen Altar in der Kapelle
84
geschnitzt. Jetzt war er tot. Das Glöcklein läutete so feierlich, als ob es
uns mahnen wollte, dass auch uns einmal das letzte Stündlein schlagen
würde,
Traurig tönt das Glöcklein nieder,
Schauerlich der Leichenchor!
Stille sind die frohen Lieder,
Und der Knabe lauscht empor.
Droben bringt man sie zu Grabe
Die sich freuten in dem Tal.
Hirtenknabe, Hirtenknabe,
Dir auch singt man dort einmal.
Willi Kirschbaum
Zirkus, Zirkus !
Am letzten Tage spielten wir Zirkus. Wir trugen Bänke auf die Wie-
se und bildeten damit ein Viereck, das nach einer Seite offen blieb. In
der Mitte war der Spielraum. Zu unseren Zuschauern gehörten drei Aa-
chener Mädchen. Für den Zirkus hatten wir auch eine Musikkapelle.
Sie bestand aus: Schellenbaum, Trompete, Trommel und Deckel, lau-
ter verrosteten Sachen, die wir im Dreck gefunden hatten. Als der Zir-
kus anfing, sangen wir ein Lied. Dann folgten die Spiele in folgender
Ordnung: Hammerschmidt G‘sell, Flohzirkus, Bienchen, Bienchen gib
mir Honig, der lebendige Tote, Blindboxen, Ringen, Ein Landmädchen
im Kino - gespielt von den Aachener Mädchen - Boxkampf Schme-
ling -Louis. Am Schluß sammelte der Herr Kapellmeister für die schö-
ne Musik und die Spiele Geld ein. Für das Geld bekamen wir auf der
Heimfahrt Schokolade und Bonbons.
Eduard Koll
Das Fest Maria Himmelfahrt
Das Fest Maria Himmelfahrt ist in Belgien ein hoher Feiertag. Am
Morgen des Festes gingen wir Blumen sammeln. Anschließend war
Kräuterweihe mit feierlichem Hochamt. Den Blumenstrauß nahmen
wir mit in die Heimat. Um 1/2 2 Uhr gingen wir in die Andacht. Darauf
gingen wir zum Festkaffee in die Jugendherberge zurück. Den Kuchen
dazu hatten uns die Leute geschenkt, wo der Bauer gestorben war. Dann
gingen wir in den Wald zum Beerensuchen. Dabei überraschte uns der
Herr Kaplan mit Schokolade, die er am Wege versteckte. Dann gingen
wir zur Eisenbahnüberführung. Von da aus wanderten wir zur Mutter-
gottes-Kapelle, in der wir unsere Abendandacht hielten. Darauf sangen
85
wir ein Lied am Trauerhaus zum Dank für den Kuchen, den wir am
Nachmittag gegessen hatten. Zum Abend aßen wir Kartoffelsalat mit
leckeren Würstchen. Danach ging es in die Betten.
Eduard Koll
Ein Kinderfest in Eynatten
Es kamen alle Kinder aus der ganzen Gegend zu diesem Feste. Die
Kinder gehörten zum eucharistischen Kreuzzug. Auch wir kamen als
Gäste. Als wir in das Dorf eintraten, bemerkten wir sofort an den Fah-
nen, daß ein Fest hier war. Alle Kinder waren in einem Saal versammelt.
Es waren auch der Herr Generalvikar von Lüttich und der Herr Dechant
von Eupen zugegen. Wir unterhielten uns noch eine Weile, da ertönte
die Schelle. Der Bürgermeister von Eynatten hielt eine kurze Anspra-
che. Auch wurden Theaterstückchen vorgeführt. Das erste war „Maria
Königin“. Es war auf der Bühne eine Treppe aufgeschlagen. Fünf Kin-
der kamen hintereinander herein und spielten, wie die Jugend Maria
geweiht sein soll. Danach folgte das Spiel „Die verzauberte Prinzessin“.
In dem Stückchen war ein lustiger Lehrer. Dieser hatte eine Brille und
einen Zylinder auf und einen Frack an. Der Lehrer hatte auch ein Diri-
gentenstöckchen. Danach sahen wir noch das Stück „Lenis Opfer“. Als
es zu Ende war, gingen wir wieder nach Hauset zurück. In der Herberge
bekamen wir leckeren Kakao.
Johannes Arenz
Besuch im Bauernhaus
Dicht bei der Marienkapelle liegt ein altes Bauernhaus. Wir machten
hier einen Besuch. Im Hausflur über der Türe steht die Figur unserer
lieben Muttergottes mit dem Jesuskind. Zwei elektrische rote Lampen
sind neben ihrem Haupte, die Tag und Nacht brennen. Recht im Haus-
flur ging‘s in eine richtige alte deutsche Bauernstube, sogenannte „got
Stuv“. Am Ehrenplatz in der Wand eingelassen befindet sich aus Ei-
sen geschmiedet ein Familienwappen aüs dem 17. Jahrhundert. Eine
buntbemalte Balkendecke war die schönste Zierde des Zimmers. Links
stand ein alter prächtiger Eckschrank, gefüllt mit Tellern, Gefäßen und
sonstigen Gegenstände zum Teil aus dem 17. Jahrhundert. Nun gingen
wir zu den Stallungen.
Eduard Koll
Ein langer Gang führte zum Schweinstall. Dieser war geteilt, ein Teil
für die schweren ausgewachsenen Schweine. Die andere Seite für die
86
kleinen Ferkel. In den Ställen befanden sich 5 bis 6 große und 8 bis 10
kleine Schweine. Der Kuhstall war schon der Neuzeit angepaßt. Der
Fußboden und die Hälfte der Wände sind mit Steinplatten getäfelt. In
dem Stalle befand sich nur der Stier, die Kühe waren alle draußen auf
der Weide. Ein schmaler Flur führte zum Hof, wo zwei große Behälter
stehen, die zum Frischhalten des Grases bestimmt sind. Sie sind ähnlich
unseren Gaskesseln, werden mit Gras gefüllt und oben mit einer dicken
Schicht Lehm verschlossen. Auf diese Weise hält sich das Gras den gan-
zen Winter über frisch. So weit man sehen konnte, waren nur Wiesen
und Weiden mit vielen Obstbäumen.
Josef Remmel
Die Spinnerei des Herrn Bohlen.
Unser Herbergsleiter, Herr Bohlen, ist der Sohn eines Spinnereibe-
sitzers. Dadurch hatten wir Gelegenheit, in eine Spinnerei zu kommen.
Diese liegt ganz versteckt im Grünen. Zuerst sahen wir uns die ver-
schiedenen Wollarten an. Dann gingen wir in die Spinnerei. Hier wur-
den zuerst verschiedene Wollarten vermischt. Dann kam die Wolle in
eine Maschine, wo sie zerrissen wurde. Aus dieser Maschine kam sie
wie ein dicker, weicher Filzteppich heraus. Dieser kam in eine zweite
Maschine, wo die Wolle noch mehr zerkleinert wurde. Aus der dritten
Maschine kamen schon die ersten Fäden heraus. Diese waren aber noch
nicht stark genug. Die schwachen Fäden kamen in eine Maschine, in
der sie gedreht und gefestigt wurden. Dann wurden sie auf eine Spule
aufgewickelt. Jetzt waren sie fertig zum Verschicken.
In dem Raum, in dem die Wickelmaschinen waren, stand auch eine
Muttergottes -Statue. Sie war mit schönen Blumen geschmückt. Es war
das erste Mal, daß ich in einer Fabrik eine Heiligenfigur gesehen habe.
Danach sahen wir uns die Dampfmaschine an. Diese trieb alle Maschi-
nen in der Fabrik und eine Lichtmaschine, die die ganze Fabrik und die
Villa Bohlen mit Licht versorgt.
Dann gingen wir in den Park des Herrn Bohlen. Durch denselben floß
ein Bach. Als wir über den Bach gegangen waren, kamen wir an eine
Laube. Diese bestand aus zwölf hohen Buchen. Sie hießen die zwölf
Apostel. Eine Buche war abgehauen. Das war Judas. Zuletzt machten
wir in dem schönen Park noch eine Aufnahme. Dann gingen wir zum
Mittagessen.
Johannes Reuter
87
Indianerleben
„Apachen“, „Komantchen“ und „Sioux“ , so nannten sich die drei
Indianerstämme der frohen Bonner Jungen in Hauset. Kaum waren wir
zwei Tage da, da zog auch schon jeder Stamm für sich auf geheimen
Pfaden aus, um sich seine Lagerstätte in dem großen Hauseter Wald zu
suchen. Diese musste so versteckt liegen, daß kein Stamm des anderen
Stelle wusste. Hein Woday, der Apachenhäuptling, und Johannes Reu-
ter, der Führer der Komantchen. waren schon verschwunden, da zog ich
mit meiner Truppe los; wir wollten zuerst einmal feststellen, in welche
Richtung sich unsere Feinde verzogen hätten, um demnach unsern La-
gerplatz auszusuchen. In aller Stille durch die Büsche schleichend, ging
ich mit meinen Kriegern daher. Nach geraumer Zeit vernahmen wir
Stimmen und auf den Zehen weiter schleichend hörten wir deutliche
Worte wie: „Hein, kumm ens kucke!“ und dann der Hein: „Schrei doch
nit su laut, die andere könne uns doch hüre!“ Wo die sich aufhielten,
wussten wir jetzt. Wir machten schnell kehrt, um in anderer Richtung
weiterzuziehen. Bald darauf trafen wir in ähnlicher Weise mit Johannes
zusammen.
Nachdem wir uns diese Stellen gemerkt hatten, wollte ich einen
Wigwam halb unter der Erde bauen. Wir fanden auch bald eine hier-
zu geeignete, rundförmige Stelle, und bereiteten noch alles vor, um
in den nächsten Tagen fleißig ans Werk zu gehen. Danach bummelten
wir noch etwas im Wald herum und ernannten Otto Vogel zu unserem
Medizinmann und Geisterbeschwörer. Er hatte die Gestalt und auch
das Geschick dafür, denn er konnte oft abends im Schlafsaal gruseli-
ge Spuk- und Geistergeschichten erzählen. Mit dem Herbergsvater, der
nichts von „Indianersitten‘“ kannte, hatten wir oft Streit, denn er sagte
statt „Medizinmann“ immer Apotheker und das ist doch keine Ehren-
bezeichnung für einen Siouxkrieger. Die Komantchen schimpften uns
Seeochsen. Das war eine Beleidigung, welche wir nicht ungestraft lie-
ßen. Wir warfen uns auf den Komantchen - Häuptling und bearbeiteten
ihn zur genüge mit den Fäusten; anstatt daß seine Krieger ihm zu Hilfe
eilten, liefen sie davon. Die Apachen waren so vernünftig und zogen
daraus die Lehre, daß mit den Sioux nicht zu spaßen ist.
In der zweiten Woche herrschte besseres Wetter, da schafften wir flei-
Big. Weil wir in die Erde graben wollten, mussten wir eigentlich Hacke
und Spaten haben. Aber um jeden Verdacht der anderen abzulenken,
nahmen wir nur unter dem Pullover versteckt ein paar alte flache Ei-
senteller, welche als Schaufeln dienten, und ein kleines Häckchen ohne
88
Stiel mit. Der Abmarsch von der Herberge war oft sensationell, - denn
kein Stamm wollte als erster weg sein, weil er glaubte, er würde von
Spionen verfolgt und dadurch der Aufenthalt verraten. -Aber dann der
Hüttenbau selbst, da ging es oft drunter und drüber. Alle neun Mann
wollten mithelfen die Erde auszuschaufeln.
Bald waren wir soweit, daß unsere Hütte eine Form annahm, tief
genug hatten wir gegraben. Die Dachstöcke standen, der Rohbau war
vollendet. Nur noch wenige Tage trennten uns von dem Großkampf.
Alles wurde noch einmal kritisch vom Häuptling beschaut, Farnkraut
zur Tarnung über unser flaches Dach gelegt und 6 Meter im Umkreis der
Hütte über den Boden ein Draht als Fangschlingen gezogen. Wir wa-
ren kampfbereit, unsere Hütte konnte, selbst wenn man 4 Meter davor
stand, nicht gesehen werden, so schön lag sie getarnt. Wir selbst haben
sie oft lange suchen müssen. Als nun noch einmal eine Beratung der
Ältesten stattgefunden hatte, stärkten wir uns beim Mittagessen noch
einmal tüchtig, und dann durfte es losgehen. Kurz vorher erklärte uns
unser Herr Kaplan die Kampfregel, eigentlich eine zu strenge; es durf-
ten nur Gefangene gemacht werden, mit Knüppelchen durften wir nicht
werfen, und nur der Stamm, welcher die meisten Gefangenen hatte, war
Sieger in dem heißen Ringen um die Stammesehre.
Um drei, nein um fünfzehn Uhr mitteleuropäischer Zeit, durften die
Feindseligkeiten eröffnet werden, dies hatten wir Häuptlinge beschlos-
sen. Es war % 3 Uhr, die Spannung der Krieger wuchs von Minute zu
Minute. Die Apachen und Komantchen waren schon mit Herzklopfen in
den heißen Kampf aufgebrochen. Nur wir alten, erfahrenen Krieger der
Sioux schmückten uns nach alter Sitte mit unserem Kriegsschmuck. Das
ging folgendermaßen: Am Tage vorher hatte ich für 25 Cent rotbraune
Anstreicherfarbe gekauft. In der Stube der Herbergsmutter wurden die
Gesichter mit Wasser angefeuchtet, dann nahm ich eine Handvoll von
dieser rotbraunen Kreide und „streichelte“ damit alle neun Mann. Als
wir nun unsere blasse Farbe abgelegt und dafür ein rotbraunes Gesicht
bekommen hatten, lachten wir uns zunächst 5 Minuten gegenseitig aus,
und als wir sogar das Kopftuch mit zwei Federn aufhatten, waren wir
überhaupt nicht mehr zu erkennen. In diesem Schmuck zogen wir in den
Wald, dem schon längst entbrannten Kampf entgegen, den wir siegreich
bestanden.
Toni Weber
89
Zum Lousberg
Als wir das Dörfchen Hauset verlassen hatten und in Aachen ange-
kommen waren, wurde das Gepäck bei den Schwestern in einem Klos-
ter an der Marienkirche untergestellt. Mit einer großen Butterbrotskiste
bewaffnet, die für unser leibliches Wohl bestimmt war, kletterten wir
den Berg hinauf. Schöne Wege, die teils über Treppen aus schweren Ba-
saltsteinen angelegt waren, führten uns auf den Berg. Von hier aus hatte
man einen schönen Ausblick auf die alte Kaiserstadt Aachen. Weiter hin-
ter der Stadt erblickten wir den Aachener Wald, genannt „der Schmug-
gelwald‘“. Den Aussichtsturm, den wir in Hauset so oft gesehen, hatten
wir jetzt von der anderen Seite in Sicht. Auf dem Aussichtsplateau des
Berges war eine Eisenplatte, welche die Richtungen und Kilometerzah-
len nach London, Paris, Rom, Berlin, Wien, Barcelona und anderen grö-
Beren Städten anzeigte. Nachdem wir uns alles eingehend angeschaut
hatten, ging‘s an die Futterkiste. Infolge der großen Hitze, die an diesem
Tage herrschte, wollten die Butterbrote nicht recht rutschen, wodurch
wir das meiste wieder mit hinunternehmen mussten. Nun ging‘s zum
Abstieg nach der Kaiserpfalz mit dem prächtigen Krönungssaal.
Josef Remmel
In der Kaiserpfalz zu Aachen
In Hauset lasen wir ein Gedicht vom Grafen von Habsburg. Da kam
unserem Herrn Kaplan der Gedanke, mit uns die Kaiserpfalz in Aachen
zu besichtigen. Die Vorderfront ist mit vielen Kaiserstatuen versehen.
Wir gingen eine breite Treppe hinauf, ehe wir in den Krönungssaal ka-
men. Im Treppenhaus waren zwei große Bilder. Das eine stellt die Ent-
deckung der warmen Quellen dar, und das andere, wie die Aachener
Barbarossa den Eid leisteten. Nun gingen wir in den Saal. Dieser ist sehr
groß und hat ein prachtvolles Gewölbe. In der rechten Seitenwand ist
ein schönes, kleines Kapellchen. Wenn früher der neugekrönte Kaiser
in den Saal einzog, saß in diesem Kapellchen der Bischof. Er gratulierte
dem Kaiser. Dann setzte sich der Kaiser ins Kapellchen und ließ sich
huldigen. Nachdem wir das Kapellchen besichtigt hatten, bewunderten
wir die großen Freskogemälde von Rethel. Das erste stellt die Eröff-
nung der Gruft Karls des Großen durch Kaiser Otto II. im Jahr 1000
dar, das zweite die Zerstörung der Irminsäule. Das dritte zeigt den Sieg
über die Sarazenen bei Cordova, das vierte den Einzug Karls des Gro-
ßen in Pavia, das fünfte die Krönung Karls des Großen durch Leo III.,
das sechste den Bau des Domes zu Aachen, das siebte die Taufe Witte-
90 .
kinds und das achte die Übergabe der Krone des Reiches durch Karl den
Großen an Ludwig den Frommen.
Zuletzt besuchten wir die Kleinodienkammer des Rathauses. Hier
sahen wir das Szepter, den Reichsapfel, das Schwert und die Krone
Karls des Großen. Die Krone war sehr groß. Sie war mit prachtvollen
Diamanten und anderen wertvollen Edelsteinen geschmückt. Es waren
auch sonst noch einige wertvolle Stücke in der Schatzkammer. Als wir
diese Kunst bestaunt hatten, gingen wir zum Bahnhof und fuhren nach
Hause.
Andreas Flink und Johannes Reuter
Zum Abschluss rn
hielten wir am letzten Abend in der Pfarrkirche von Hauset eine fei-
erliche Andacht. Der Altar war festlich geschmückt mit vielen Lichtern
und Blumen. Vom Altar empfingen wir das Licht und zündeten damit
die Kerzen an, die wir durch die dämmernde Kirche trugen.
Lichtträger sollen wir sein durch das Dunkel einer Gott entfremdeten
Welt. Lichte, reine Gotteskinder wollen wir immerdar bleiben. Dieses
Gelöbnis war unsere Dankesgabe für den guten Vatergott, der uns so
schöne Tage geschenkt hatte. Dann beteten wir für alle guten Menschen,
welche uns den Aufenthalt ermöglicht hatten, besonders für unsere lie-
ben Eltern und unseren Herrn Pastor.
Gott segne und behüte dich!
Kpl. Leonards (handschriftlich hinzugefügt)
91
Geschichten aus Kelmis zwischen 1900
und dem Ersten Weltkrieg
von Martha Beaufays-Schillings'
Die folgenden Zeilen beruhen auf den Erzählungen meiner Tanten,
denen ich stundenlang zuhören konnte.
Das Elternhaus der Famiklie Beaufays stand in Kelmis, im Bruch,
wo die Eheleute Peter Beaufays und A. Catharina Huppertz in der Nähe
des „Bahnhofs“ und gegenüber der Erzwäscherei der Vieille-Montagne
einen Lebensmittelladen und einen im Innern durch einen Durchgang
verbundenen Getränkeausschank betrieben.
In dem Geschäfte der Catharina Beaufays-Huppertz konnte man wie
in einem kleinen Basar („Store“) die verschiedensten Dinge des All-
tags finden. In dem angrenzenden Ausschank, wo die meisten Kunden
Arbeiter der Bergwerksgesellschaft waren, ging hauptsächlich Schnaps
über die Theke. Dass die Erzwäsche direkt gegenüber dem Hause
Beaufays lag, wurde bereits gesagt. Was lag da näher, als nach Schicht-
ende „auf einen Schnaps“ die Lütticher Straße zu überqueren? Hatte
man kein Geld in der Tasche, so war das kein Hindernis. Es war Sitte,
bei Catharina Beaufays anschreiben zu lassen und erst bei der nächsten
Löhnung zu zahlen.
War die Wirtin aber der Meinung, der eine oder andere habe nun für
den laufenden Monat schon genug Schnaps konsumiert, so schenkte sie
dem Betreffenden nichts mehr ein, sondern schickte ihn zu seiner Frau.
In Notfällen zeigte sich die Wirtin großzügig. War ein im Schulden-
büchlein registrierter Arbeiter durch Krankheit oder durch einen tödli-
chen Arbeitsunfall in der Grube gestorben, so nahm Catharina Beaufays
besagtes Schuldenbüchlein und strich mit einem Kreuz den geschulde-
ten Betrag durch. Die Witwe sollte nicht auch noch mit den Trinkschul-
den ihres Mannes belastet werden.
Der kleine Laden der Großeltern muss außerordentlich gut gegangen
sein. Großvater Peter war eine Persönlichkeit im Ort und war wohl auf
der Grube Schmalgraf in besserer Position. Das Haus Beaufays war für
alle offen. Alle Freunde waren stets willkommen.
'_ Anschrift der Verfasserin: Kramerstr. 16/1, D-49549 Ladbergen
93
Die Töchter wurden gut erzogen und eigentlich alle haben recht früh
geheiratet und bis auf zwei kamen die Ehemänner aus dem Ort. Sie wa-
ren Neutrale oder Deutsche (aus Preußisch-Moresnet), oder auch Belgi-
er. So wie mein Vater, dessen Familie aus Montzen stammte. Aber auch
dessen Eltern wohnten in Neutral-Moresnet. Dieser Vierländereck war,
bedingt durch die besondere, 1816 wegen der Erzvorkommen geschaf-
fene Lage, eine kleine Keimzelle Europas.
Ein großes Glück für den Ort waren die durch die Gesellschaft der
Vieille-Montagne engagierten „Soeurs de Notre Dame‘ (Schwestern
ULF) aus Namür. Wo sonst im Lande bekamen die Kinder schon lange
vor 1900 einen so gediegenen zweisprachigen deutsch-französischen
Schulunterricht wie in Neutral-Moresnet? Viele konnten sich durch gute
Sprachkenntnisse in den Zeiten der Industrialisierung irgendwo in der
Welt eine gute Zukunft aufbauen.
Der Pastor sorgte als Starthilfe bei weiterführendem Studium in Aa-
chen, bei den besonders Begabten für den zusätzlichen Lateinunterricht.
Handwerksbetriebe gab es auch genug im Ort? .
?_ Die Einwohnerliste von 1902 weist für Neutral-Moresnet 26 Landwirte (Ackerer),
13 Maurer, 5 Pliesterer, 21 Zimmerleute, 5 Dachdecker, 4 Klempner, 6 Schlosser,
13 Schmiede, 11 Schuster, 14 Bäcker, und 7 Metzger aus. Die Wirte waren mit 39
Etablissements stark vertreten.
Die Eisenbahn beschäftigte 7 Personen, die Post 2. Das Transportwesen gab 8 Fuhr-
leuten Arbeit. 3 Frisöre, 1 Uhrmacher, 1 Gärtner, 1 Fotograf, 1 Karussellbesitzer,
2 Apotheker, 2 Hebammen, 2 Musiker... Das Bild der beruflichen Möglichkeiten
ist also sehr vielseitig, wird aber noch immer vorwiegend von der Bergwerksge-
sellschaft geprägt. „Bergmann, Obersteiger, Bohrmeister, Oberhauer, Aufseher, In-
genieure, Maschinisten, Heizer, Mechaniker, Grubenschmied, Laborgehilfe, Zink-
schmelzer“ stehen im Dienste der Vieille-Montagne, insgesamt etwa 120 Mann.
Nicht unerwähnt lassen sollte man auch die Textilindustrie, die im „Neutralen‘“ etwa
40 Personen (Weber, Spinner) Arbeit und Brot gibt.
94
Im Aquarium
von M.-Th. Weinert
Ein farbig Fischvolk schwänzelt stumm
In dem Aquarium herum,
es schwebt über Muschelfelder
und gleitet durch die Pflanzenwälder,
zitronengelb ein Plattfisch fächelt
und sieht so aus, als ob er lächelt,
indes ein Dunkelgrauer motzt, ES
am gleichen Ort stets drohend glotzt,
hat er sich diesen Platz ertrotzt?
Was mich betrifft, ich bin erschüttert:
Ein winzig Fischlein kämpft und zittert
Und hetzt sich selbst beinah zu Tod:
Es prellt und presst sein grelles Rot
An eine Glaswand, feurig-wild,
denn es sieht da sein Ebenbild,
es spiegelt sich und glaubt zu sehen
den Feind, den gilt es zu bestehen.-
Es stürzt sich abwärts in die Tiefe,
um dann -—als ob der Feind es riefe —
ihn tollkühn wieder anzugreifen...
Ach dieses Tier wird niemals kneifen!
Manch einer weiß nicht, was er tut,
und stirbt zuletzt am eigenen Mut.
95
De voofde va Ludwig van Beethoven
va Henri Beckers, Kelmis
D'‘r Dirigent trueent
vöör sie Pult,
de Musikante schtemme
hön Instrumänt,
vöördat, vool Oonjedoot,
se sech
d‘r Ludwig tösche näeme.
Mär da,
met ene kötte Tik,
brengt häe ze now anet schwieje,
met singe stränge Selverbleck
wett häe hön
kusch te krijje.
D‘r Maestro luert
ens öm sech hej,
häe hat se in sing Macht;
wi höm dat jraad jevalle kann
striieke of bloaze se,
de eng kier häel, an och wer sacht.
D'‘r Violonist, d‘r öchte Stoohl
hat bej de öchte Nuete
noch pianissimo jeschpält
mär woohl dat Denk, vööl levver jauw,
ens rechtesch böäke loate.
De twäede Grupp
va Violeure
di woar noch jaar neet wacker
an wänn ens jraad jenge käeck
woare ze anet jaape,
himmelzacker!
96
Direkt, Ow öm Ow än Tant öm Tant met singe Dirigent
hauw sech d‘r Cello, wie jewändt ijje Jebönn jepändtt.
Dä Cello hat
nekks jotz ijene Säen
da lött sech hüj nekks beje,
Häe hölt sing Kess
neet ajen Kenn
mär stramm tösche de Kneje.
De Alt, dat es en Fiejeling, jätt decker va Fijuur,
die makt zech dröm ens jäär jätt breed,
weil se ijen Partituer 7
e Tüünche deeper steht
D'‘r Kontrabass krommt i sing Kess,
zökt fließesch oave, onde, än hat wahrscheinlich now allösch
de rechteje Nuete vonde.
No ene Solo van de Flööte do hant de Klarinette
scheef Tüen jeschpält.
D'‘r Dirigent makt kötte Prozess
an flött ze va-je Vält.
Et Hooan än de Trompette,
de Oboe än Fagotte bloaze höm jätt;
sönt su-wie-sue te spiie
än wi neet andech verwaat
zecht d‘r Maestro de jääl Kaat!
D‘r Posaunist
dä no en Röös va veerentwintech Nuete
jätt ääjeduckt singe Äsatz verpaast
blöst da op eemol jauwer ?
(häe es och att jätt auwer)
Da jeet et no Fortissimo
now es et Schlachzüech dra
dat es de rechteje Koos
now es d‘r Zerkes rechtesch los,
do es och jarrjee
hauwwe aa
97
D‘r Maestro es now wöss
hott feste met de Ärem
probiet se noch te zwenge
d‘r enge welt
d‘r aandere now
met tröete övverstemme.
Da könnt d‘r Schluß.
D’r Dirigent a jedder Hoar en Dröp,
et jett höm bauw d'‘r Rest,
än no d’r letzte Paukeschlach
veelt dä bauw va sie Podest.
D‘r örme Maan senkt d’r Kop
häe wor wer vööls te braav
mär d‘r Ludwig,
dä drieent sech öm
now i zie Jraav....!
98 .. Z
WOET MET «I»
va Henri Beckers, Kelemes
Ieder früher,eher, wahrscheinlicher.
Ech jöng ieder no Österreich i F&rie
ielech eilig. Vör hant et ielech.
iel Eile. in der iel siie (veraltet).
ijeme einer, jemand (sehr alt für) Enge.
Kan mech ieme saare wi tiit et &?
jerenthalber ehrenhalber
jet ehe, bevor. Iet-s-te köns, maak vör de Waar prett
Jiskichel /Iiskits Eiszapfen. Et hange Iiskichele a-je-ne Kangel.
Tifibel altes Wort für das erste Lesebuch. Als ersten Buch-
staben lernte man das „I“
Tikötel Dreikäsehoch, ABC-Schütze
Iksbeen X-Beine
Incivik frz. incivique = unbürgerlich. Den Landsleuten, die
während des Krieges mit der Besatzungsmacht zu-
sammengearbeitet (kollaboriert) hatten, wurden
nach dem Krieg die bürgerlichen Rechte (z. B. das
Wahlrecht) entzogen.
inox aus rostfreiem (nicht oxidierendem) Stahl
inoxidaabel frz inoxydable, rostfrei
inokül&&re frz.inoculer), einimpfen, aufpfropfen, veredelen.
Ene wele Apelboom inokül&&re
Iris Blume, Schwertlilie, auch Mädchenname
Ischiasnärev Ischiasnerv. Dä hat dr Ischiasnärev jeklämmt.
WOET MET «J>»
Jälbsch (sehr alt für) grasgrün, zartgrün
Jardong (Süßwasserfisch), Rotauge, Plötze
Jasp Gürtelschnalle
Jeasch (Kulturpflanze), Gerste
Jeb&&ne (sehr alt), gebieten, nur im Ausgruck „ene jeboo
Vierdaach = ein gebotener Feiertag
J&esüke (selten) Jesuskind. Et J&&süke lit € je Krebke. Auch
im Ausdruck „krolle J&&süke*“‘.
Jefutels betrügerisches Getue (von fuutele = pfuschen, falsch
spielen, mogeln)
99
Jegrüüstetseijstemaaria =Ave-Maria
Jehöcht Weiler. Ajene HEjkop stong e ood Jehöcht
Jekrösch Fleischsülze
Jekrüüdesch auch Jekrüüter, Mz. für Kräuter
Jeküms Gestöhne
jeliks gelich, sogleich. Vör koome jeliks
jeminklech gewöhnlich. Dr Vrejer &s jeminklech op Tiüit
jepäfert (gepfeffert), zu teuer. Di Priise sönt jepäfert
jepetscht von „petsch =Falte.
En jepetschde Schötz, ein Faltenrock
Jeraanjom Geranie
Jerä(m)pels Gerümpel, Ramsc, Kleingeld.
Ech han mär noch jät Jeräpels.
Jesoks Gesindel (Gesocks)
jespreckelt getüpfelt. E jesprekelt Päet
Jewiksde Schuss mit viel Effet, Drehschuss.
Ein Intelligenter, Durchtriebener
Jifele kichern, unterdrücktes Lachen. Die Mädchere
stonge i-jene Huck än wore anet jifele.
Jjipesch feurig, versessen auf. E jipech Päet, ene Jipeje
Jö vorwärts, und damit Schluss.
Än domet jö, alE jö (bei Tieren)
Jodsään(d)ech Wunschformel.
„Gott segne dich“ (wenn jemand niest)
Jölep Hosenschlitz (dow has de Jölep op, maak se tu)
Jönke liebevolle Anrede, Jüngelchen.
Jönke, dat mos-te net due.
Jöö, Jööke Patin. Vvon Paat en Jööke
Jööp ungezogener, rücksichtsloser Kerl. Freche Jööp
Jöreje hagerer Mensch, Laban. Dä lange Jöreje
Jöses mein Gott, oh Gott, oh Gott
Jüb ein Huhn. Dr Haan löpt henger de Jübbe
juchele schrill lachen, wiehern vor Lachen.
Wie e Päed juchele
junke mitleiderregend weinen
Jusch Regenmantel, Regenschauer. Döj dr Jusch aa, et ränt
Jüstement frz. justement, eben, gerade.
Dat €s jüstement wat ch wool saare
Jutsch Gerte, dünner Zweig
Jüü (Zuruf an das Zugtier, halt. ale jüü, Päetsche
100 = Z
WOET MET «K>»
Kaakel Schwatbase. Di sönt an-et kaakele.
Kaakerlak Küchenschabe, Hirschkäfer, Nashornkäfer
Kaarebänger viel und kräftig fluchender Mann
Kaarehond Zughund (früher vor einem kleinen Leiterwagen)
Kätsch Apfel- oder Birnenrest (Kerngehäuse).
Lot dr Kätsch öwer.
Kabänes dicker Brocken. Wat ene Kabänes!
Kabäuske of Kabuff
überdachte Bushaltestelle, Abstellraum, Kabuff.
Vör verstäeke oss i-je-ne Kabuff
Kadangs Angst. No dä Krimi hauw oss Fing Kadangs }
Kakejääl (Farbe), ocker-, erdfarben
kalenswead der Rede Wert.
“ kalm&&re beruhigen. Däm moste vör kalme&re
Kamasch Gamasche. Et €s Pratt, döj de Kamasche aa.
Kamesool Wams
Kanadjän Windjacke (frz. canadienne).
Et 6&s koat, döj de Kanadjän aa.
Kaniel Zimt. Riisbre€j met Kaniel
Kappeskop Dummkopf. Dow Kappeskop
Kaprool Korporal, Gefreiter. Luster opdr Kaprool.
karamelle reklamieren, zu sagen haben. Jät t’ karamelle ha
Karäsant (frz. caresser= liebkosen), Liebhaber, Freund.
Mie Söster hat’ne Karäsant.
Karnool (Spielzeug) Kreisel; jemand, der sich aufregt
Karvonkel großer, feuriger Furunkel, Karbunkel
Kasematukel (Ausruf) heleje Kasematukel! Du lieber Himmel!
Kastaar kräftiges Exemplar
Kastiel (niederl. kasteel) Landgut, herrschaftlicher Gutshof
Kastoor (frz. castor) Bibe
katunge (frz. coton, niederl. katoen = Baumwolle).
’n katunge Jopp
kavitse sehr schnell laufen.
Wänn vör Bang haue, donge vör kavitse. A
Keaper, Träger, Balken, Sparren
Keneke (of Kensche)
kleines Kind. Ming Tant hauw e Kenek kräeje.
Ke&smeske Kohlmeise
101
Kiesbüll s. K&smeske
Kiischetitt Kirschenzeit, (zu) kurze Zeit
Kiibits Kiebitz
Kiilbog Bogen. „Vör schpälde Indianer met dr Kiilbog.
killekille kitzeln. Killekille maake.
Kipkap Sülze, auch „Jekrösch‘ genannt.
Klaaterhoot Klafterholz, aus gespaltenen Baumstämmen, ca. 1m
langes Brennholz, das zu Scheiten zersägt wird.
Klabater in der Karwoche (statt Glocken) benutzte Klapper.
Öm Posche (= Ostern) woat klabatert.
klabitere klirren. Dat Vänster klabiterde.
Kladderdatsch Geräusch, wenn etwas zu Boden fällt.
Kladderdatsch, do vale mech de Löepele
Klamatsch manuelle Seilwinde
Klander (frz. calandre = Maschine zur Bearbeitung von
flächigen Werkstoffen, z. B. Textilien),
Appretur in Stoffen
Klauert faustdicker Stein. Met Klauerte klääne (=werfen).
Klauhans Dieb
kle&mpere klimpern. Op’ne Piano kle&mpere
klinschekleng kllitzeklein, winzig
Klomel Trödel, schlecht funktionierende Maschine.
Dat &s mä Klomel.
Klötsch Kopf. Dä hat’n helle Klötsch.
Klüüt Brennstoff. Mischung aus Kohlengries und Lehm
Knaster schlechter Tabak. Dä päep mär ömmer Knaster
knepe mit Murmeln spielen. I-je Külsche knepe
knibele Knabbern. Kning knibele ajen Muure
Kniitekop blasser Mensch. Schimpfwort für die Ew. von
Henri-Chapelle.
knodele sudeln, kleckern. Ömmer met de Venger knodele.
Knosch Knorpel im Fleisch
Knülpäng (Schimpfwort), Dickschädel
Knuvel Finger. Dä hauw de Knuvele n&€t reng.
Köchepeter Koch, Küchenmeister.
Bliev ut de Käetele, Köchepeter!
Kokelbok Purzelbaum, Überschlag
Kokelööres (scherzhaft) Hahn
Kompeljong (frz. compagnon, Gefährte), Freund, Kumpan,
Kamerad
102
Könengske (Vogel), Zaunkönig
Konterbassong (Instrument, frz. basson =Fagott), Doppelfagott
Koorpistong (Instrument), Klapphorn
Kooverbretsch Pritsche im Kälberstall.
De Koover stonge op’n Kooverbretsch.
Kornemüüs Instrument, (frz. cornemuse), Dudelsack
Kösch Pfeife (abschätzig). Opa trook ajene Kösch.
kötaaf barsch, kurz angebunden
kötbej in der Nähe. Dr Bletz €&s kötbej ääjeschlaare.
kraakevool zum Bersten (Krachen) voll.
Dr Pinak wor kraakevool.
Krametsvorel Krammetsvogel, Wacholderdrossel 8
Krämpel alter Kram, Plunder. Döj dä Krämpel op Sij.
Krap Schorf. En dicke Krap op die Wond
Krebebiiter (Pferd) Krippenbeißer
Kreem Mutterschwein, Sau (auch als Schimpfwort)
kreete piesacken, ärgern (s. spiitdue)
Krekelkool Holzkohle
Krekelprümke Schlehe, Frucht des Schlehdorns
Kriekel Heimchen, Hausgrille. Kriekele op’n Kull
Kriemerwelsch _Kauderwelsch, unverständliche Sprache
Krienhoos (frz crier = schreien) Schreihals
Krikrak Streit. Die hant at werem Krikrak
Krodel Kröte. Vör hant Krodele ijene Jaade
Kroompot Kleiner Laden, Kleinkrämer, jemand, der sich mit
Kleinigkeiten abgibt
Kroow Gesindel, Pöbel. Dat sönt Kroowpöngele
krötelech reizbar, schlecht gelaunt (von „kritteln‘“ = nörgeln,
kleinliche Kritik üben
krue pflücken. Graas kruewe vör de Kning
Kruenekraane (Vogel), Kranich. De Kruenekraane trö&cke
Krütsbronk (sehr alt) , Bittprozession.
De Krütsbronk no’e Eckske
Ksilophon Xylophon
Kuelmöjsch Heckenbraunelle
Kujelmujel Kuddelmuddel, Durcheinander.
Alles i &nge Kujelmujel (Dörejen&€)
Kukepiip (ein Kinderspiel), Kukepiip schpäle
Kulekop Kaulquappe; hässlicher Mensch, bes. mit Glatze |
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103
Küte Eingeweide, Spanferkel, Schwein.
Jet ijen Küten haa
Kütsak (frz. cul de sac), Sackgasse
Küükeb6&&n auffallend kleiner Mensch
Kümschottel ständig klagender Mensch. Dat &s en Kümschottel
Küürej Frau (Tier) mit anstößigem Verhalten. Die Küürej
Küüt Eingeweide der Tiere
Kuuteprämser (Kuut = Nasenschleim), scherzhaft f. Schnurrbart
kwabelech schwabbelig, schwammig, fett und wackelig
Kweat Schwiele. Dä hat Kweate ajen Puuhte
kwele hervorsprudeln. Et kwelt Waater ut-en Äed
Kwespel Weihwaasserwedel, Quaste.
Pastuur kwespelt Wiihwaater
Kwetschbüll Akkordeon, Ziehharmonika.
Hol dr Kwetschbüll, vör danze
104
Schloss Lontzen
von Albert Heusch
Der interessante Bericht von Herrn Günter Martinius in Nr. 85 unse-
rer Zeitschrift „Im Göhltal‘“ (Februar 2010, S. 40-43) macht im orts- und
familiengeschichtlichen Interesse einige Ergänzungen und Korrekturen
sinnvoll.
Die freiherrliche Familie von der Leye, ein aus Wiedenbrück stam-
mendes westfälisches Geschlecht, kam erst nach Lontzen, als Philipp
Frhr. Ostman von der Leye (1864-1937) am 2. Mai 1905 Rosa Nellessen
(1875-1951), Tochter des Aachener Tuchfabrikanten Leo Nellessen und
seiner Gemahlin Maria geb. Lingens heiratete. Beide starben in Lont-
zen.
Leo Nellessen hatte Schloss Lontzen 1882 von den Erben des A. J.
Jules de Grand’Ry gekauft; sein Bruder Theodor Nellessen residierte
später auf der bei Kelmis/Hergenrath gelegenen Emmaburg.
Aus der Ehe Ostman-Nellessen gingen 2 Töchter hervor: Die ältere,
Marie-Anne (gen. May), heiratete in erster Ehe 1938 in Aachen den
1896 in Eupen geborenen Dr.-Ing. Leo Zimmermann, Baurat, gestorben
in Brüssel 1952, und in zweiter Ehe 1957 in Namur den kaufmänni-
schen Direktor Maurice Marchant, geboren 1906 und gestorben 1984
in Namur.
Beide Ehen blieben kinderlos.
Die jüngere Tochter Conchita (gen. Concha), geboren 1913 in Bonn
und gestorben 2001 in Aachen, heiratete in erster Ehe 1938 in Aachen
Heinrich Lingens, Tuchkaufmann, geboren 1908 in Aachen und gestor-
ben 1968 in Obertshausen (Main), und in zweiter Ehe 1971 ebenfalls
in Aachen Dr. med. Hermann Everken (geb. 1907 in Bad Lippspringe,
gest. 1978 in Aachen), Facharzt für Gynäkologie.
Aus ihrer ersten Ehe gingen die von G. Martinius erwähnten beiden
Söhne, Dr. Eric Lingens (1939-2009), Gerichtspräsident i. R., und Man-
fred Lingens (geb. 1940) hervor.
Die beiden Töchter und Erbinnen der Baronin Ostman von der Leye
geb. Nellessen verkauften Schloss Lontzen 1951 an Pierre de Walque,
Gerichtspräsident des Appellationshofs zu Gent, der den Besitz seiner-
seits 1958 an die Bruderschaft von St. Gabriel veräußerte. Diese katho-
lische Genossenschaft hatte in der Folgezeit wohl Nachwuchsprobleme
und verkaufte den Besitz später weiter.
105
Jahresrückblick 2010
von Herbert Lennertz
Zu der traditionell am dritten Sonntag im Januar, dem 24.01.2010,
staattfindenden Jahreshauptversammlung im Kelmiser Kulturzen-
trum Select konnte der Präsident eine recht positive Bilanz vorlegen.
Alle Veranstaltungen hatten bei den Mitgliedern ein gutes Echo gefun-
den. Es waren: Ü
1.Am 7. März 2010: Das Curtius-Museum in Lüttich, zu dem He-
lene Bings die Teilnehmer einer Ausfahrt führte.
„Fünf Perlen in einer Schale“ nannte ein BRF-Journalist diesen Mu-
seumskomplex, der seinen Namen dem Lütticher Kaufmann Jean de
Corte (latinisiert Curtius) verdankt. Dieser war mit Kriegsgeschäften zu
Wohlstand gekommen und hatte sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts
ein repräsentatives Stadthaus bauen lassen.
Bei einer 2003 vorgenommenen Umgestaltung und Renovierung
wurden mehrere vordem getrennte Sammlungen zusammengeführt.
Das „Große Curtius“ gibt Einblick in die Vor- und Frühgeschichte
des Maasraumes, die Christianisierung, die Merowingerzeit, die Re-
naissance (Lombard) und den Lütticher Barock (Delcour).
Die Themensammlungen (Glas, Waffen, Kunstgewerbe...) sind klar
und übersichtlich geordnet und
Die Themensammlungen (Archäologie, Glas, Kunstgewerbe, religiö-
se Kunst, Waffen) sind anschaulich präsentiert und geben dem Besucher
einen weit gespannten Überblick über die vielen Facetten des Lebens
und der Kunst im Lütticher Maasbecken.
2. Am 10.04.2010 führte Helene Bings durch Kelmis und begab sich
auf die Spuren von „Mördern, Dieben und Schmugglerbanden‘“. Es war
eine Rückschau auf das Kelmis des 19. Jahrhunderts, das als „Neutral-
Moresnet“ ein kurioses Dasein kannte.
3. Erfreulich viele Wanderfreunde hatten sich am 16. Mai 2010 zu
einer von Hans Klein geführten Wanderung rund um Hergenrath ein-
gefunden. Unter Umgehung der Hauptverkehrswege war es möglich,
auch weniger bekannte Außenbezirke (Moosbend, Tiffes, Königsweg...)
zu erreichen. Besondere Anziehungspunkte (Luisenstollen, Hammer-
mühle und Hammerbrücke) wurden kommentiert.
Von der Göhltalbrücke erklommen die Wanderer über einen steil an-
106
steigenden Pfad das Plateau über dem Göhltal, wo man auf den Weg
: von Prester nach Hauset stößt und durch den Wald nach Hergenrath
zurückfindet. Eine landschaftlich und geschichtlich reizvolle Wander-
route!
4. Am 5. Juni 2010 stand unter der Leitung von Gaby Regulla eine
Ausfahrt nach Wuppertal auf dem Programm.
Die Metropole des Bergischen Landes rühmt sich — und zu Recht —
ihrer Grünanlagen und der markanten Schwebebahn.
Das „Museum für Frühindustrialisierung‘ bildet gemeinsam mit dem
Stadtarchiv in Unterbarmen „das historische und kulturelle Gedächtnis‘
der Stadt Wuppertal, die 1929 durch die Zusammenlegung von Elber-
feld und Barmen mit mehreren bis dahin selbständigen Gemeinden zur
Großstadt wurde.
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Ein architektonisches Juwel ist der 1838 als Sternwarte von dem Textilfabrikan-
ten Engelbert Ellert errichtete „Elisenturm“ in der Hardt-Anlage, direkt am
botanischen Garten ‚so benannt nach Elisabeth von Bayern, der Gemahlin König
Friedrich-Wilhelms IV. von Preußen.
107
Seit 1972 ist Wuppertal auch Universitätsstadt („Bergische Univer-
sität‘“). Das genannte Museum im Stadtteil Barmen versteht sich als
industrie- und sozialgeschichtliches Museum und thematisiert alle Fa-
cetten der frühindustriellen Entwicklung im Tal der Wupper, wo schon
früh der Textilsektor eine hervorragende Rolle erlangt hat. Die Ausstel-
lung ist so konzipiert, dass der Besucher die Entwicklung vom Spinnrad
zur „Mule Jenny“ (Spinning Jenny) und vom Handwebstuhl bis zu den
komplexen Lochkartenmaschinen u. ä. verfolgen kann.
Auch der soziale Aspekt findet die notwendige Berücksichtigung.
Die Wuppertaler Ausgabeweber exportierten ihre Produkte (Spitzen, Lit-
zen, Posemente, Elberfelder Leinen) in alle Welt, so dass diese Region im
bergischen Land auch das „Manchester von Deutschland“ genannt wurde.
Der Museumsbesuch (mit Anschauungsunterricht!) fand eine schöne
Abrundung bei einem Gang durch die ausgedehnten Grünanlagen der
Stadt und führte zu „einem der schönsten botanischen Gärten Deutsch-
lands‘. Das Parkgelände auf der Hardt ist eine besondere Augenweide!
Eine Fahrt zur nahe gelegenen Müngstener Brücke (bis 1918 „Kaiser
Wilhelm-Brücke*‘), die mit einer Höhe von 107 m die höchste Eisen-
bahnbrücke Deutschlands und Teil der Eisenbahnstrecke Wuppertal-
Oberbarmen-Solingen ist, kann man jedem Wuppertal-Besucher nur
empfehlen. Die Brücke ist ein beeindruckendes Beispiel der durch den
Einsatz von Stahl möglich gewordenen Architekturleistungen und zählt
zu den wichtigsten technischen Denkmälern des Rheinlandes.
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Die Müngstener Brücke
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Unsere Fahrt legte den Akzent auf das Saarland als Industriegebiet
(Schwerpunkt Kohle und Stahl, (dargestellt am Beispiel der Völklinger
Hütte bei Saarbrücken), als Beispiel barocker Architektur (Friedrich Jo-
achim Stengel), als umstrittenes Grenzland (Festungsbau in Sarlouis)
und als touristische Perle (Mosel, Saar).
Die saarländische Barockstraße ist vor allem durch die überragende
Persönlichkeit des Architekten Friedrich Joachim Stengel (1694-1787)
geprägt.
Völklingen. Wo man die Zeit angehalten hat.
Eine große Anschlagtafel am Eingang des Hüttenwerks beschreibt
die Völklinger Anlage als „Ort der Innovation, Symbol für menschliche
Schöpferkraft‘“, wo die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft in der
gigantischen Maschine Völklinger Hütte zu einer neuen industriellen
Schöpfung durch den Menschen verbunden werden.
Die 6000 qm große Gebläsehalle hatte mit ihren gigantischen, welt-
weit einmaligen Maschinen seit dem Jahre 1900 keine andere Aufgabe
als Luft für die Hochöfen zu produzieren, um dort das Feuer für die
Eisenschmelze auf nahezu 2000 ° Celsius zu entfachen.
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Wie die Fangarme einer Krake legen sich die riesigen Stahlrohre auf die Ofenanlage.
Die ehemals Röchling’schen Eisen- und Stahlwerke in Völklingen und
ihre Rechtsnachfolger sind und waren im Bereich der Patente der Eisen-
verhüttung eines der innovativsten Industrieunternehmen in Europa.
Die UNESCO hat die Völklinger Hütte als Industriedenkmal und
kulturelles Erbe der Menschheit eingestuft. Damit ist der Erhalt dieses
einmaligen Stahlkomplexes auch für die kommenden Generationen ge-
sichert.
Ottweiler bietet einige markante Beispiele Stengel’scher Archi-
tektur. F. J. Stengel war Generalbaudirektor der Fürsten von Nassau-
Saarbrücken und zeichnete als solcher auch in Ottweiler für mehrere
repräsentative Bauten verantwortlich. Dazu zählt auch der so genannte
Pavillon im Herrengarten.
In Saarlouis erhielten wir nach fachkundiger Einleitung im Rathaus
Einblick in eine französische Festungsanlage, die als Beispiel für die
Festungswerke von Vauban gelten kann. Ludwig XIV. hatte Lothrin-
gen 1671 besetzt und es im Frieden von Nymwegen 1679 behauptet.
Zur Sicherung der neuen Ostgrenze gab er 1680 seinem Festungsbauer
112 .
Vauban den Auftrag zur Errichtung der Stadt und Festung Saarlouis.
Bei einem Rundgang entlang der Festungsanlagen bekommt man eine
Vorstellung von der genial konzipierten Anlage, wo Vauban unter Rück-
griff auf einen Altarm der Saar und Bau von Schleusen und Wehren den
Fluss auf einen Wasserstand bis zu 6 m über den gewöhnlichen Was-
serstand stauen und die ganze Umgebung unter Wasser setzen konnte.
Damit wurde Saarlouis uneinnehmbar!
Im Pariser Vertrag vom 20. November 1815 musste Frankreich Saar-
louis und drei andere Festungen an die Verbündeten abtreten. Preußen
war Saarlouis schon am 3. November 1815 zugeteilt worden.
Nach 1815 verstärkte Preußen die Festung bedeutend und unterhielt
dort gegen Ende des 19. Jahrh. eine etwa 2000 Mann starke Garnison.
Saarlouis war die äußerste Grenzfestung Preußens nach Westen. Das
Stadtbild blieb jedoch bis heute französisch geprägt.
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Das Rathaus von Saarlouis war am Tage unseres Besuches Drehort zu einem
historischen Film mit Vauban.
Der Festungsbauer - mit den Plänen der Festungsanlagen in der Hand -
stellte sich zum Erinnerungsfoto mit den Göhltalern.
118
Ein Besuch im Keramikmuseum von Villeroy und Boch, unterge-
bracht in Mettlach, am Saarufer, in einer ehemaligen Benediktinerabtei,
führt mit den Themenbereichen „Erlebniswelt Tischkultur‘“, dem „Ke-
ramikmuseum“* und dem „Informationszentrum Bad, Küche, Fliesen
und Wellness“ zu einer Zeit- und Entdeckungsreise in die einzigartige
Vergangenheit und Gegenwart von Villeroy und Boch. Seit 1809 war in
der vormaligen Benedikitinerabtei am Saarufer eine keramische Fabrik
untergebracht.
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Die riesige Saarschleife bei Mettlach bzw. Cloef ist „ein Schelmenstreich der
Natur“ und wird von Tausenden von Besuchern bestaunt.
Vom Aussichtspunkt Cloef hat man einen reizvollen Blick auf die Schleife.
6. Das Maastal war Ziel einer Tagesfahrt, die am 30.10.2010 unter
der Leitung von Alain Brose stattfand.
Obschon dieses Tal „vor unserer Haustür“ liegt, zählt es nicht zu den
bevorzugten Ausflugszielen der Ostbelgier. Sehr zu Unrecht! Was das
Maastal nämlich zu einem weitgehend unbekannten Schatzkästchen
macht, sind nicht nur die landschaftlichen Reize der felsigen Uferpar-
tien (ein Kletterparadies für die Alpinisten!), sonder auch der außer-
gewöhnliche architektonische Reichtum eines Gebietes, das trotz zahl-
reicher kriegerischer Ereignisse vergangener Jahrhunderte ungezählte
Kirchen, Burgen und Schlösser als Aushängeschilder präsentieren kann.
114
Einige dieser Kostbarkeiten hatte Alain Brose in sein Besichtigungs-
programm aufgenommen.
Zunächst Hastieres, wo die um 900 von irischen Mönchen gegrün-
dete ehemalige Benediktinerabtei ein bemerkenswertes Beispiel ottoni-
scher Baukunst darstellt. Die ältesten erhaltenen Bauteile (Turm, Schiff
und Krypta) gehen auf die Jahre 1033-1035 zurück.
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Hasti&re. Die ehemalige Abteikirche
In der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde der romanische Chor
durch einen Bau im gotischen Stil ersetzt, wobei Romanik und Gotik
eine harmonische Verbindung eingingen.
Die bemerkenswerten Chorgestühle mit ihren Miserikordien entstan-
den 1443.
Der Besuch der ehemaligen Abteikirche gab dem Reiseleiter die Ge-
legenheit, auf die Besonderheiten der Architektur und der Inneneinrich-
tung hinzuweisen. Erwähnen wir nur die merowingischen Grabsteine
in der Krypta, das Kreuzgratgewölbe der Chorpartie, die Reste romani-
scher Fresken aus dem 12. Jh. sowie Skulpturen aus der Renaissance-
Zeit:
15
Ein 1983 von Readers Digest veröffentlichter Reiseführer („La Bel-
gique Buissonni@re“) stellt Schloss Ve&ves in Celles a. d. Lesse als ein
Märchenschloss dar: „Es war einmal ein wunderbares Märchenschloss
mit dicken Mauern und fünf Türmen, deren spitze Kegelhauben die
Täler von Ry und Mirande überragten...‘“
Vöves, liebevoll auch „Dornröschenschloss‘ genannt, war im 8. Jahr-
hundert ein Lehen des Pippin von Herstal, des Vaters Karls des Großen.
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Das „Märchenschloss‘“ Ve&ves
Im 12. Jahrhundert ließen die Grafen von Liedekerke-Beaufort eine
Burganlage errichten. Diese Familie blieb über Jahrhunderte im Besitz
von Vöeves, das mit seiner Einrichtung (Möbel, Porzellan, Waffen, Ge-
schichtszeugnisse...) einen schönen Einblick in die Wohnkultur vergan-
gener Zeiten bietet. Aus seiner langen und bewegten Geschichte hat das
Schloss Erinnerungen aus 1200 Jahren aufbewahrt und bietet eine An-
thologie der Wehr- und Prestige-Architektur. V&ves lebt durch die Viel-
zahl der ausgestellten Objekte. Das Schloss ist auch als Kulturzentrum
ein Anziehungspunkt.
Die Grafen von Liedekerke-Beaufort, die die Burg seit ihren Anfän-
gen bewohnt hatten, haben dieselbe im 19. Jahrhundert für einen kom-
fortableren Neubau in Noisy aufgegeben.
116
Nach Hasti&res und V&ves führte die Maasfahrt uns nach Fre$r, des-
sen Schloss aus dem 18. Jh. in den für das Maastal typischen Baumateri-
alien (Backstein mit Tür- und Fenstergewänden aus Kalkstein) errichtet
wurde.
Frejr liegt in einer schönen, von Le Nötre inspirierten Parkanlage, die
mit ihren Wasserspielen, der Orangerie und dem kunstvollen Schmiede-
werk europaweit bekannt ist. Besonders beeindruckend sind auch die
auf dem gegenüber liegenden Maasufer sich erhebenden schroffen Fels-
partien.
„Das Plätschern der Springbrunnen, der Duft der 300 Jahre alten
Orangenbäume und die 6 km langen labyrinthförmigen Laubengän-
ge werden Jung und Alt begeistern“. So ein Auszug aus einem für die -
Schlossbesucher bereitliegenden touristischen Faltblatt.
Frejyr war ehemals Sommerresidenz der Herzöge von Beaufort-Spon-
tin, die hier über 20 Generationen gelebt und Schloss und Parkanlage
liebevoll gestaltet haben. A
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Fre$r im Tal der Maas besitzt ein besonders mildes Mikroklima. Hier wurde
früher sogar Wein angebaut. Das Renaissance-Schloss erhielt sin heutiges
Aussehen im 18. Jh. Das „Mini- Versailles“ einige Kilometer unterhalb Dinant ist
„ein zeitloser Ort“.
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