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Im Göhltal
ZEITSCHRIFT der
VEREINIGUNG
für
Kultur, Heimatkunde und Geschichte
im Göhltal
N 6
DEZEMBER 1969
Vorsitzender : Peter Zimmer, Kelmis, Siedlung P. Kofferschläger, 10.
Sekretärin : Frl. Georgette Xhonneux, Neu-Moresnet, Lütticher Straße, 168
Tel. 59.467
Lektor : Alfred Bertha, Hergenrath, Bahnhofstraße 20 b
Schriftleiter : Jules Aldenhoff, Gemmenich, Craborn 9 A.
Kassierer : Fritz Steinbeck, Kelmis, Kirchstraße, 20
Bankkonto 251.251 der Soci&t&€ Generale de Banque, Verviers (P.S.K. 695)
Die Beiträge verpflichten nur ihre Verfasser.
Alle Rechte vorbehalten.
Entwurf des Titelblattes : Frau Pauquet - Dorr, Kelmis.
Diese Skizze zeigt den Moresneter Göhlviadukt sowie die Hergenrather
Hammerbrücke in ihrer ursprünglichen Form.
Druck. : Jacques Aldenhoff, Gemmenich,
Dorwort—
Diesmal hat es uns an Beiträgen wirklich nicht ge-
fehlt. Im Gegenteil. Mehrere sind noch eingereicht worden, als die
vorgesehene Seitenzahl schon ausgefüllt war. Aber aufgeschoben
ist nicht aufgehoben. So werden unsere Leser in der nächsten
Nummer bestimmt zwei Aufsätze zum 50. Jahrestag des An-
schlusses von Kelmis an Belgien finden, ferner einen Beitrag
über die Geschichte des Altenberges und verschiedene Gedichte.
Bis dahin aber wird sich das Jahr wieder einmal
gewendet haben. Zu diesem bevorstehenden Jahreswechsel und
dem voraufgehenden Weihnachtsfest bedenken wir unsere Leser
mit den
FREUNDLICHSTEN GLÜCKWÜUÜNSCHEN.
Der Schriftleiter,
5
Art, erlaubten eine hinreichend genaue Datierung in die Mitte
des 12. Jahrhunderts (2).
Es ist sogenannte ”Pingsdorfer” Ware, eine weit verbrei-
tete Gefäßgattung, die auch in Eynatten getöpfert wurde (3) :
hart gebrannte Krüge mit kleinen Ausgabehenkeln und Ausgußtül-
len, Becher und Schüsseln, teils auf der Scheibe gedreht, teils
freihändig aufgewulstet. Die unglasierte Wandung ist mit auf-
gemalten rotbraunen Schlingen- und Strichmustern geschmückt.
In großen Mengen wurde diese Ware im holländischen Orte
Brunssum-Schinveld hergestellt (4), wo sich auch die Möglich-
keit einer absoluten Datierung ergab, die es erlaubt, die Scher-
ben vom Krickelberg und damit die Eisenschmelze zeitlich einzu-
ordnen. Trotz sorgfältiger Sondierung in der Umgebung des
Schlackenhügels wurde der zugehörige Schmelzofen bisher nicht
gefunden. Er muß sich in der Nähe befinden, da die Schlacken
so heiß ausgeschüttet wurden, daß sie den Lehmboden intensiv
röteten.
Leider mußte die aussichtsreiche Grabung nach Einspruch
des Bürgermeisters der Gemeinde Eynatten, Eigentümerin des
Geländes, eingestellt werden, der ebenfalls eine kurze Schürfung
des staatlichen Grabungsdienstes im Gelände der Töpferei des
12. Jahrhunderts neben dem Friedhof an der Lichtenbuscherstra-
ße nicht zuließ. Dort waren EEE ME A
bei der Anlage des Friedhofs N
außer Keramik des 12. und N nn
13. Jahrhunderts ebenfalls Ei- nn N
senschlacken gefunden wor- | N .
den (5), wie sie auch auf der EEE NN
Hauswiese Lichtenbuscher- x
straße 41 (Nelessenhaus), zu- | BE
sammen mit Scherben des 15. {1 De
Jahrhunderts, reichlich zu Ta- A b
N YO
ge kamen (6). N N
Eine weitere datierbare
mittelalterliche Eisenschmelze
sicherte die 1968/69 durch- Gußtiegel, Vulkanisches Gestein aus der Eifel.
geführte Grabung im Unter- Höhe : 16 cm, Durchmesser 23 cm.
grund des 1583 errichteten Er an des Annexbaus der
Annexbaus der Burg Raeren. Burg Raeren.
Dort fanden sich in einer U
7
Die Besiedlung im Gebiet der
ehemaligen Herrschaft KELMIS, (II)
Fortsetzung
von Firmin PAUQUET
Die Besiedlung in Kelmis um die Wende zum 18. Jahrhundert
(1705)
Im Jahre 1705 wird im gesamten Herzogtum Limburg eine
allgemeine Aufnahme der zugunsten des herzoglichen Schatzes
besteuerten Güter durchgeführt (38). Die Pfarre Moresnet mit
Kelmis zählt damals 86 Häuser, 278 Bunder waeze, d.h.
Grünland, und 168 3/4 Bunder Land, volgens rapport
sedert 1693 (39). Seitdem sind noch 88 Bunder uyt de ge-
meente inerffgereduceert worden - meistens wohl
in Grünland - so daß im Jahre 1705 535 Bunder bewirtschaftet
werden. Diese allgemeine Aufnahme der Grundgüter wird an-
schließend bis 1714 mehrfach Korrekturen unterzogen. Aus die-
ser Zeit stammt wohl auch das Vuytreeck der huysen
onder de jurisdietie Kelmis.om: deselve. te
voeghen volgens versoeck by het nieuwe
rapport der goederen gelegen onder desel-
ve jurisdictie (40).
Von den damals bestehenden Häusern sind :
7huysken met staellken,wovon 1 verval-
len ist
1huysken met staelken ende schuyrc-
ken
S5Shuysken metstael, davon 1 vervallen
huysken
1 wel huysken met stael
12 huysen met stael
1huys met stallingen
3Sı'huysen;schuyr. en stal
3huysen, schuyr en stallingen, darunter
1 mit Brauerei
Die sieben Bauernhöfe, die eine Scheune besitzen, liegen
alle im ältesten besiedelten Teil, unfern der beiden Ufer der
Göhl und auf der westlichen Talterrasse : 2 unten in der Heide
(Stefen Heyendael : heute N" 52; Jan Dobbelstein : heute viel-
leicht N" 42); 3 im Hof (Lennards Loop, Jan Slotmecker met
Jan Gast, Hendrick Raermecker weduwe); 1 op den Jon-
genbosch (erffgenooten Jan Nyssen) und 1 op de Straet
8
(weduwe Lambert Franck : heute Hirtz N" 221). Der Aufsteller
bemerkt übrigens, daß de rest (26 Häuser) voor het
meester deel clyne huyskens sind, daer in-
ne syn woonende d’arbeyders van syne Ma-
jesteytes Calmyaberch, die aldaer‘ kennen
daegelycxen cost ende levens middelen ge-
winnen.
Gelegentlich einer am 8. Januar 1711 vor dem Schöffen-
gericht stattfindenden Untersuchung erfahren wir die Namen von
50 ehemaligen und damaligen Arbeitern am Altenberg (41).
Unter denselben befinden sich 8 Hausbesitzer, Dieselben trifft
man auch unter den 22 Bergarbeitern, die am 2. April 1718
bzw. am 27. Mai 1720 vom brabantischen Generalprokurator .
verhört werden (42). Vier dieser acht Bergarbeiter und Hausbe-
sitzer können ihren Namen unterschreiben. In diesen Verzeich-
nissen der Bergarbeiter von 1711, 1718 und 1720 liest man
noch die Namen von 17 möglichen Verwandten von 12 der 33
Kelmiser Hausbesitzer, so daß möglicherweise insgesamt 25
Bergarbeiter in 16 der 33 Kelmiser Häuser wohnen.
Von den 33 Häusern gehören 13, d.h. 39%, gemeinsam
zwei oder mehreren Eigentümern. Diese eigenartige Lage ist
wohl durch Erbschaften verursacht.
Unter den Hausbesitzern erkennt man die Kelmiser Schöf-
fen Steffen Heyendael (1668-1699), vorhin voerspreker,
also Anwalt (1667), Steven Raermecker (1693-1715), Reynart
Gast (1709-1741), auch königlicher Förster (1720), und Jan
Dobbelsteen (1725-1737), vorhin Kelmiser Schultheiß (1689-
1693) (43).
Vergleich des Häuserverzeichnisses von 1705 mit den älteren
Verzeichnissen
Im Vergleich zum Jahre 1686 hat sich die Anzahl der Häu-
ser im Moresneter Teil der Herrschaft Kelmis von 41 auf 33
verringert. Da inzwischen von Steuerpflichtigen, die 1686 wohl
Grund, aber kein Haus besaßen, sechs neue Häuser gebaut wor-
den sind, so muß die Zahl der 1686 bestehenden Häuser um 14
gesunken sein. Darunter sind 5 Häuser, die man schon 1627
identifizieren kann, eins, das 1651 erwähnt wird, und 8, deren
Besitzer erst 1686 bekannt werden.
Zwei der 14 verschwundenen Häuser werden jetzt jeweils
mit zwei der noch bestehenden als gemeinsamer Besitz zweier
Eigentümer erwähnt (im Vogelsang und Mükenberg). Daher
9
ist die Frage berechtigt, inwiefern das Verzeichnis von 1686
nicht Hausanteile mit Häusern durcheinander angibt, sodaß in
Wirklichkeit die Anzahl Häuser nie 41 erreichte und infolgedes-
sen von 1686 bis 1705 weniger als 14 Häuser verschwanden.
Bei der dürftigen Information, die die Quellen liefern, bleibt
diese Frage offen.
Die Änderungen in der Besiedlung von 1686 bis 1705 las-
sen sich folgendermaßen einordnen :
Jongenbosch 4" 51 Haus
Hof + 1 Haus
im Koch, op den berg — 1 Haus
in den dyck — 1 Haus
Viggenhof — 1 Haus
Krickelstein En 5 A — 2 Häuser
Heide + Haug / — 3 Häuser
Kelmiserheide + 2 Häuser / — 4 Häuser
Merkwürdig ist auch, daß das neue Haus im Hof einem im Jahre
1651 ebenfalls im Hof begüterten Hausbesitzer gehört, der 1686
als Grundeigentümer ohne Haus angegeben wird. Vielleicht war
das alte Haus bei den Brandschatzungen eingegangen und ein
Neubau erst zwischen 1686 und 1705 entstanden.
Die jetzt noch bestehende Häusergruppe im Hof - Gemein-
de Moresnet - bewahrt noch einige reizende Fachwerkbauten,
die aus dieser Zeit stammen mögen. Dasselbe galt für den alten
Fachwerkbau am Jongenbosch, der vor ca. 10 Jahren den mo-
dernen Stallungen weichen mußte. Stilistisch entsprechen diese
Fachwerkhäuser dem maasländischen Louis XI11-Stil, dem Über-
gangsstil der Jahrhundertwende. Als Merkmale dieses Stils gelten
der Verzicht auf kleine Strebekreuze, der Gebrauch von längeren
Streben, die Anwendung größerer Fensteröffnungen, die auch
nicht mehr so nah aneinander angelegt werden (43a).
Als mögliche Ursache des eventuellen Verschwindens von
über einem Drittel der Häuser in zwanzig Jahren können krie-
gerische Ereignisse und ihre Folgen gelten, obschon keine Nach-
richt von Plünderungen und Brandschatzungen in dieser Zeit
vorliegt. Immerhin ist bekannt, daß im Pfälzer Erbfolgekrieg
(1688-1697) pfalz-neuburgische Truppen im Jahre 1692 vier-
zehn Tage lang in der Kelmiser Heide lagern. In den folgenden
Jahren tritt eine Teuerung ein (44). Die große Armut verur-
sacht wiederum die Entstehung von Räuberbanden, wie die
10
”eiserne Hand”, die um 1694 in der Gegend ihr Unwesen treibt
(45).
Am 18. September 1692 melden die Annales Rodenses ein
starkes Erdbeben, bei welchem mehrere Schlösser und Häuser
zerstört wurden. Schloß Crapoel bei Walhorn stürzte völlig zu-
sammen, und die Montzener Pfarrkirche wurde schwer beschä-
digt. Dieses Erdbeben kann vielleicht auch in Kelmis Schaden
verursacht haben (46).
Kurz vor Ausbruch des spanischen Erbfolgekrieges (1702-
1713) (47) lagern 7000 Franzosen unter dem Grafen Tallar vom
17. September bis zum 20. Oktober 1701 in Moresnet (48). Die
dadurch für die Einwohner - habitants de la calmin-
ne et village de Moresnet - entstandenen Lasten |
scheinen selbst den Franzosen drückend genug, um dem Antrag
dieser Einwohner auf Befreiung von der Fronarbeit beim Lager
von Argenteau bei Vise am 18. Dezember 1701 stattzugeben.
Der Herr De Gimenez, der die Befreiung bewilligt, bemerkt,
daß die Kelmiser und Moresneter die bei ihnen gemachten Ver-
schanzungen notwendigerweise selbst beseitigen müssen (49). In
den ersten Kriegsjahren marschieren die alliierten Truppen unter
John Churchill, Herzog von Marlborough, von Lüttich aus ins
Limburgische ein und nehmen am 27. September 1703 nach
18tägiger Belagerung (50) die Feste Limburg. Nach dieser Er-
oberung durch die Verbündeten wird die Zivilverwaltung im Her-
zogtum Limburg dem Österreichischen Habsburger Karl III.,
dem späteren Kaiser Karl VI. (1711-1740), übertragen. Eine
der ersten Aufgaben, die sich die neue Verwaltung stellt, ist
übrigens ab 1704 die Aufstellung der allgemeinen Matrikel für
das gesamte Herzogtum.
Von den 33 im Jahre 1705 bestehenden Häusern befinden
sich 13 - nach eventuellem Wiederaufbau - an Hausstellen aus
dem Jahre 1627; wahrscheinlich stammen auch mehrere aus
diesem Jahre. Vier weitere Häuser kommen an Hausstellen von
1651 vor (eins davon war aber 1686 nicht angegeben) und 11
an Hausstellen von 1686. Seit diesem Jahr sind nur 5 neue Häu-
ser zu verzeichnen. Bauherr ist jeweils ein im Jahre 1686 ange-
gebener Grundbesitzer.,
Unter den 8 Bergarbeitern, die als Hausbesitzer aus dem
Jahre 1705 identifiziert werden, sind vier schon 1686 Hausbe-
11
sitzer, und zwei weitere waren damals Grundeigentümer ohne
Haus. Es ist wohl anzunehmen, daß sie inzwischen ein Haus
auf ihrem wahrscheinlich aus dem Gemeindegrund erworbenen
Grundstück aufgezimmert haben. Die Anzahl der Bergarbeiter,
die in der Nähe des Altenberges ein Haus besitzen, bleibt also
noch gering. Sie stellt knapp ein Viertel aller Hausbesitzer von
Kelmis-Moresnet dar, Immerhin ist die Anzahl der Kelmiser
Hausbesitzer, deren Verwandte möglicherweise am Altenberge
beschäftigt sind, seit 1651 verhältnismäßig gestiegen :
1627 : 12 der 47 Steuerpflichtigen (25%) sind (5) oder haben
womöglich Verwandte unter 18 Bergarbeitern
1651 : 10 der 28 Hausbesitzer (36%) sind (6) oder haben wo-
möglich Verwandte unter 14 Bergarbeitern
1686 : 18 der 84 Steuerpflichtigen (21%) sind (6) oder haben
womöglich Verwandte unter 27 Bergarbeitern
1705 : 16 der 33 Hausbesitzer (48%) sind (8) oder haben wo-
möglich Verwandte unter 25 Bergarbeitern.
Alle diese Zahlen gelten für den Teil der Herrschaft Kel-
mis, der zur Pfarre Moresnet gehört. Für Kelmis-Montzen fehlen
die Angaben, welche einen ähnlichen Vergleich ermöglichen
würden. Interessant ist die Feststellung, daß die Zahl der Steuer-
pflichtigen bedeutend mehr gestiegen ist als die Zahl der Haus-
besitzer, daß aber der Prozentsatz der Beroarbeiter und deren
Verwandter unter den Steuerpflichtigen eher zurückgegangen ist.
Für die Hausbesitzer ist genau das Entgegengesetzte festzustel-
len. Die Erklärung hierfür scheint mir darin zu liegen, daß mehr
Auswärtige in Kelmis Grundeigentümer geworden sind, ohne
Hausbesitzer zu werden.
Entwicklung im Laufe des 17. Jhs.
Folgende Tabelle vermittelt ein gutes Bild von der Ent-
wicklung der Besiedlung im Zusammenhang mit der in Nr. 2
dieser Zeitschrift, S. 26-27, veröffentlichten Karte, die die Be-
siedlung im Jahre 1651 darstellt.
1445 1469 1546 1627 1646 1651 1686 1705
Kelmis-Walhorn 13 ca9 caS5
Kelmis-Montzen 6 11 9 9
Schmalgraf 1 1
Schnellenberg 1 1
Pelsershof % 2
Hof 2 2
Dorp 3 2
N
1445 1469 1546 1627 1646 1651 1686 1705
Kelmis-Moresnet 11 call 24 28 41 33
op de Straet 4 4 b 3
Jongenbosch 1 1 X 2
Hof 4 4 3 4
Euwelen 1 % - -
in den dyck - 2 2 1
Peter Schyns hof - - 1 }
Viggenhof - - 1 -
Vogelsang 2 2 2 }
Koch + Kröschelberg + 5 4 3
Heide &) 6 "12 9
Mückenberg + Krickelstein 3 3 4 3 ;
Kelmiserheide - - 3 3
Plaetzegel - - 3 1
Nach den zahlreichen Zerstörungen durch die Franzosen in
der zweiten Hälfte des 17. Jhs sind die Häuser in Kelmis wieder
schnell aufgezimmert worden. Die Kriegsjahre um die Jahrhun-
dertwende haben nicht mehr so schwere Folgen gehabt. Ent-
scheidend für das Siedlungsbild nach den Verwüstungen ist die
Ausdehnung nach Osten in die Kelmiser Heide hinein. Merk-
würdig ist auch, daß dabei ein allmählicher Übergang von der
Weilersiedlung zur Einzelhofsiedlung spürbar wird. Diese letz-
tere Form wird sich als typische Streusiedlungsform des Herver
Landes später auch im hiesigen Randgebiet ganz durchsetzen.
Eine weitere Änderung ist in der Bauweise zu verzeichnen :
die Fachwerkbauten weichen allmählich den Steinbauten, die ja
viel widerstandsfähiger sind, wenn ihre Errichtung auch mehr
Anstrengung erfordert. Vielleicht haben dabei die Verwüstungen
des Holzbestands in den andauernd in Anspruch genommenen
Waldungen mitgewirkt. Die ältesten Steinbauten, die noch im
Stil der maasländischen Renaissance gebaut werden, habe ich
schon früher besprochen. Ich erinnere nur daran, daß die drei
datierten aus dem ausgehenden 17. Jh. stammen : Hirtz (1684),
Hof Kelmis unter Montzen (1695 und 1696). Aus dem Anfang
des 18. Jhs stammen keine datierten Bauten.
13
Quellennachweis,
(38) Staatsarchiv Lüttich, Herzogtum Limburg, 525 (1704-1714) Nr. 2:
Ancienne matricule des Etats noble et tiers du Duch€, ohne Datum ;
542,543.
(39) 1 Bunder = 400 Ruten = 87,17814 Ar.
(40) Staatsarchiv Lüttich, Herzogtum Limburg, 885 : Prozess Kelmis
- Moresnet
(41) Allgemeines Reichsarchiv Brüssel, Finanzrat, 87,
(42) Allgemeines Reichsarchiv Brüssel, Finanzrat, 1194.
(43) Staatsarchiv Lüttich, Schöffenamt Moresnet, Gerichtshof Kelmis,
DW
(43a) PUTERS (Albert), L’architecture privee dans la region vervietoise.
Troisieme partie : le style Louis XIII, in BULLETIN DE LA SO-
CIETE VERVIETOISE D’ARCHEOLOGIE ET D’ HISTOIRE,
Bd. 44, Verviers, Gerard, 1957, S. 205-310. Besonders S. 218 : Le
pan de bois. Im Herzogtum Limburg ist die Anwendung des Louis-
XII zwischen 1669 und 1753 bezeugt.
(44) Pfarrarchiv Montzen, Chronik des Pfarrers Joannes Birven (1691-
1725) :
S.8 (1692) : die neuenburgische armee ad 13.000
man starck ist ad 15 tagin die Kelmiserheydt
gelegen und uns mit foragiren und funßensehr
beunruhiget. -
S 10: die schwere kriegzeit, welche nun lan-
ge jaren zwischen den teutschen und franzo-
sen gewerct hatte, wie auch die große theure
zeit, welcke mit diesen jahr (1692) den anfang
genohmen hat und gecontinuirt biß daß jahr
16995 also daß ein’ fat“ (="30,712 L)- Kofn 8795
auch 10 schillingen gegolden hat, diese sehr
arme zeiten haben unß viel verhindert.
Der normale Preis des Fasses Korn beträgt 4 Schilling.
Um einen Damm gegen die Eroberungen Ludwigs XIV. zu bilden,
gründen im Jahre 1688 viele europäische Fürsten auf Anregung
des niederländischen Statthalters Wilhelm III. von Oranien die
Augsburgische Liga. Als im September 1688 nach Aussterben der
Linie Pfalz-Simmern im Mannesstamm die Franzosen Ansprüche
der Schwägerin des Sonnenkönigs, Liselotte von der Pfalz, auf
dieses Gebiet geltend machen und die Pfalz kurzer Hand erobern,
bricht der Krieg aus. Durch seine Lage an der Grenze des seit 1614
mit Pfalz-Neuburg vereinigten Herzogtums Jülich-Berg ist Lim-
burg schnell von den mit seinem Herzog, dem König von Spanien
Karl II., verbündeten Pfalz-Neuburgischen als Deckung ihres eige-
nen Landes für kriegerische Maßnahmen in Anspruch genommen.
(45) GIELEN (Viktor), Die Mutterpfarre und Hochbank Walhorn, 2.
Auflage, Lüttich, Desoer, 1965, S. 43-44.
14
(46) ANNALES RODENSES bei ERNST (Simon-Pierre), Histoire du
Limbourg suivie de celle des comte&s de Dalhem et de Fauquemont
et des annales de Rolduc, publie par E. Lavalleye, Liege, 1837-
1847, Bd. 7, S. 212.
GRONDAL (Guillaume), Walhorn, Notices historiques, in BULLE-
TIN DE LA SOCIETE VERVIETOISE D’ARCHEOLOGIE ET
D’HISTOIRE, Bd. 45, Verviers, Kaiser, 1958, S. 99,
XHONNEUX (Pierre), Monographie historique de la commune et
paroisse de Montzen, unveröffentlicht.
(47) Der letzte spanische Habsburger, Karl II., bestimmte als alleinigen
Erben der spanischen Krone den Franzosen Philipp, Herzog von
Anjou, einen Enkel Ludwigs XIV. Nachdem die Regierung der
spanischen Niederlande, einschließlich Limburg, ab Dezember 1700
im Namen des neuen spanischen Königs Philipp V. von den Fran-
zosen übernommen wird und französische Truppen überall in den
Niederlanden Stellung genommen haben - in Limburg ab August 8
1701 -, erklären der Kaiser, England und die Republik der Ver-
einigten Niederlande im Mai 1702 Frankreich und Spanien den
Krieg.
(48) Pfarrarchiv Montzen, Chronik des Pfarrers Joannes Birven, S. 19
1701 : die fransose ad 7.000 zu Moresnet gele-
gen von 13 septembris biß den 20 octobris.
vooren haben sie noch lang bey Limburg ge-
legen und hatt man bey 2.000.000 rationen an heu
und strohe müßen lieberen. in diesen jahr hatt
man Limburg wieder angefangen aufzubauen;
welches vor 26 jahr ungefehr gantz ist gera-
siret gewesen, waerby das landt sehr geguelt
ist worden, doch hatt man die häußer niema-
len gequibiret, auch sogaer in Moresnet niet.
(49) Privatarchiv. Ein Herr de Ximen®s ist Platzkommandant von Na-
mür im Februar 1703.- THISQUEN (Joseph), Histoire de la ville de
Limbourg, BULLETIN DE LA SOCIETE VERVIETOISE D’AR-
CHEOLOGIE ET D’HISTOIRE, IX-X, Verviers, Feguenne, 1907,
Bd. 1, S. 86.
(50) THISQUEN (Joseph), siehe (49), S 87-96.
Staatsarchiv Lüttich, Herzogtum Limburg, 314.
15
Enstehung und Entfaltung der Wallfahrt
zu Moresnet (Eichschen) 1741-1904
Fr. Darcis, Pfarrer i. R. +, Moresnet
Vorwort : Im Anhang einer alten Chronik, welche im Franzis-
kaner Kloster zu Moresnet aufbewahrt wird, befindet sich - unter
Angabe der jeweiligen Jahreszahl - eine in gotischer Schrift und
in Telegrammstil verfaßte Zusammenfassung der wichtigsten
Ereignisse des Wallfahrtsortes. Das Dokument nimmt zwei Seiten
ein. Wir wollen es textgenau wiedergeben und, wo angebracht,
aus der ausführlichen Chronik entnommene Ergänzungen hinzu-
fügen.
1741 (10. Sept.) Geburtstag des Stifters des hiesigen Wallfahrts-
ortes : Peter Arnold Frank, (sic)
Etwa gegen 1740 lebte im kleinen Weiler ”Sier” bei Mo-
resnet ein tugendhaftes Ehepaar (Lambert Frank und Elisabeth
Pelzer). Sie hatten 7 Kinder, von denen sich Peter Arnold beson-
ders durch Frömmigkeit auszeichnete.
Infolge eines heftigen Erdbebens wurde Peter von der Fall-
sucht befallen.
Im Jahre 1748 schenkte ihm eine Frau, die regelmäßig nach
Aachen ging, eine Muttergottesfigur, eine aus Tonerde gebrannte
Statue ”Maria mit dem Kinde”. Im nahen Walde befestigte er
eine kleine Nische aus Holz an einen Eichenbaum und stellte
darin die kleine Statue auf (1750).
Täglich betete der Knabe vor dem Bild um Heilung, und
des Kindes Vertrauen fand Erhörung. Die Anfälle verschwanden
nach und nach.
1760 : Gründung der Wallfahrt ”Maria-Hilf am Eichschen”.
Das Gnadenbild stand mehr als 60 Jahre in einer Nische an
einem altem Eichenbaum, daher die noch heute dem Volks-
munde bekannte Bezeichnung ”am Eichschen”,
Die Jahreszahl 1760 kommt nicht vor in der Chronik, und
von einer offiziellen Gründung der Wallfahrt ist auch keine Rede.
In der Gnadenkapelle steht eine Mosaik-Terrazzo-Platte
mit folgender Inschrift : ”Hier stand die Eiche mit dem Gnaden-
bilde vom Jahre 1750 bis 1823.”
17
damaligen Ortspfarrers zogen die Bewohner, den Rosenkranz be-
tend, jeden Abend zur Helferin der Christen. Nach wenigen Ta-
gen waren es schon 100 Beter. Die Seuche nahm mehr und mehr
ab und war bald verschwunden.
Das Familienarchiv des Bürgermeisters Schmetz von Mo-
resnet berichtet von einer Viehseuche im Jahre 1797 im benach-
barten Hergenrath. Sie war so schlimm, daß einige Bauern ihr
letztes Stück Vieh verscharren mußten. In dieser großen Not
kam man in großen Scharen von nah und fern in Prozession zum
Gnadenbilde. Auch die Soldaten der französischen Besatzung
wurden vom Volke bewogen, zu Maria, der Helferin der Christen,
zu beten.
1796 - 1798 : Infolge der Revolutionswirren wurde das Gna-
denbild an sicherem Orte verborgen.
Auch die hiesige Gegend wurde von französischen Truppen
besetzt, und so sagt die Chronik : ”Die Revolutionsmänner übten
ihren Haß aus an Kirchen und Klöstern und an all dem, was
auf öffentlichen Plätzen und Wegen an den frommen Sinn der
Bewohner erinnerte”. (Siehe auch ”Eupener Land” von Viktor
Gielen, Seite 41 ff.) Weiter sagt die Chronik : ”Um das geliebte
Muttergottesbild vor Entweihung und Vernichtung zu bewahren,
verbarg man es in einer mit soliden Verschlüssen versehenen
Kiste”.
1801 : (31 Dezember) Der fromme Stifter stirbt eines plötzlichen
Todes bei Hergenrath, Sein Grab befindet sich auf dem Kirch-
hof im Dorfe Moresnet,
Auf der Rückkehr von einem Bittgang nach Walhorn, hauchte
der treue Diener des Herrn und der himmlischen Königin seine
fromme Seele aus. In der Nähe von Hergenrath starb P. Arnold
eines plötzlichen Todes. Der Stifter des Wallfahrtsortes hat seine
letzte Ruhestätte auf dem Kirchhofe des Pfarrdorfes Moresnet
gefunden. Genaue Angaben über seine Grabstätte waren trotz
eifriger Nachforschungen nicht zu erlangen. Wohl kennt man
die Stelle wo P. Arnold gestorben, zwischen Hergenrath und
Kelmis. Denn nicht weit vom Hergenrather Friedhof steht an
einem alten Baum ein eisernes Erinnerungskreuz mit folgender
Inschrift : ”Hier starb ...”
18
1823 : Die erste Kapelle wird erbaut. Fachwerkbau, mit einem
Fenster an jeder Seite.- Das Gnadenbild erhält ein seidenes Ge-
wand und fand seinen Platz auf dem Hochaltar, Um diese Zeit
ließ sich der erste Klausner neben der Kapelle nieder,
1818 brach wieder eine Viehseuche aus, diesmal in Hom-
burg, dessen Bewohner ihre Zuflucht zum Gnadenbild nahmen
und auch erhört wurden. Da die Zahl der Pilger ständig zunahm,
wurde ein Komitee gebildet mit dem Auftrag, eine kleine Kapel-
le zu bauen. Es wurden Almosen gesammelt, und 1823 kam die
erste Kapelle zustande.
Das Gnadenbild wurde mit einem seidenen Gewand um-
hüllt und fand Aufstellung in einer kleinen Nische auf dem .
schlichten Altar. Dieser Altar steht heute in der Taufkapelle der
Pfarrkirche zu Moresnet.
Die Eiche wurde, laut Mitteilung der Bauarbeiter, in der
Gnadenkapelle, und zwar hinter dem Hochaltar, eingemauert.
Die Kapelle war ein Fachwerkbau von 6 m Länge und 5,20 m
Breite, mit je einem Fenster an den Längsseiten.
Mit der Pflege der Gnadenstätte betraute man einen Ein-
siedler, namens Gordes, dessen selbsterbaute Klause heute noch
neben dem Kloster steht. Diesem Klausner folgten andere Män-
ner, die die Gnadenkapelle bedienten, unter anderen ein ehema-
liger Lehrer von Moresnet, Peter Joseph Thimister. Der letzte
Eremit trat 1876 als Bruder Alexis in den Franziskanerorden
ein.
1829 : Die erste große Prozession St-Jacob aus Aachen trifft ein.
Aachen St-Jacob kann die Ehre für sich in Anspruch neh-
men, die erste kirchlich organisierte Wallfahrt nach Moresnet
unternommen zu haben. Im Jahre 1829 zogen etwa 600 Aache-
ner Marienkinder zu Unserer Lieben Frau, hauptsächlich Mit-
glieder der Maria-Hilf-Bruderschaft der Pfarre St. Jacob.
Seit dieser Zeit erscheint diese Bruderschaft jedes Jahr und
zwar an dem Sonntag, der dem 24. Mai (Fest Maria-Hilf) am
nächsten liegt.
Diese Prozession hat auch in den traurigen Jahren des Kul-
turkampfes keine Unterbrechung erlitten.
19
Bald darauf kam (1830) eine Prozession aus Epen (Nieder-
land) und auch eine aus Moresnet.
1830 : Erweiterung der Kapelle, Sie erhält ein Türmchen und
eine Glocke. Letztere hängt jetzt in der St. Anna-Kapelle zwi-
schen Gemmenich und Bleyberg.
Die Kapelle erwies sich wiederum als zu klein. Man suchte
Abhilfe zu schaffen, indem man an den Bau von 1823 einige
Meter anfügte, sodaß an jeder Seite sich nun zwei Fenster be-
fanden.
Die Verwaltung des Gnadenortes durch ein Lokal-Komitee
ging nunmehr in die Hände des Ortspfarrers von Moresnet über.
Ebenso wurde für ständige Seelsorge am Gnadenorte gesorgt.
Alltäglich wurden die Anwohner der Kapelle durch eines Glöck-
chens Silberstimme zum gemeinsamen Gebete gerufen.
1831. In Folge der Choleraplage starker Andrang von Pilgern.
Der Pfarrer von Moresnet, Hr. Philipp Kaulmam liest die erste
Messe im der Gnadenkapelle,
Das Jahr 1831 bildet in der Geschichte des Wallfahrtsortes
einen bedeutenden Wendepunkt. Das Moresneter Ländchen wur-
de von der Choleraplage heimgesucht.
Die angsterfüllte Menschheit suchte wieder Trost und Hilfe
bei der lieben Frau vom Eichschen. In Scharen, prozessionsweise,
kamen die Pilger aus Belgien, Deutschland und Holland zur
Helferin der Christen,
Angesichts dieser mächtigen Kundgebung zögerte die kirch-
liche Behörde nicht länger, den Gnadenort zu einem öffentlichen,
kirchlich sanktionierten Wallfahrtsorte zu erheben. Mehrmals in
der Woche wurde in der vergrößerten Kapelle die hl. Messe ge-
lesen. Am 4. September 1831 hielt der damalige Ortspfarrer von
Moresnet, Hw. Philipp Kaulmann, die erste hl. Messe.
1863 : Gründung der Mittwochsprozessiom (Aachen-Brandt)
Mehrere Daten sind es besonders, die ab 1863 Marksteine
in der Entwicklung des Gnadenortes bilden. Zunächst im genann-
ten Jahr die Gründung der Aachener Mittwochprozession. Sie
hat sich all die Jahre hindurch, trotz Unbilden der Witterung,
allwöchentlich unter starker Beteiligung erhalten. Im Jahre 1903
gab es etwa 4.000 Teilnehmer. An manchen Tagen im Monat
20
Mai, in der Fastenzeit, an Buß- und Bettagen gehen die Aachener
Pilger in die Hunderte,
1866 : Bedeutender Zufluß der Pilger aus Deutschland, Wegen
der Choleragefahr eilen viele Pilger nach Moresnet. 1870. Zufluß
wegen des Krieges,
Im Kriegsjahr 1866 (Preußen - Österreich) wallfahrten vie-
le aus den deutschen Dekanaten nach Moresnet. Die Zahl der
Pilger stieg noch mehr, als sich zu den Leiden des Krieges auch
noch die Schrecken der Cholera gesellten. Glücklicherweise blieb
die hiesige Gegend diesmal von der Seuche verschont.
Während des deutsch-französischen Krieges, im Jahre 1870,
eilten viele deutsche Landsleute zu U. Lieben Frau von Mores- .
net, um Schutz und Segen zu erbitten für das Vaterland, sowie
für die auf dem Schlachtfelde kämpfenden Angehörigen oder
Freunde,
1873 : (13. Mai) Einweihung des gegenwärtigen Oktogons durch
Hw, Pfarrer Schmetz., - Etwa 30.000 Pilger aus Aachen, Herr
General-Vikar Warblings (Lüttich) hält die Festpredigt vor einer
großen Pilgerschar im Freien.
Von besonderer Bedeutung für Moresnet war auch das Jahr
1873 insofern, als die schon längst notwendig gewordene,
abermalige Vergrößerung der Kapelle in Angriff genommen wer-
den konnte. Anschließend an den Bau von 1823 und 1831 ent-
stand. das jetzige Oktogon. Am 13. Mai 1873 erhielt dasselbe
die kirchliche Weihe. Es kamen etwa 30.000 Pilger aus Aachen
und Umgebung. Zum ersten Male war die bischöfliche Behörde
durch Hw. General-Vikar Warblings vertreten. Es fand ein feier-
liches Hochamt mit Festpredigt im Freien statt. - Große Beteili-
gung der Geistlichkeit aus dem deutschen, belgischen und hol-
ländischen Gebiet. Beinahe alle katholischen Vereine von Aachen
waren vertreten.
1875 : Deutsche Franziskaner beziehen ein Haus am Eichschen
und am 1. Mai 1876 übernehmen sie mit Zustimmung des Diö-
zesanbischofs die Seelsorge am Gnadenorte,
Infolge der Maigesetze von 1875 (Kulturkampf) bezogen
die aus Aachen ausgewiesenen Franziskaner ein Quartier in Mo-
resnet. Nach persönlicher Fürsprache der ehrwürdigen Stifterin
21
der armen Schwestern vom hl. Franziskus, der seligen Franzis-
ka Schervier, und dank den Bemühungen des Bischofs Joh. Th.
Laurent (vormals Pfarrer in Gemmenich) erklärte sich der Diö-
zesanbischof der Lütticher Grenzdiözese, Mgr. Montpellier, be-
reit, den deutschen Franziskanern in seinem Sprengel das Gast-
recht zu gewähren.
Auf Wunsch des Bischofs und mit Zustimmung des Pfarrers
wurde den Patres die Seelsorge an dem Gnadenort anvertraut,
und zwar unter vom Moresneter Kirchenvorstand genau festge-
legten Bedingungen (Sitzung vom 1. Mai 1876).
1879 : Jubelfest des 50-jährigem Bestehens der Aachener Maria-
Hilf Prozession.
Die Wallfahrtsprozession von St. Jacob, Aachen, konnte,
trotz der ungünstigen kirchlichen und politischen Lage in Preu-
ßen, im Jahre 1879 das SO-jährige Jubiläum ihres Bestehens
feiern.
Alle diese Pilger im Laufe der Jahre haben nicht vergeblich
gefleht ; davon geben die vielen goldenen und silbernen Dankes-
zeichen, wie auch die Votivtafeln aus Marmor an der Mauer der
Kapelle ein beredtes Zeugnis.
1879 : (St. Antonius Festtag, 13. 6.) Grundsteinlegung zu der
abermaligen Vergrößerung der Kapelle.
Um dem an manchen Tagen gewaltigen Andrang gewach-
sen zu sein, entschloß man sich im Jahre 1879, das alte Kapell-
chen niederzureißen und einen vollständigen, größeren Neubau
dem Oktogon anzufügen.
Dank dem Edelsinn eines Mitgliedes des Kirchenvorstandes,
nl. P. J. Ernst, Rendant, schritt der Bau rüstig voran, und eine
hübsche Wallfahrtskirche gab schon nach Jahresfrist Zeugnis
vom echt katholischen Opfersinn.
Das nötige Baumaterial (Felsensteine) wurde zum größten
Teil an Ort und Stelle gewonnen. Die Klosterleute besorgten die
Bruchsteine aus dem Walde neben der Kapelle. Das Buch der
Beratungen des Kirchenvorstandes von Moresnet schätzt auf
20.000 Fr. die Summe, die J.P. Ernst der Kapelle geschenkt hat.
22
1880 :.(2. Sept.) Besuch Ihrer Majestät der Königin der Belgier.
Die dem katholischen Kaiserhause Habsburg entstammende
Königin Marie-Henriette von Belgien (Gattin des Königs Leo-
pold IL.) hatte zur Bestreitung der Ausgaben eine wahrhaft fürst-
liche Spende übermitteln lassen. Schon vor Jahren hatte die Für-
stin der ”Trösterin der Betrübten” (sic) mehrmals einen Besuch
gemacht.
1880 : (8. Sept.) Einweihung der neuen Kapelle,
Unter großer Beteiligung des katholischen Volkes fand am
Feste Mariä Geburt, die Einweihungsfeier statt.
Die neue Kapelle schließt sich dem im Jahre 1873 erbauten ;
Oktogon an, letzteres ein regelmäßiges Achteck, dessen Gewöl-
be in einer Kuppelform enden. Sowohl das Schiff als auch das
Chor sind freundlich dekoriert und durch gemalte Fenster strömt
das Licht herein.
Das schöne Chorfenster, ”die Helferin der Christen” dar-
stellend, ist, wie auch die übrigen Fenster, von Wohltätern ge-
stiftet. Ebenso sorgten andere fromme Marienkinder für das er-
forderliche Inventar des neuen Gotteshauses. Das Gnadenbild
selbst erhielt einen neuen Schrein in Tabernakelform.
1880 : (12 Oktober) Besuch des Hw. Herrn Bischofs Doutreloux.
In der Chronik ist keine Rede von diesem Besuch. Der Bi-
schof von Lüttich war auf Firmungsreise in der Gegend und be-
suchte bei dieser Gelegenheit die Patres und den Gnadenort.
Er spendete das Sakrament der Firmung in Kelmis am 18. 10.
1880.
1884 : Neubau des Klosters.
Im Jahre 1884 Wechsel der belgischen Regierung.
Die Patres halten es für notwendig, den Bau eines neuen
Klosterheimes in Angriff zu nehmen. Unter Leitung des Bau-
meisters Br. Cletus Schäfer macht der Neubau raschen Fort-
schritt. Die Ordensleute helfen mit.
Dank den Bemühungen des Herrn Bürgermeisters Schmetz,
des Gemeinderates von Moresnet und der hochherzigen Schen-
kung des Herrn Gerichtspräsidenten Leroux, war es möglich, den
nötigen Platz für Kloster und Kreuzberg zu beschaffen.
23
1887 : (7. Dezember) Die Aachener Mittwochprozession, jetzt
8.000 Mann stark, macht eine besondere Bittwallfahrt für den
erkrankten deutschen Kronprinz, den späteren Kaiser Friedrich
Hl.
8.000 Pilger kommen nach Moresnet, um zu den Füßen der
Helferin der Christen heiße Gebete und innige Wünsche nieder-
zulegen für des deutschen Reiches künftiges Oberhaupt, den ed-
len Dulder Friedrich III., den ein furchtbares Übel, fern der Hei-
mat, auf das Krankenbett geworfen. Entsprechend den Lebensjah-
ren des erlauchten Kranken weihten die Pilger der Mutter Gottes
zwei Kerzen von 50 Pfund Wachs.
1888 : (1. Januar) Deutsche Jesuiten übernehmen die Seelsorge
an Stelle der Franziskaner, die nach Deutschland zurückkehrem.
Der deutsche Staat und die Kirche versöhnen sich. Die Fran-
ziskaner kehren ins deutsche Vaterland zurück. Deutsche Jesuiten
versehen den Dienst in der Gnadenkapelle mit demselben Eifer
wie die Franziskaner.
Pater Engler S. J. hat sich besonders als Chronist des Gna-
denortes hervorgetan.
Im Jahre 1891 fand hier eine Feier statt bei Gelegenheit
des 300-jährigen Jubelfestes des hl. Aloysius.
1894 : (24. Sept.) Rückkehr der Franziskanerväter,
Wie ihre Vorgänger, die Jesuiten, so haben die Franziska-
ner auch das Ihrige getan, um den Wallfahrtsort zu einer segen-
tragenden Stätte des Gotteslohnes zu gestalten. Sie sind auch die
Schöpfer des einzig dastehenden herrlichen Kreuzweges.
1898 : Beginn der Arbeiten am Kreuzweg.
Schon im Herbst 1895 faßte Pater Joh. Ruiter den groß-
artigen Plan, einen Kreuzweg anzulegen. Erst mußte das Gelände
dafür erworben werden, was am 20. Januar 1896 geschah.
Die Arbeiten dauerten bis 1903.
Die 14 Stationen sind aufgestellt, daß jede Station eine Art
Kapelle (Steingrotte) bildet. In Bezug auf Anlage, Dekoration und
Material hat jede ihre Besonderheit. Im Hintergrund sind die aus
feinstem französischen Sandstein (Pavoniere) gemeißelten Sta-
tionsbilder angebracht, die dem genialen Schöpfer Prof. Alber-
mann aus Köln zum Ruhm gereichen.
24
1900 : (8. bis 16. Sept.) Jubelfest der schon mehr als 100 Jahre
bestehenden Wallfahrt unter Teilnahme der kirchlichen und welt-
lichen Behörden und einer ungeheuren Volksmenge.,
Im letzten Jahr des Jahrhunderts (1900) konnte die Wall-
fahrt nach Moresnet auf ihr 100-jähriges Bestehen zurückblicken.
Mgr. Doutreloux, der Arbeiter-Bischof von Lüttich, hielt am 8.
Sept. die Hauptfeier ab und nahm selber die feierliche Übertra-
gung des Gnadenbildes vom Hochaltar auf den Nebenaltar vor.
Am Sonntag, dem 16. September, war Mgr. Fallize, Aposto-
lischer Vikar von Norwegen, anwesend, und wohl auf etwa
40.000 konnte man an diesem Tag die anwesenden Pilger schät-
zen. i
Am Nachmittag zog eine Tausende von Betern zählende
Prozession, in der das Allerheiligste und auch das Gnaden-
bild umher getragen wurden durch den Ort. Nicht weniger als 40
Wallfahrtsprozessionen waren vertreten, darunter 16 Deputa-
tionen von 50-, bezw. 25-jährigen Jubelwallfahrten. An der Ge-
burtsstätte des Stifters wurde der sakramentale Segen gegeben.
Eine Segensandacht mit ”Te Deum” beschloß diese denkwürdige
Feier.
Die benachbarten Orte Moresnet, Altenberg (Kelmis) und
Gemmenich haben das Ihrige getan, um diesen religiösen Feiern
den äußeren Erfolg zu geben.
1902 : Die Gnadenkapelle geht in den Besitz des Klosters über.
Die Chronik berichtet nichts hierüber.
Aber im Buch der Beratungen des Kirchenvorstandes der
Pfarre Moresnet ist die Rede von einem Tausch. Die Kapelle
gehörte der Kirchenfabrik von Moresnet.
In der Sitzung des Kirchenvorstandes vom 12. 2. 1902 wird
folgender Beschluß (in französischer Sprache) gefaßt :
1° Da Herr Baron Franz Raitz von Trentz, Priester des fran-
ziskaner Ordens, mit dem Klosternamen Pater Theodor, wohn-
haft in Werl, Kreis Arensberg (Deutschland), dem Kirchenvor-
stand den Vorschlag macht, einen kleinen Bauernhof mit Gar-
ten und Wiesen (das jetzige Altersheim neben der Klinik), groß
25
1 Ha 36 ca, gelegen zu Moresnet ”op gen Sier” Sect. A n° 405b -
405c - 406a - 407c - 433c und noch 26 a 2 ca, gelegen zu Gem-
menich ”Schlack” Sect. B. n° 830c, Güter, die sein Eigentum
sind seit dem 13. Januar 1902, zu tauschen gegen’die Kapelle am
Eichschen, groß 3 a 36 ca, Sect. A n° 9e, Eigentum der Kirchen-
fabrik von Moresnet ;
2° Da der obengenannte Pater Theodor sich bereit 'erklärt, die
Kosten dieses Tausches zu tragen ;
3° Da dieser Tausch vorteilhaft ist für die Kirchenfabrik, be-
schließt der Kirchenvorstand einstimmig, ihn zu genehmigen.
der Secretär : der Vorsitzende :
P. Kreischer Alph. de Resimont
N.B. Der Wert der Kapelle war geschätzt worden auf 7.200 Fr,
der des Bauernhofes auf 9.440 Fr.
1903 : Fertigstellung der Kreuzweganlage,
In den Jahren 1901-02 waren auf der Kreuzweganlage
viele Arbeiter, unter Leitung des Ordensbruders Quintilian, an-
dauernd beschäftigt mit den Erd- und Gärtnerarbeiten, Viele
tausend Kubikmeter Erde mußten herbeigeschafft werden, auch
Steine, Schlacken und Asche von den Bergwerken Bleyberg, Al-
tenberg und Hergenrath. All diese Arbeit wurde unentgeltlich ge-
leistet. Die Lavasteine wurden von einer Firma aus Andernach
(Deutschl.) geliefert. 68.000 Zierpflanzen fanden einen Platz
auf dem Kreuzweg.
Mehrere Künstler haben dazu beigetragen, von diesem
Kreuzweg ein sehr bewundernswertes Kunstwerk zu machen. So
Herr Piedboeeuf aus Aachen, Schöpfer der Gruppe über der 12.
Station. Prof. Albermann aus Köln verfertigte die Stationsbilder.
Auffallend schön ist das Grablegungsrelief aus schneeweißen
Balottesteinen. Br. Quintilian, mit 4 Arbeitern aus Eichsfeld,
baute die Grotten, und Ordensbruder Vallens, mit zwei Gehilfen,
lieferte das sehr bewunderte Schmiedkunstwerk vor mehreren
Stationen und die beiden Gittertore am Ein- und Ausgang.
Jede Station hat ihre besondere Schönheit und auch der
Park ist einzigartig und wird nicht weniger bewundert.
26
Der Abschluß all dieser Arbeiten wurde am 13. Septem-
ber 1903 mit einer großartigen Schlußprozession gefeiert.
1904 : Jubeljahr der Unbefleckten Empfängnis. - Mehr als 100
Prozessionen (ohne die Ordensgenossenschaften), das heißt, mehr
als 100.000 Pilger aus Belgien, Deutschland und Holland be-
suchten den Gnadenort,
Anläßlich des 50. Jubeljahres der Dogmaerklärung der Un-
befleckten Empfängnis ging eine gewaltige Bewegung durch die
katholische Welt.
Das Jahr 1904 brachte unzählige Pilgerscharen nach Mores-
net. Die Zahl wurde auf etwa 120 bis 130.000 geschätzt. Bis in
die letzten Wochen des Jahres stellten sich noch immer Jubi- i
läumsprozessionen am Eichschen ein.
Mögen sie alle, diese Tausende, Trost und Kraft gefunden
haben in den Wechselfällen des Lebens und so auch einstens
das ewige Ziel der irdischen Pilgerfahrt, das himmlische Jeru-
salem erreichen.
Zum Schluß können wir sagen, daß am Gnadenort von Mo-
resnet, Tausende von armen Erdenpilgern Trost und Erquickung
auf der Reise in eine bessere Welt gesucht, und Gott weiß es,
auch gefunden haben und heute noch finden, wie es die zahl-
reichen Danktafeln beweisen. Gott, Maria und Volk! Gegen
diesen Dreibund kämpfen alle finsteren Mächte vergebens. So
lange unser Volk treu zu Gott und Maria hält, so lange wird
Gottesglaube und Marienliebe unter ihm sein. Ebenso lange wird
aber auch der Wallfahrtsort am Eichschen bestehen bleiben und
auch weiter gedeihen als teures Vermächtnis der Väter für kom-
mende Generationen.
N.B. Für weitere Auskünfte über den Wallfahrtsort ver-
weisen wir auf das Büchlein : ”Unsere Liebe Frau von Moresnet”
von einem Franziskanerpater im Jahre 1966 verfaßt.
Dasselbe ist zu erhalten im Verlag Vaessen-Mostert zu
Moresnet. Preis : 12 Fr. oder 1 DM.
In unserer nächsten Nummer werden wir weitere Klischees zu obiger
Chronik bringen. Es war diesmal aus technischen Gründen nicht möglich.
27
Alte Geschichtliche Chronik des Postamts Herbesthal
und von Welkenraedt zur Beihilfe
von H. De Couve
Die Errichtung eines internationalen Bahnhofs in Welken-
raedt, welche auch die Verlegung der Postdienste dorthin zur
Folge hatte, hat die Wichtigkeit des diesbezüglichen Komplexes
in Herbesthal derart verringert, daß man dessen einstige Schön-
heit und Weltberühmtheit fast vergessen könnte.
In den Jahren 1920-1935 war das Postamt Herbesthal die
zweitwichtigste Postbetriebsstelle in Europa. Direkt nach dem
Kriege (1920) wurde Herbesthal auf einige Jahre der ”Umschlag-
platz” der Militärpost Belgiens, Frankreichs und Englands.
Die Einrichtung des imposanten Postgebäudes erlaubte je-
den Betrieb, und täglich verweilten dort über 100 Postange-
stellte vom Bahnpostamt 10 in Köln Deutz und ungefähr halb
so viele Beamte der belgischen Bahnpostämter Ostende-Her-
besthal. Täglich wurden über 1000 Postsäcke befördert. Nachher
verlor das Postamt durch die Einstellung von direkten. Bahnpost-
wagen Köln-Ostende und Köln-Jeumont (ohne Personalwechsel)
an Bedeutung.
Ich halte es für interessant, im Moment, wo diese glorreiche
Vergangenheit in Vergessenheit geraten könnte, einiges aus den
Akten zu retten, welche damals die deutschen kaiserlichen Post-
meister zu führen hatten. Welkenraedt, welches früher
postalisch und politisch mit Herbesthal eng verbunden war,
muß denn auch in Betracht gezogen werden.
Einiges stammt aus eigener Erinnerung, da ich persönlich
über 40 Jahre in der Gegend gelebt habe.
Die Postanstalten haben an verschiedenen Stellen gestanden,
dort, wo sich jetzt Bahnhof, Post und Hotel FALKENSTEIN
befinden.
Ursprünglich befand sich die Poststation, - zur Zeit der
Wechselpferde, - in den Anlagen des Hotels HERREN (jetzt
FALKENSTEIN). Die Pferdeställe bestehen noch immer und
haben noch längere Zeit - bis 1940 - dazu gedient, die Tiere der
Pferdehändler unterzubringen.
An dieser Stelle wurde auch nach Angaben von Alten, die
ich vor 50 Jahren dort kannte, der Postdienst in Welken-
raedt errichtet. Der Weiler Herbesthal war bis 1816
28
von dieser Gemeinde abhängig. Der Postdienst blieb noch län-
gere Zeit dort, nachdem Herbesthal der Gemeinde Lontzen ein-
verleibt worden war. Der Dictionnaire encyclopedi-
quede Geographie du Royaume de Belgique -
Aug. JOURDAIN - aus d. J. 1874 - erwähnt folgende Einzel-
heit unter der Rubrik Herbesthal : ”Herbesthal ist das
letzte preußische Dorf an der Grenze der Provinz Lüttich. Dort
befindet sich ein belgisches Postamt, ein Bahnhof und
ein Telegraphenamt.” Und unter der Rubrik Wel-
kenraedt : ”Postamt Herbesthal”.
Man findet erst 1881 die Spur des ersten Postamtes in
Welkenraedt mit, als Postmeister 5. Klasse, LEJEUNE H. J. .
Es folgten :
von 1886 bis 1890 : BARVAUX, T.D.F. - 4. Klasse -
1890 : WILLEMS, N.J.G. - 5. Klasse -
von 1890 bis 1902 (23. Juni) - 4. Klasse -
vom 23. 6. 1902 bis 30. 6. 1911 : PIRET, J.C.M. - 4. Klasse -
vom 30. 6. 1911 bis 31. 10. 1920 : PIRET, J.C.M. - 3. Klasse(1)
(wurde der erste Postmeister von Herbesth al nach dem
Kriege 1914-1918)
vom :.1.11.:1920.bis:21...3...1921 2, de. COUVE,; H.J., .‚interi-
mistisch -
vom 21.321921 ‘bis:13:,12::1922/: DESFAWES/E-kJ.3 id.
vom 13 12. 1922 bis 17. 2. 1927 : LEBEAU, A..T. - 3. Klasse -
vom 17. 2. 1922 bis 4. 4. 1927 : SIMON, F.E.N., interimistisch -
Am 4. 4. 1927 wurde das Postamt Welkenraedt
Postnebenamt und vom Amte Herbesthal abhängig.
Die Pfarre Herbesthal selbst blieb bis 1825 (also noch 9
Jahre lang) beim Bistum Lüttich, während sie doch schon 1816
von diesem hätte abgetrennt werden müssen.
Das Postamt Herbesthal wurde 1851 gegründet und
in den Privatgebäuden des Hotels Herren (Nebengebäude) ein-
gerichtet.
1855 erbaute die Gesellschaft der Rheinischen Eisenbahnen
auf Anregung der Oberpostdirektion in Aachen ein Postgebäude
im Bahnhof.
29
Am 1. Dezember 1890 erwirbt die Postverwaltung ein
neues Eisenbahngebäude, in dem Pakete und Päckchen in Em-
pfang genommen werden. x
Endlich, i.J. 1907, ”sieht man groß”, und das jetzige Ge-
bäude wird errichtet.
Es wurde am 1. 11. 1920, nach dem Kriege 1914-1918,
von der belgischen Verwaltung übernommen.
PIRET J.C.M., vom Amte Welkenraedt kommend und der
deutschen Sprache mächtig, wurde der erste belgische Post-
meister 1. Klasse des Postamtes.
I. J. 1930 übernahm de COUVE H.J. die Leitung, bis 1939
PASQUASY M. dort Postmeister wurde.
Während des Krieges 1940-1945 fiel das Postamt unter
die Reichspostdirektion ; während der gleichen Zeit war das
Gebiet annektiert.
Jetzt treten wir in die Einzelheiten der Postchronik ein.
1. Beschreibung des Postorts
Geographische Lage des Orts ; Gründung desselben (Herleitung
seines Namens) und die Hauptmomente seiner Geschichte
Die Ortschaft Herbesthal im Limburger Lande, 5 Kilometer
von Eupen und 15 Kilometer von Aachen entfernt, liegt an der
Belgischen Grenze auf dem höchsten Punkte der Niederung, wel-
che sich in der Richtung von Aachen nach Verviers hinzieht.
Herbesthal gehörte früher der Belgischen Gemeinde Welkenraedt
an und fiel nach dem zwischen dem König von Preußen und
dem König der Niederlande am 24. Februar 1816 abgeschlosse-
nen Grenzberichtigungsvertrage an Preußen. Seitdem bildet es
einen Teil der Gemeinde Lontzen, welche im Kreise Eupen, Re-
gierungsbezirk Aachen, gelegen ist (2). Der Ort soll früher den
Namen Herbergsthal gehabt und diese Benennung von
einer im Thale gelegenen großen Herberge erhalten haben (3).
Herbesthal, welches nach der letzten Volkszählung (1875)
275 Einwohner zählt, hat erst mit Eröffnung der Rheinischen
Eisenbahnlinie Coeln-Verviers im Jahre 1843 Bedeutung er-
langt. Bei dem Ausbau dieser Linie verfolgte man die vorer-
wähnte Niederung zwischen Aachen und Verviers und so durch-
schnitt die Bahn die Ortschaft Herbesthal und es wurden dort
30
an der Grenze auf Preußischem Gebiete zwei Eisenbahnstationen
errichtet, eine Preußische und eine Belgische.
Als einer der Hauptmomente geschichtlicher Begebenheiten
wird hier an den wahrhaft großartigen Empfang erinnert, wel-
cher am 4. Februar 1858 Sr. Königl. Hoheit, dem damaligen
Kronprinzen Friedrich Wilhelm, nach seiner Vermählung mit
Ihrer Königl. Hoheit, der Prinzess Victoria von England, auf
seiner Durchreise in Herbesthal zu Theil wurde.
2. Beschaffenheit des Bodens, auf welchem der Ort sich erhebt,
sowie der Umgegend in geologischer Beziehung (Baumaterial);
Wasserverhältnisse, namentlich auch mit Rücksicht auf den
Gesundheitszustand (Epidemien); Ö
Etwaige klimatische Besonderheiten,
Der Boden ist sehr verschieden : Lehm, Schieferthon, Sand
und Kalkstein wechseln fortwährend. Es sind, in der Nähe, Kalk-
und Haussteinbrüche, Zink- und Bleigruben.
In dem Orte selbst ist Wassermangel. Die Rheinische Eisen-
bahn-Verwaltung hat zur Speisung der Locomotiven Wasserre-
servoirs angelegt. Die Belgische Staats-Eisenbahn-Verwaltung
hat das Wasser von der Bleigrube ”Dickenbusch” nach der Sta-
tion Welkenraedt geleitet.
Der Gesundheitszustand ist stets ziemlich befriedigend ge-
wesen.
Das Klima ist wegen der Nähe des hohen Venn ziemlich
rauh und kalt und wechselt die Witterung meistens plötzlich.
Dem Wassermangel hat die preußische Eisenbahnverwal-
tung durch Errichtung eines Wasserwerks (1886) mit Dampf-
pumpenbetrieb abgeholfen. Dieses liefert dem großen, 1889 neu
eröffneten. Stationsgebäude, sowie den Wohnhäusern, das nötige
Wasser. Auch die Locomotiven werden mit diesem Wasser be-
speist, obgleich es seines Kalkgehalts wegen hierzu wenig ge-
eignet ist.
3. Sprach- und Religionsverhältnisse der Einwohner
Die Deutschen bilden die Mehrzahl der Bewohner des Or-
tes. Da aber auch einige belgische Beamten und Arbeiter dort
3
wohnen, so hört man häufig Französisch, Wallonisch und Vlä-
misch sprechen. Die Einwohner gehören, mit Ausnahme einiger
Preußischen Beamten, sämtlich der katholischen Religion an.(4)
4. Verkehrgeschichte des Orts ;
Entwicklung seines Handels und seiner Gewerbe (Zahl der
Buchhandlungen) ;
Hauptnahrungszweige der Einwohner ;
Hauptsächlichste Bezugs- bzw. Absatzgebiete des Orts und
seiner Umgegend,
Ein wirklicher Verkehr hat eigentlich erst mit der Ent-
stehung der Eisenbahn (1843) resp. der Errichtung der Eisen-
bahnstationen, den Zoll- und Postbureaux hier begonnen. Han-
del, Gewerbe und Industrie sind hier nicht vorhanden.
Die Mehrzahl der Einwohner besteht aus Beamten. Die
wenigen Landwirte des Orts betreiben Butter- und Käseproduk-
tion. Der in hiesiger Gegend gemachte Limburger Käse ist weit
bekannt und nicht selten Gegenstand des Exports nach fremden
Ländern.
Die benachbarten Städte Aachen und Eupen sind die
Bezugs- und bz. Absatzorte für die hiesigen Einwohner.
Im April 1890 wurde in dem benachbarten Welken-
raedt eine Zeitungstelegramm-Agentur errichtet ; im Septem-
ber 1890, eine zweite. Der Telegraphenverkehr hat hierdurch,
sowie auch durch den längeren Aufenthalt der Eisenbahnzüge
infolge stattfindender vollständiger Zollrevision einen bedeuten-
den Aufschwung genommen.
Oktober 1894 erhielt das hiesige Depeschenbureau von
L. Hirsch Anschluß an die Stadtfernsprechleitung Eupen -
Aachen-Köln. Die zweite Zeitungstelegramm-Agentur wur-
de in Folge Errichtung der Fernsprechverbindung Bruxelles
-Köln im Jahre 1896 aufgehoben.
5. Behörden und Militärverhältnisse,
Im Orte sind (Ende 1889) :
1 Nebenzollamt I mit hauptamtlicher Abfertigungsbefugnis ;
32
1-Preußische Eisenbahnstation, 1 Theil der Belgischen Eisen-
bahnstation Welkenraedt; 1 Reichspost- und Telegraphen-
anstalt und
der Sitz des Bürgermeisters der Bürgermeisterei Lont-
zen , wozu Herbesthal gehört.
In militärischer Hinsicht ist Herbesthal dem Landes-
wehrbezirkskommando in Montjoie unterstellt (seit 1889 ;
vorhin Eupen)
6. Sonstige Eigenthümlichkeit des Orts
Bezeichnende Angaben
Herbesthal ist mit dem etwa 3500 Einwohner zählen-
den belgischen Orte Welkenraedt (1890) fast ganz zu-
sammenhängend.
7. Beschreibung der Postanstalt ;
Gründung der Postanstalt, Geschichte derselben ;
Namen der Vorsteher der Postanstalt.
Die Postanstalt ist im Jahre 1851 errichtet worden. Der
erste Vorsteher war der Gastwirt Laurenz HERREN. Nach dem-
selben übernahm der Eisenbahnassistent Friedrich SOLDERS
und nach diesem der Bahnhofs-Inspektor MARTINI die Ver-
waltung derselben. Am 1. Dezember 1855 wurde der Militär-
Anwärter F. SCHMIDT als Post-Expediteur hier angestellt und
verwaltete derselbe die Expedition bis zum 2. November 1861.
Zur Zeit der Berufung des F. SCHMIDT gewann die Postanstalt,
welche bis dahin in fremden Gebäuden untergebracht war, an
Ausdehnung und Bedeutung. Die Rheinische Eisenbahn-Gesell-
schaft erbaute auf den Antrag der damaligen Ober-Post-Direktion
in Aachen ein Postgebäude auf dem Bahnhofe. Gleichzeitig
wurde eine Landbriefbestellung ins Leben gerufen (5), ein Pri-
vat-Gehülfe und ein Privat-Unterbeamte (sic) angestellt. Unterm
2. November 1861 übernahm der Postverwalter I. GANGOLF die
Verwaltung der Postanstalt. Unterm 30. Juni 1864 wurde ein
zweiter Privat-Unterbeamte bei der Postanstalt angestellt, so daß
das Personal nunmehr aus fünf Personen besteht.
Nach Errichtung der Telegraphenanstalt war zur Wahrneh-
mung des sehr regen Telegrammverkehrs längere Zeit ein Tele-
33
graphenbeamte hier beschäftigt, welcher später durch einen wei-
teren Post-Gehülfen ersetzt worden ist. Von Ende April 1887
bis Ende Juli 1888 verwaltete der Postassistent WAHLEN das
Postamt, seit 1. August 1888 Postverwalter FEUERSTEIN. Die
Vergrößerung des Ortes und der verstärkte Verkehr bedingten
die weitere Einstellung eines dritten Privatunterbeamten im De-
zember 1888 und eines vierten Privatunterbeamten im Oktober
1889. Infolge des stärkeren Telegraphenverkehrs ist im April
1890 ein dritter, im November ein vierter Postgehülfe einge-
stellt worden. Vom 1. Juni 1892 ab wurde ZIMMERMANN
Postverwalter.
8. Geschichte der Postverbindung des Orts;
Fremdenverkehr, soweit derselbe auf die Benutzung der
Posteinrichtung von Einfluß ist.
Vor Eröffnung der Eisenbahnlinie Herbesthal- Eu-
pen bis zum Jahre 1863 bestand außer den Anschlüssen an die
Züge in der Richtung nach Coeln und Verviers, täglich
eine neunmalige Personenpost-Verbindung zwischen Herbes-
thalund Eupen. Die Postanstalt hat täglich 13 mal (nachher
18 mal) Verbindung mit der Bahnpost N° 10, 5 mal mit dem
Eisenbahnposttransport Eupen-Herbesthal und einmal durch
Schaffnerzug. Außerdem besteht des Nachts 1 Uhr 30 Personen-
post und 2 Uhr 50 Botenpost nach Eupen.
Der Fremdenverkehr in Herbesth a ist ziemlich bedeu-
tend und wird die Post mehr von Fremden als von den Einwoh-
nern benutzt. Der starke Eisenbahnverkehr verursacht auch den
regen Telegraphenverkehr.
9. Nachrichten über das Postgebäude
Das Postgebäude gehört, wie bereits früher bemerkt wurde,
der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft und ist im Jahre 1855
erbaut worden. Die von der Post in demselben gemieteten Räume
sind feucht und daher höchst ungesund. Alle Versuche, das Ge-
bäude trocken zu legen, sind bis heran ohne Folge geblieben.
Die Diensträume erweisen sich seit längerer Zeit als zu
klein und äußerst unzweckmäßig. Seit Eröffnung des. neuen
Bahnhofsempfangsgebäudes (1. Oktober 1889) ist das Postamt
34
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‚Jetziges Postamt Wohnhäuser Früheres Postamt Bahnhof Hötel Herren
(Falkenstein)
nür auf einem größeren Umwege oder über die Bahngeleise zu-
gänglich. Die Errichtung eines neuen Postgebäudes auf der Seite
des neuen Empfangsgebäudes ist beabsichtigt. Das neue Gebäude
ist am 1. Dezember 1890 bezogen worden. (Siehe Abbildung)
10. Charakterzüge des Brief- und Postverkehrs,
z. B. nach welchen Gegenden derselbe vorzugsweise gerichtet ist;
ob. und. welche besondere Gewerbe sich hauptsächlich an dem
Paket- und Geldverkehr betheiligen ; ob viel Postverkehr mit dem
‚, Auslande stattfindet und speziell mit welchen Ländern.
Es werden hier Brief- und Fahrpostsendungen nach allen
Ländern aufgegeben.
Von den Fremden, einigen hier wohnenden Spediteuren,
sowie. von der Belgischen Station hierselbst, werden die meisten
Brief- und Fahrpostsendungen aufgeliefert. Es bestehen täglich
drei Briefpostkartenschlüsse mit dem Belgischen Postbureau
Herbesthal, nunmehr Welkenraedt.
Nach dem Thatbestande 1888 und 1889 liefern die hier woh-
nenden Spediteure, das Zollamt und die Güterverwaltung bz.
Gepäckabfertigung sowie die auf benachbartem belgischen Ge-
biete bestehenden Fabriken (Wollwäschereien und Spinnereien
35
in Dolhain) die meisten Brief- und Fahrpostsendungen und
Telegramme ein. Auch das reisende Publikum, welches hier we-
gen der Zollamtlichen Revision des Gepäcks, bei den Personen-
zügen etwa 15 Minuten, und bei den Schnellzügen etwa 30 Mi-
nuten Aufenthalt hat, liefert viele Telegramme ein; und zwar
vorzugsweise durch Vermittlung des Bahntelegraphen.
Die Spediteure erhalten eine größere Anzahl Paketsendun-
gen aus Österreich - Ungarn, welche als Eisenbahn-
Frachtgut nach dem Auslande weitergesandt werden.
11. Angabe der im Orte erscheinenden Zeitungen und Zeit-
schriften ; Angabe der im Orte hauptsächlich gelesenen Zeitungen
Die am meisten hier gelesenen Zeitungen sind ”Echo der
Gegenwart”, ”Eupener Zeitung” und die ”Cölnische Zeitung”
Gegenwärtig (Anfang 1890) werden am meisten gelesen :
”Das Kölner Tageblatt”, ”Der Aachener Anzeiger - politisches
Tageblatt”, ” Der Generalanzeiger der Kreise Eupen-Montjoie”,
”Das Echo der Gegenwart”, ”Das Eupener Korrespondenzblatt
(amtliches Kreisblatt)”, ”Die Eupener Zeitung”, ”Leo”, Zeitung
für das katholische Volk, - die zwei letzteren hauptsächlich von
Arbeitern und Landbewohnern. Ferner beziehen die hiesigen
Bahn- und Zollbeamten meistens nur Berliner Zeitungen wie
”Abendpost”, ”Morgenzeitung” p.p.
Diese Chronik endet so gegen 1890 und ist ab 1892 nicht
mehr vollständig.
Das jetzige Postgebäude
Das jetzige Postgebäude wurde 1907 erworben. Es ist ein
imponierender Bau im Renaissance-Stil (viergeschössig, eigent-
lich sechs) : roter Verblendstein mit Putzflächen und Dolomit-
sockel; von Dolomit und Sandsteineingliederungen durchsetzt.
(Siehe Abbildung)
Bauleiter war der Bautechniker DANIEL.
Im Kellergeschoß befinden sich die Zentralheizung, der
Pumpenraum und Räume für die Dienstwohnungen und .das
Postamt.
37
Der Grunderwerbungspreis betrug 9998 M, und die früh-
eren Eigentümer waren die Eheleute Max HECK in Eupen
(linker Teil) und die Kgl. Preußische Eisenbahnverwaltung (rech-
ter Teil und vordere Böschung).
Die Herstellungskosten betrugen (1908) 193.847 M, 92 Pf.,
und die ersten Unterhaltungskosten stiegen ziemlich hoch :
1909 : 4586 M, - 1910 : 1699 M, - 1911 : 3256 M, -
1912 : 1952 M, u.s.w.
Für alle Abwässer ist eine Kläranlage im Lichtgraben an-
gelegt. Eine Müllgrube ist vorhanden.
Eine Niederdruckdampfheizung mit zwei freistehenden Kes-
seln und 31 freistehenden Radiatoren heizt dieses große Gebäude.
Brunnenwasser wird durch eine Pumpanlage in die Ge-
schosse gepumpt.
Von der Kirchstraße her führt ein öffentlicher Weg zum
Postgrundstück (Servitut).
H. de COUVE
Postverwaltungsdirektor a. D.
(1) Während der deutschen Besatzungszeit - und zwar bis zum 17. 2.
1917 - wurde Welkenraedt durch deutsche Briefträger von
Herbesthal aus bedient. Ein belgisches Amt hat in Welkenraedt
von diesem Datum ab funktioniert bis Kriegsende,
Leiter : de COUVE, H.J. mit 4 Briefträgern.
Vom 17. 2. 1917 bis zum 11. 11. 1918 wurde das Amt mit drei
verschiedenen Poststempeln versehen : WELKENRAEDT - WEL-
KENRAAD und WELKENRATH.
(2) Der Grenzberichtigungsvertrag von 1816, der die Grenze entlang
der Chaussee von Eupen bis zum Weißen Hause festlegte,
spaltete den Weiler Herbesthal von Welkenraedt ab, um ihn
Lontzen anzugliedern. Die Oberfläche dieses Ortes vergrößerte
sich um 376 ha mit 47 Häusern. Das neu zu Lontzen gekommene
Gebiet zählte 215 Einwohner,
Sich auf diese Abtrennung stützend, beanspruchte Welkenraedt
wiederholt (1928 und 1946) die Rückkehr von Lontzen an sein
Gebiet, - vergebens jedoch.
(3) Das zweite Element des Namens ”Herbesthal”, ”thal” hat
die Volksetymologie veranlaßt, ihn als ”Herbergsthal” oder
”Herbesthal” zu verstehen. Dieses sei nur Phantasie, behauptet
38
H. Guil. GRONDAL in seiner Veröffentlichung "LONTZEN - .No-
tices historiques”,
Die Verdeutschung hat irrtümlich ”tal” durch ”thal” ersetzt in der
primitiven Form von Herbestal, welche im Dialekt der Gegend
”Herbesdael” geworden wäre, wenn die Auffassung ”thal” die
richtige wäre und ein Tal hätte benennen sollen. Das erste Element
von Herbestal ist der Name einer Person ”HERBERT” und der
zweite der alte Ausdruck ”Stal”, welcher ”Wohnsitz” bedeutet.
Herbesthal ist gleichwertig mit Herbiester (Jalhay), einst Herbester,
welches die Benennung von Herbesthal in der Eupener Mundart ist.
In der ersten amtlichen deutschen Karte, die nach der Annexion
"von 1816 erschien, finden wir ebenfalls die Form ”Herbester”,
(4) Die Weiler Herbesthal, Heistern und Grünstraße,
welche an die Gemeinde Lontzen laut Grenzberichtigungsver-
” trag von 1816 angegliedert wurden, wurden am 7. April 1825 aus
den Pfarreien von Welkenraedt, Henri-Chapelle und
M ontzen ausgeklammert, um der Pfarre Lontzen eingegliedert
zu werden
Guill. GRONDAL : ”LONTZEN - Notices historiques ”
(5) Erst 1836 wurde in allen Gemeinden des Reichs ein regelmäßiger
“ Landbestellungsdienst eingerichtet mit Bestellung von einem Tag zum
anderen. Dieser Dienst begann mit 400 Landbriefträgern, welche ein
jeder im Durchschnitt 7 Gemeinden durchliefen.
„Vor dieser Zeit bestand kein von der Postverwaltung abhängiger
Landbestellungsdienst. Allein die Briefe, welche in Ortschaften mit
Bestellungsamt gingen, wurden dem Adressaten zugestellt, die meiste
Zeit durch den Vorsteher, wenn Mangel an Briefträgern war.
Was die anderen Korrespondenzen anbelangt, so vertrauten ziemlich
allgemein die Gemeinden sie einem Boten an, um sie auf das nächste
Postamt zu bringen. Der Bote holte ebenfalls die Korrespondenz
bei der Post ab.
Übrigens nahmen die Postdirektoren jede Gelegenheit wahr, den
Empfängern ihre Briefe oder Zeitungen zukommen zu lassen, oder sie
zu benachrichtigen. Zu diesem Zwecke, benutzten sie hauptsächlich
die Markttage.
MUSEE POSTAL. - 1936 - Historique de la Poste aux Lettres.
Nota : Heutzutage erledigen die Landbriefträger einen Teil ihrer
"Bestellung am Messeausgang, damit ihre Laufstrecke sich des Sonn-
tags verringere. Die Abschaffung der Sonntagsbestellung hat diese
Praxis jedoch hinfällig gemacht.
39
Heimat
von Josef Franck
”Erst wenn Du in der Fremde bist,
weißt Du, wie schön die Heimat ist.”
Diesen Spruch kann man in fast allen Ferienorten als
”Souvenir” fein säuberlich in Holz geschnitzt kaufen. In dem
Wort ”Heimat” liegt ein besonderer Klang. Nur noch eins kommt
ihm gleich : Mutter ! Beide gehören zusammen.
Der Mensch, der keine Heimat oder kein Heimatgefühl
hat, ist elend. Heimweh krampft das Herz zusammen, lähmt die
Tatkraft und macht den Körper krank. Da muß es wohl etwas
Großes um die Heimat sein, die solch ein Weh auslöst. Von den
Schweizern sagt man, daß sie vor Heimweh nach ihren Bergen
vergehen ; aber sind es nur die Berge ? Wer an der Küste‘ oder
auf grüner Heide geboren wurde, dem wird nicht anders zu Mute
sein, wenn er in fremdem Lande der fernen Heimat gedenkt.
Wie sang doch Willy Ostermann ‚voller Wehmut : ”Wenn
ich so an ming Heimat denke ... ich mööch zo Foß no Kölle
jon” (1). Unzählige Heimatlieder voller Liebe und Sehnsucht
nach dem Heimatlande sind entstanden, wovon besonders das
von Edmund Hansen gedichtete und komponierte ”Eifelheimat”
erwähnt sei (2). Die Widmung des Liedes an seinen Vater
lautet : ”Der ist in tiefster Seele treu, wer seine Heimat liebt
wie Du”. Das ausdrucksvolle Lied von N. Dostal : ”Heimat,
Dein gedenk’ ich immerdar ... bist mein Glück und meine Welt”
(3) offenbart ebenso deutlich die Sehnsucht nach dem Heimat-
land, wie das Lied von W. Bochmann ”Vaderland, je sterren”” (4)
das Fernweh des Piloten nach der Heimat besingt. R. Marbot
vertonte für die in den Tropen lebenden Europäer das bekannte
Lied ”Heimat, wunderbares Land” (5), und F. Berlin kompo-
nierte sein ergreifendes ”Wie das Herz zerreißt vor Heimweh”
(6). Nicht vergessen soll sein das weltbekannte Lied der Südti-
roler Bergsteiger von dem großen Heimatdichter Karl Felderer
in St. Christina, ”Heimat” (7).
So ließe sich die Reihe der Heimatlieder und -gesänge fort-
setzen, die vor allem auch in den Liedern der Folklore immer
wieder erklingen.
40
Was ist nun Heimat ? Es ist das eng umgrenzte Stückchen
Erde, das Dorf, die Stadt und ihre Umgebung, wo unser Vater-
haus steht oder stand. Mit den Menschen dieser engeren Heimat
verknüpft uns ein unzertrennliches Ausgabe.
Mit dem Begriff ”Heimat” heben wir die besondere Eigen-
art eines Gebietes hervor, eine Eigenart, die dieses Gebiet von
- allen anderen unterscheidet. Gerade diese Eigenart aber ist es,
die wir lieben und ehren. Der Gedanke an sie ist es, der uns das
Herz bewegt, wenn es Heimweh hat. Es ist nicht die Erde als
solche, nach der unser Herz dabei verlangt, sondern das Stück
Erde in seiner ganz besonderen Ausgestaltung, wie es uns in den
Tagen der Kindheit in unsere Erinnerung unauslöschlich ein-
gegraben worden ist. .
Man mag später im Leben hin- und hergeworfen werden, man
mag schönere und großartigere Länder kennen gelernt haben, das
Stück Land, in dem wir geboren sind, in dem wir die Tage der
Kindheit verlebten, behält seinen besonderen Reiz. Je älter wir
werden, desto größer wird er. Kindheit ist die Zeit, in der wir zu
dem heranreifen, was wir im späteren Leben sein sollen. Heimat
und Kindheit gehören zusammen, und je ferner uns diese Zeit
schon ist, umso wehmütiger greift es uns bei diesen Gedanken
ans Herz.
Da ist in erster Linie die Natur des Landes, die Bodenbe-
schaffenheit, die Art der Gesteine, die die Erdrinde bilden ; da
sind Gebirge, Hügelland, Ebenen, Berge und Täler, Tafelland
und .Niederungen. Eine wesentliche Rolle spielt das Wasser ;
größere und kleinere Flußläufe, Seen, Bäche und Weiher prägen
ganz besonders die Eigenart der Heimat. Auch die klimatischen
Bedingungen und die Witterungsverhältnisse sind eng mit dem
Begriff der Heimat verbunden. Nach ihnen richtet sich der Baum-
und Pflanzenwuchs, der den Charakter der Heimat in hohem
Maße bestimmt. Es kann vorkommen, daß uns ein einzelnes
Pflänzchen oder Blümchen in der Ferne das Bild der Heimat
vorzaubert. Ein kleines Maßliebchen oder ein Ginsterstrauch
am Wegrand kann das Heimatland mit seinen grünen Wiesen
selbst im entferntesten Lande in Erinnerung rufen, wie wir es
oft bei Ferienaufenthalten erleben konnten.
41
Zur Heimat gehören aber vor allem die Menschen, die in
ihr leben und denen die Natur ihren besonderen Stempel auf-
gedrückt hat. Je nach dem Charakter der Landschaft sind sie
lustig oder schwermütig, flexibel oder schwerfällig, und in diesen
Menschen sehen wir uns selbst.
Zum Kennzeichen der Heimat gehört ferner alles, was der
Mensch in ihr erlebt, wie er sich ernährt, was er in ihr schafft,
was er an Kulturwerken hervorgebracht hat und wie er die Hei-
matkunst pflegt.
Das Volksleben der Heimat hat sich im Laufe der Zeit
entwickelt. Das Ergebnis ist die Geschichte, und wer seine Hei-
mat liebt, wird gerne in Büchern lesen, die ein Bild des eigenen
Werdens bieten. Dazu gehört nicht nur, wie die Vorfahren auf
der Heimatscholle gelebt haben, sondern auch der überlieferte
Dialekt, der Heimat- bzw. Mundartdichter sowie mehr oder min-
der lustige Begebenheiten mit Originaltypen des Ortes (8).
Das ist die Heimat, das sind die Bausteine, aus denen die
Heimat sich aufbaut und die ein ”Ortsfremder” nicht so emp-
finden kann wie der ”Einheimische”, ‘der sich mit allem, was
”Heimat” heißt, eng verbunden fühlt. Freilich will das Heimat-
gefühl. gepflegt sein. Willig wollen wir unsere Herzen allem öff-
nen, was das Heimatgefühl stärken kann. Dem soll auch die
vorliegende Zeitschrift dienen, die im ”Land ohne Grenzen”
schon viele heimatbegeisterte Freunde gefunden hat.
Alle, die noch eine Heimat haben, sollten sich ihrer freuen
und alles in sich pflegen, was sie groß und schön erscheinen läßt.
Diejenigen aber, die fern von der Heimat leben müssen, sollten
sich nicht in unnützem Klagen und Sehnen verzehren, sondern
in sich, bis ins Alter hinein, die Liebe zur Heimat als einen un-
verlierbaren Schatz, nämlich‘ die Erinnerung an die Kindheit
und die glücklichste Zeit ihres Lebens, nähren.
1) W. Ostermann-Verlag, Köln, 1936
2) Selbstverlag, Prüm, Eifel, 1920
3) Dreiklang Vlg., Berlin, 1937
4) Wiener Boheme Vlg. 1942
5) Dreimasken Vlg., Berlin, 1928
6) idem 1926
7) Tiroler Kunst Vlg., Innsbruck, 1930
8) ‚Öcher Laach, Prof. W. Hermanns, 1932, Aachener Verlagsdruckerei
42
Dorfgeschichten
von Hermann Heutz
Vorwort
Der Verfasser der Großvatergeschichten möchte Sie, liebe
Leser, mit lustigen und wahren Dorfgeschichten aus der guten
alten Zeit und aus der eignen Jugendzeit unterhalten. Hier wird
nichts Ehrenrühriges, nur Lustiges berichtet. Die meisten der
auftretenden Personen sind längst tot. Angehörige werden diese
Geschichten nicht übelnehmen. Wer nicht mal über sich und
über die Seinen herzlich lachen kann, ist ein armer Mensch.
Thomas von Aquin sagt ja bereits : ”Ein Heiliger, der traurig ist,
ist ein trauriger Heiliger !” Humorlose Menschen machen nicht .
nur sich selbst unglücklich, sie sind auch eine Last oder gar ein
Unglück für ihre Umgebung. Ein solches humorloses Ekel war
Adolf der Schnauzbärtige. Er hatte noch manches Ebenbild unter
den ”Großen” dieser Erde. Meine Geschichten dürften nicht nur
die ältere Generation interessieren. Auch mancher junge Mensch
wirft gerne mal einen Blick in die Vergangenheit. Nicht alle
jungen Männer begnügen sich damit zu wissen, was ”der Stan-
dard und die Alemannia gemacht haben”. Nicht alle Frauen schla-
gen nur die Zeitung auf den letzten Seiten auf, um zu erfahren,
wer schon wieder gestorben ist. Nun wünsche ich Ihnen, liebe
Leser, viel Vergnügen bei den Dorfgeschichten. Auswärtige Le-
ser können mir wahre und lustige Geschichten aus der ”guten
alten Zeit” berichten. Ich glaube, daß ich genügend Orts- und
Zeitkenntnisse besitze, um diese Geschichten wiederzugeben.
Wie gesagt, muß es sich um wahre Geschichten handeln, die
nichts Ehrenrühriges enthalten.
Jupp der Flickschuster
Zuerst ein Vorwort zu unserem Helden, dem Jupp. Sein
Vater war aus der Gegend von Kornelimünster, Walheim nach
Hauset gekommen. Dieser Vater hatte sich in Hauset als Kleinst-
unternehmer betätigt. Er hat in Hauset und in anderen Dörfern
kleine Arbeiterhäuschen gebaut. Man findet sie heute noch in
Hauset. Sie sind im Laufe der Zeit baulich nur wenig verändert
worden. Ich nenne hier die Häuser Charlier, Beckers und das
Haus Kleuters, augenblicklich von der Familie Bartholemy be-
wohnt. Der alte H. besaß einen Bauplan. Diesen großen gelben
Papierbogen bewahrte H. wie einen Schatz. Hatte nun ein Ar-
43
beiter das nötige Geld oder den nötigen Kredit, dann ging er
zum alten H. und bestellte ein Haus. Diese Bestellung konnte
in 5 Minuten abgeschlossen sein. Der Preis war fest wie die
Grundmauern und ”Bauunternehmer” H. änderte auch nicht
einen einzigen Ziegelstein an seinem Plan. Der Preis dieser Ein-
heitshäuser hat jahrzehntelang 5.000 Mark betragen. Übrigens
war der alte H. nicht Fachmann. Er konnte nicht mal mauern.
H. stellte einen Maurer ein und betätigte sich selbst nur als
Mäörtelmischer und Ziegelsteinträger. Im Sommer stand er schon
morgens um 4 Uhr am Bau, rührte Mörtel an und trug das ganze
Gerüst voll Ziegelsteine, damit” der Maurer pausenlos mauern
konnte. Es versteht sich von selbst, daß dieses staubige Geschäft
Durst erzeugte. Es ist daher nicht verwunderlich, daß man den
alten H. des öfteren mit der Schubkarre heimgebracht hat. Be-
kannt ist er auch noch wegen seines Ausspruchs : ”E Vällche
wie e Moothövvelche !” (Ein Fellchen wie ein kleiner Maulwurf)
Diese Qualifikation bezog er auf eine seiner Dorf- und. Zeitge-
nossinnen. Das, war zufällig nicht seine Frau. Nun zu ‚unserm
Jupp. Vater H. hatte bei seinem Unternehmertum keine Reich-
tümer erworben. Jupp hatte wohl nie ein Handwerk erlernt. Er
gab sich als Schustermeister aus. In Wirklichkeit war er nur, ein
Dorfflickschuster mit einer beachtlichen Redegewandtheit. Er
bewohnte ein kleines Reihenhäuschen gegenüber der Schule und
hatte auf dem ersten Stock in einer winzigen Stube seine Schuster-
werkstatt. Dort saß nun Jupp am handtuchgroßen Fensterchen,
flickte grobe Schuhe und beobachtete sehr genau, was sich auf
der Dorfstraße ereignete. Jupp war ein langer, schmächtiger
Mensch mit einem, dünnen Hals. Dieser Hals, eine Freude für
jeden Scharfrichter, trug einen mageren Kopf, an dem alles,
Mund, Nase und Ohren, sehr groß war. Kam ein Bekannter
vorbei, so steckte Jupp augenblicklich den Kopf durch das Fen-
sterchen und rief : ”He, wue jeste hen ?” (He, wo gehst du hin ?)
Jupp begann ein Gespräch, das der Angeredete nur mit Gewalt
abbrechen mußte, wenn er weiter wollte. Jupp beobachtete auch
sehr interessiert und genau die Vorgänge auf dem gegenüber-
liegenden Schulhof, begrüßte laut morgens und in den Pausen
die Lehrerschaft und sang auf seinem Schusterschemel die Lieder
mit, die aus den Klassen zu ihm herübertönten. Jupp konnte
außer ”Moßjö und bongschur” kein Wort Französisch. Wurde
aber in der Schule ein neues französisches Lied eingeübt, dann
spitzte Jupp die Ohren und sang die Worte, wie er sie hörte,
44
mit. Man mußte natürlich den Urtext des Liedes kennen, um
das zu verstehen, was der Jupp sang. Auf dem nächsten Kegel-
abend gab Jupp dann seine Neuerwerbung zum Besten. Ich er-
innere mich, daß er einmal zum großen Gaudium der Kegel-
brüder sein sonderbares Französisch mit hoher Stimme singend
wie folgt von sich gab : ”Je ni vais plus a l6colo, jai connü mon
abici. Haschnickezaza, haschenickezizi, haschnickezizerizizi !”
Es sollte wohl heißen : ”Je ne vais plus ä l’&cole, je connais mon
abc !” Den Refrain hat Jupp natürlich selbst fabriziert. Jupp
hatte übrigens sechs solcher Strophen mühsam in seiner Schuster-
bude erlernt. Er schloß die letzte Strophe mit dem Versprechen :
”Nächste Wäch seng ech öch de voljende vofze Strofe.” (Nächste
Woche singe ich euch die folgenden 15 Strophen.)
Der Jupp hat lange Jahre als Tambourmajor bei den hie-
sigen Petrusschützen fungiert. Jupp gehörte zu den nicht seltenen
Menschen, die zwar mit ganzer Seele dabei sind, wenn es gilt,
dem lieben Nächsten einen Streich zu spielen, die aber selbst
gleich beleidigt sind, wenn man sich einen Scherz mit ihnen
erlaubt. Wegen dieser Empfindlichkeit und wohl auch wegen
der Grobschlächtigkeit mancher Schützenbrüder hat der Jupp an
manchem Königsvogelschußtag wütend den Tambourstock hin-
geworfen und den grünen Schnürrock ausgezogen. Lange hielt
sein Zorn nicht an, und bei der nächsten Versammlung erschien
der Jupp und tat, als sei nichts geschehen. Der Jupp hatte übri-
gens sehr ulkige Einfälle, geradezu Geistesblitze. Einige davon
seien hier erzählt : Auf einer Sommerfahrt des Kegelclubs fuhr
der Bus unter den überhängenden, roten Felsvorsprüngen an
der Straße nach Nideggen vorüber. Da sagte Jupp gedankenvoll :
”Wenn e sönne Kno ijene Bus völ, da würe vool !” (Wenn so ein
Knoten in den Bus fallen würde, dann wär er voll.) Ein anderes
Mal fuhr der Kegelclub zu einer Ausstellung am Sonntagmorgen
nach Düsseldorf. Unterwegs beratschlagt man, wo man die Sonn-
tagsmesse hören könne. Da nahm Jupp das Wort und sagte :
”Op jenge Vaal e Düsseldorf selfs, wenn se do de Duede verläse,
da setze wer noch öm vof Uhre ejen Kerch.” (Auf keinen Fall
in Düsseldorf selbst, wenn sie dort die Toten verlesen, dann sitzen
wir noch um 5 Uhr in der Kirche.) Jupp dachte dabei an die
Angewohnheit des Pastors von Hauset, an gewissen Sonntagen
die Toten der letzten 20 Jahre zu verlesen. Bei dem gleichen
Ausflug zur Düsseldorfer Ausstellung traf ich Jupp abends in
einer Toilette im Ausstellungsgelände. Jupp stand pinkelnd und
45
sinnend und sagte zu mir : ”Do beß doch enen Schuellierer, hür
ens, wat ech jedicht haan ! Saach selfs, küent dat neet van der
Jöte sien ?” (Du bist doch ein Schullehrer, hör einmal, was ich
gedichtet habe ! Sag selbst, könnte das nicht von Goethe sein !)
Und Jupp deklamierte : ”Beim lustig plätschernden Gepinkel ver-
giß den Wärter nicht im Winkel!” Heute bin ich nicht ganz
sicher mehr, ob Jupp diesen urkomischen Vers selbst gemacht
hat, oder ob er ihn irgendwo gelesen hat.
Die nächste Dorfgeschichte soll erzählen, wie Jupp selbst
einmal gefoppt wurde und sich darüber ärgerte.
Der Jupp als stolzer Soldatenvater
Obwohl in Hauset geboren, war Jupp nicht Neubelgier,
sondern Deutscher, weil er 1919 an dem betreffenden Stichtag
vorübergehend in Aachen angemeldet war. Nach Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland wurde nun Jupps äl-
tester Sohn, der ”Lor” (Lorenz), Soldat in Düsseldorf. Jupps
Stolz kannte nun keine Grenzen mehr. Zu seinem größten Leid-
wesen jedoch durfte der Lor nicht in Wehrmachtsuniform nach
Hauset in Urlaub kommen. Jupp tröstete sich damit, daß er
seinen schlacksigen Filius in den meisten Familien bei einem
abendfüllenden Besuch vorführte. Der Lor mußte dort mit einem
Besenstiel auf Jupps Kommando Gewehrgriffe ”kloppen” und
beim Kommiß verlangte Körperübungen wie Kniebeugen, Arm-
stützbeugen usw. vormachen. Der Lor absolvierte diese Übungen
unzählige Male mit hochrotem Kopf. Jupp wollte damit beweisen,
um wieviel härter und seiner Meinung nach auch besser die Aus-
bildung der deutschen Soldaten als die der belgischen war.
An einem schönen Sommertag - der Lor war längst wieder
bei seiner Einheit in Düsseldorf - fuhr der Kegelclub wieder
einmal in die Eifel. Jupp und seine Frau waren natürlich dabei.
Jupp hatte als Spaßmacher fungiert, hatte, um seinen Witz zu
schärfen, tagsüber fleißig gebechert, und er war abends sozu-
sagen ”blank”. Zum Abschluß der fröhlichen Bierreise machte
man vor dem Hotel Schumacher in Nideggen halt, und alles
strömte in die Bierschänke des Hotels. Nur Jupp und seine Frau
standen einsam draußen auf dem kleinen Platz vor dem Hotel
in der Abendsonne. Man sah, daß Jupp mit seiner Frau hart-
46
näckige Verhandlungen um einen Nachkredit führte. Jupps Frau,
übrigens eine sehr ordentliche Hausfrau, lehnte wohl Jupps An-
trag entschieden ab, denn ihrer Meinung nach hatte Jupp an
diesem Tage bereits genug ausgegeben. In der besagten Schänke
stand am Schanktisch ein junger deutscher Soldat. Ich bemerkte
sofort, daß er der gleichen Waffengattung wie Lor angehörte.
Da reifte in mir ein teuflischer Plan. Schnell informierte ich
Freund Hari H. Dieser stimmte begeistert zu. Nun mußte schnell
gehandelt werden. Wir gesellten uns zu dem Soldaten an der
Theke, bestellten mehrere Bier für ihn und erklärten ihm unser
Vorhaben. Wir sagten ihm, daß gleich ein langer Zivilist die
Wirtschaft betreten werde, der bestimmt sofort ein Gespräch mit
ihm anknüpfen werde, da sein Sohn auch deutscher Soldat ,
bei der gleichen Waffengattung sei. Wir fragten unseren Mann,
ob er den Spaß mitmache und so tun wolle, als ob er Lorenz
persönlich kenne. Der Soldat war sofort einverstanden. Freund
Hari gab dem Soldaten alle nötigen Auskünfte über Lor : Name,
Vorname, Einheit, Standort, Aussehen usw. Unser Mann war ein
intelligenter Mensch und hat alles getreulich behalten. Nun galt
es, den Jupp in die Schänke zu bringen. Freund Hari wollte sich
gerade zu diesem Zwecke nach draußen begeben, als die Tür
sich öffnete und Jupp hereintrat. Scheinbar war es ihm schließ-
lich doch gelungen, seiner Ehehälfte einige Märklein abzuringen.
Wie vorausgeahnt, ging Jupp sofort an den Köder. Er trat an die
Theke, begrüßte den Soldaten, bestellte für ihn und für sich
ein Bier und begann prompt das Gespräch : ”Na, Kamerad, ich
sehe, Sie sind auch Pionier. Ich habe auch einen Sohn, der bei
den Pionieren ist.” Jupp hatte uns beim Anblick des Soldaten
keines Blickes gewürdigt. Als wir nun sahen, wie feste er bereits
angebissen hatte, ließen wir alle Vorsicht fahren. und brachen
in Gelächter aus. Der Soldat blieb ernst, wie es seiner Rolle zu-
kam. Jupp wandte sich zu uns, sah uns geringschätzend von
oben bis unten an, drehte sich wieder zu dem Soldaten und sag-
te: ”Achten Sie nicht auf das Volk. Das sind ganz dumme
Bauern, die niemals aus ihrem Mistdorf herauskommen. Die
können sich nicht unter gebildeten Menschen benehmen.”
Da nahm der Soldat das Wort und fragte : ”Wo ist Ihr Sohn
denn kaserniert ?” Jupp nannte Standort und Einheit seines Soh-
nes. Da hellte sich das Gesicht des Soldaten auf, indem er sagte :
”Dann muß ich Ihren Sohn doch kennen, ich bin nämlich in
derselben Einheit. Wie heißt er denn ?” - ”Hüpgens !” posaunte
Jupp. "Lorenz, ja den kenne ich sogar sehr gut,” antwortete der
47
Soldat. Dem Jupp verschlug es die Sprache. Er achtete nicht
mehr auf unser Gelächter, eilte mit langen Schritten zur Tür,
riß diese auf und rief nach draußen : ”Modder, hej es ene Ka-
merot va ose Lor !” (Mutter, hier ist ein Kamerad von unserm
Lor!) Frau H. war sofort da. Der Soldat wurde mit Fragen
bestürmt und mit Bier ”überhäuft”. Er spielte seine Rolle vor-
züglich. Hari und ich lachten haltlos. Der Soldat sah uns fragend
an. Jupp wies geringschätzend mit dem Kopf nach uns und sagte :
”Wie gesagt, lassen Sie sich nicht stören ! Das sind ganz gewöhn-
liche Köllepöezer. Der Jüngere - Jupp meinte mich - war auch
Soldat, sogar Sergeant, aber nur ein krummer belgischer Rap-
pelezang !” (”Köllepöezer” nannte man früher die Thekensteher
in den Wirtschaften am Kölntor, heute Hansemannplatz, in
Aachen. Diese Tagediebe tranken jedem ahnungslosen Gast un-
bemerkt das Schnaps- oder Bierglas leer. ”Rappelezang” kommt
von dem französischen Wort remplacant d.h. Ersatzmann im
belg. Heer vor 1914.) Auch Mutter H. war über unser haltloses
Gelächter indigniert und sagte vorwurfsvoll zu mir : ”Hermann,
ech kann dech neet verstue, du wellst doch als Liehrer ene je-
belde Mensch sie. Kannste dann di Freud va os neet verstue ?”
(Hermann, ich kann dich nicht verstehen, du willst doch als
Lehrer ein gebildeter Mensch sein. Kannst du denn unsere
Freude nicht verstehen ?”) Dieser gerechte mütterliche Tadel
ernüchterte mich. Freund Hari und ich mäßigten uns. Der Soldat
spielte seine Rolle meisterhaft zu Ende. Er steckte Butterbrote
für Lor ein, weigerte sich aber entschieden, das Fünfmarkstück
von Frau H. für Lor anzunehmen. Der Soldat sagte, daß Lor
genug Geld habe. Etwas ungläubig sahen Jupp und seine Frau
den Helden an, schöpften aber keinen Verdacht. Die Verabschie-
dung war sehr bewegt. Frau H. umarmte den jungen Mann. Wir
wagten nicht mehr zu lachen. Im Bus war Jupp zuerst lange Zeit
schweigsam. Er war aber nicht nachtragend, wollte auch auf
seine Spaßmacherrolle nicht verzichten und sagte einlenkend :
”Verjeiß et, Modder ! Et sönt eben mär kleng domm Burelüj.”
(Vergiß es, Mutter ! Es sind eben nur kleine dumme Bauersleute.)
Dann hat Jupp wieder seine Späße gemacht. Wir haben nie er-
fahren, ob Jupp den Jux je gemerkt hat. Vielleicht mögen feine
Leute unsern Spaß auch als zu grob empfinden, aber auf dem Dorf
muß man eben mit solchen Späßen rechnen. Der Lor ist übrigens
heute ein tüchtiger und angesehener Mann, der bestimmt gerne
an die Späße seines Vaters zurückdenkt.
HH
48
Burg Streversdorf bei Montzen
von Gerard Tatas
An jene Zeit die Burgen mahnen, Dem Forscher bringt wohl eitle Freude
Wo Graf und Ritter und Baron Des bunten Söllers Freskenrest.
Mit usurpiertem Recht der Ahnen, In mir erweckt die Augenweide
Wie vom Olymp einst die Titanen, Ein Bild, wie einst in Samt und Seide
Auf Sklaven blickten in der Fron. Der Graf hier prunkvoll saß beim Fest.
Doch furchtbar richtend wie Jupiter Und ich gedenk’ der Unterdrückung
Steht auf der Knechte Genius, Des armen Bauernvolks dabei,
Zersprengt die Ketten, öffnet Gitter Und wie der Schloßherr zur Erquickung
Und stürzt die übermüt’gen Ritter Der satten Sinne zeigt die Schmückung
Hinunter in den Tartarus. Des Saals den Gästen sorgenfrei.
Und ihre bunten Prunkgemächer, Ich seh’ ihn beim Lucullusmahle,
Wo einst nach lautem Hörnerschall Derweil im Dorfe herrscht die Not ;
Der wilden Jagd die üpp’gen Zecher Ich sehe ihn in diesem Saale 7
Geschwelgt beim Klang der Silberbecher, Oft Fehde planen und Kabale
Sind preisgegeben dem Zerfall. Und gegen Feinde Kampf und Tod.
Und jener Zeit, die längst entschwunden Noch träumt der Bergfried von Vasallen
Mit Ritter, Wappen, Schild und Roß, Und Streversdorfer Herrlichkeit,
Und auch der Sklaven Folterwunden Doch nisten Schwalben in den Hallen
Gedenk’ ich, als ich kurze Stunden Und durch das off’ne Fenster fallen
Verweil’ im Streversdorfer Schloß. Die Strahlen einer neuen Zeit.
Sendetermine der Geschichtsvereine
_ im Deutschsprachigen Belgischen Rundfunk (B.H.F.)
Sendefrequenzen : 88.5 MHF - Kanal 5 UKW.
94.9 MHZ - Kanal 26 UKW.
— St. Vith erster Montag im Monat
— Eupen zweiter Montag im Monat
— Göhltal vierter Montag im Monat
von 18,30 bis 18,35 Uhr.
Themen
1. Heimatdichter
2. Heimatgeschichte und Folklore
3. Mundart
Im Januar 1970 beginnt St. Vith mit dem ersten Thema,
Eupen mit dem zweiten und das Göhltal mit dem dritten.
Jeder Verein setzt diese Reihenfolge fort in der Weise,
daß er nach der Beendigung des dritten Themas wieder mit dem
ersten beginnt.
49
Schwalbenglück und Schwalbennot
Eigentlich müßte ich als Germanist Aufsätze etwa über un-
sere Mundarten beisteuern. Aber auch die Vögel gehören zur
Heimat. Eine Gegend ohne Vögel und Vogelgesang käme mir
vor wie ein Dorf ohne Kinder und Kinderstimmen. Zumal die
Schwalbe, obschon sie nur die Hälfte des Jahres bei uns ver-
bringt, ist ein von den meisten Menschen gern gesehener Vogel.
Im Großen Brockhaus Bd. 10 (1956), S. 525 ist folgendes zu
lesen : ”Im Volksglauben werden die Schwalben besonders in
Mitteleuropa als Frühlingsboten verehrt ; ihr Erscheinen gilt als
glückbringend, ihr Nisten am Haus wehrt Blitz und Unglück
ab.”
In diesem Jahre 1969 tauchten die ersten Schwalben, die
Vorhut sozusagen, um den 10. April auf. Nach allzu langem
Winter sollte endlich der Frühling kommen ; die mit scharfem
Instinkt begabten Vögel mußten es ja spüren. Am 24. April
waren sie dann alle da, unter sickerndem Regen noch; doch
schon am 25, stellte sich das Wetter auf Frühling um. Und die
Schwalben sausten liebes- und sonnetrunken durch unsere Lüfte.
Jedes Pärchen suchte einen Nistplatz, baute ein neues Nest oder
besserte das alte aus. In den Ställen meines Bruders und Nach-
barn, deren Türen unserem Haus zugekehrt und keine fünfzig
Meter entfernt sind, waren zwei Nester, und zwei Schwalben-
paare kehrten dort ein und schwirrten um unser Haus und zwit-
scherten auf unseren Drähten. Es waren, wie fast immer an
Bauernhöfen, Rauchschwalben. Es sind eigentlich die schönsten :
oben blauschwarz, unten weiß, aber dunkelblaues Kropfband
und braunrote Kehle und Stirn. Die Rauchschwalbe ist mit ihrem
tiefgegabelten Schwanz schlanker und sie zwitschert auch ange-
nehmer als die Mehl- oder Hausschwalbe. Diese findet sich im
Dorfinnern und sogar in Städten ; sie ist unten ganz weiß und hat
auch den Bürzel (das obere Hinterteil) weiß. Seltener ist in
unserer Gegend die oben braune, unten größtenteils weiße
Uferschwalbe. Wohl wird noch der rußschwarze, andauernd flie-
gende Mauersegler Mauer- oder Turmschwalbe genannt und vom
Volk zu den Schwalben gerechnet (Gemmenicher Mundart :
Ste(n)schwelber), aber dieser Vogel ist gar kein Singvogel, wenn
auch ein erfreulicher Sommergast ; er ist der schnellste Vogel
Europas und soll streckenweise 50 Meter in der Sekunde fliegen.
Für die Rauchschwalbe ist eine Geschwindigkeit von 35 Meter
50
in.der Sekunde festgestellt worden. Den schnellen Flug verdan-
ken diese Vögel ihren langen Flügeln, die aber auch wieder ein
Nachteil werden können : sie würden ihre Flügel schleppen und
nur schwer hochkommen, wenn sie der Nahrungssuche am Boden
nachgehen wollten, so daß sie sich nur von fliegenden Insekten
ernähren können.
Doch zurück zu unseren zwei Pärchen und ihren Vorberei-
tungen zum Brüten. Es gibt wohl kaum einen Bauer, der Schwal-
ben nicht in seinen Stall lassen und in diesem keine Schwalben-
nester dulden würde. Um den Vögelchen das Ein- und Aus-
fliegen zu ermöglichen, wird entweder ein Fenster schräg geöff-
net oder der obere Stalltürflügel offengelassen. Leider muß der
Bauer auch Katzen halten, und gewisse Katzen sind auf alles, P
was in ihrer Reich- oder Sprungweite riecht, läuft und fliegt,
wie der Teufel auf eine Seele aus. Kaum eine Woche nach dem
Schwalbeneinzug erhaschte der auf dem unteren Türflügel oder
auf der Mauer des Schweinekobens lauernde schwarze Kater
eine der vier Schwalben, so daß der verwitwete Teil die Liebes-
flüge des anderen Brutpärchens ledig mitflog. Seitdem haben
wir den Kater oft aus dem Flugrevier vertrieben, und das unver-
sehrte Paar war selbst auf die Gefahr aufmerksam geworden.
Das wurde offensichtlich als im Juni die Jungen aus dem Ei
geschlüpft waren.
Es gibt im Menschen- und Tierreich wohl nur ganz wenige
Eltern, die, ihre Kleinen zu schützen, einen übergroßen Feind so
keck angreifen wie unser Schwalbenpaar den schwarzen Kater.
Kaum tauchte er irgendwo auf, so sausten die beiden um die
Wette auf ihn nieder, schnellten mit schrillem Schrei knapp über
ihm empor oder schwenkten kurz vor seinem Rachen und seinen
Krallen blitzschnell ab. Mehr als einmal haben wir die Katze
erschreckt zusammenzucken und Reißaus nehmen sehen. Die
Gefahr war damit aber doch nicht gebannt. Wenn die Kleinen
flügge würden, aber während ihrer ersten Flugversuche etwa
den unteren Stalltürflügel zum Zwischensitzplatz wählen sollten,
wie leicht könnte die Katze sie da mit einem Sprung erwischen.
Deshalb wurde in diesen Tagen die Tür ganz offengelassen, und
Anfang Juli brachte das Elternpaar seine fünf Kleinen heil auf
die Hochspannungs- und Telefondrähte. Es war sanftes Wetter
und fehlte nicht an Fliegen ; in den ersten Tagen schoben noch
die Eltern den angespeichelten Fang in die rufend aufgesperrten
51
fünf Mäulchen. Doch recht bald fingen diese selbst auf stets län-
geren Flügen zu haschen an. Das war auch nötig, denn die
Alten mußten das Nest wieder etwas ausbessern, für die zweite
Brut.
Vom 10. Juli an waren wir nicht mehr da, um das Leben
unserer Schwalben zu beobachten. Die Eltern werden sehr bald
wieder gebrütet haben, während die Jungen ab Mitte Juli in der
heißen Sommersonne wohl schnell gediehen sind. Am 2. August,
am Morgen nach unserer Rückkehr, rief mein Bruder herüber,
es wären wieder kleine Schwalben im Nest, die Alten hätten die
Eierschalen herausgeworfen. Und wieder ging der Kampf gegen
die Katze los, oder vielmehr gegen beide Katzen, denn die
Schwalben unterschieden nicht zwischen dem jungen schwarzen
Räuber und der viel harmloseren Alten. Diesmal waren es aber
nicht nur zwei, sondern sieben, die schreiend nieder- und wieder
emporsausten ; so weit waren die Jungen aus der ersten Brut
schon. Eigentlich waren sie nur noch an den kürzeren Schwanz-
spießen zu erkennen. Und als die kleinen Brüderchen und
Schwesterchen bald gefiedert den weitgeöffneten Schnabel über
den Nestrand reckten, wollten auch sie schon mitfüttern. Ich
hab öfters in der Nähe des Nestes gestanden und mir das Spiel-
chen angesehen. Beim ersten Anflug sind die Alten dann miß-
trauisch und fliegen wieder hinaus, kehren aber wieder, setzen
sich kurz auf eine nahe Warte und wagen es schließlich, sich
an den Nestrand zu haken und den Happen ”an den Mann” zu
bringen. Dann wieder auf den Beobachtungsposten, bis der Ehe-
gefährte oder die Ehegefährtin da ist. Aber nach einigen Minu-
ten schwindet jedes Mißtrauen, sie sehen in dem menschlichen
Beobachter keine Gefahr mehr und füttern ruhig weiter, ruhig
aber rege. Unaufhörlich fliegen sie aus und ein. Wieviel Flug-
meilen, um die Kleinen großzufüttern ! Diese bekommen alle
ihr Teil, ziemlich genau der Reihe nach, obschon jedesmal alle
den Schnabel weit aufsperren ; sie sind meistens gleich groß und
stark. Öfters gechah es, wenn beide Eltern gerade hinaus waren,
daß ein Junges von der ersten Brut auch Vater oder Mutter
spielte und seine Mücken oder Fliegen ins Nest schnäbelte. War
aber eine der alten da, so wurde das naseweise Ding vertrieben :
es brauchte das Erhaschte wohl selber, oder aber es servierte es
nicht sachgerecht ? Schwer zu sagen, was die Eltern dazu bewog,
diese Hilfe ihrer fast erwachsenen Kinder abzuweisen.
52
Bis zum 11. August herrschte große Hitze. Die Bauern
und die Gartenbesitzer wünschten sich Regen auf die ausge-
trocknete Erde. Am 12. August fielen die ersten Tropfen. An
den folgenden Tagen wurden die Regenschauer zahlreicher und
kräftiger. Die Temperatur sank spürbar. Fliegen und Mücken
wurden spärlicher. Das war aus den stets längeren Flügen zu
ersehen, die die Schwalbeneltern brauchten, um mit der nötigen
Nahrung zum Nest zurückzukehren. Doch die vier Jungen wuch-
sen ; schon kletterten sie auf den Nestrand und wendeten sich
dort, um den Kot ins Leere fallen zu lassen. Anfangs der näch-
sten Woche würden sie auf das Locken der Eltern hin bestimmt
ausfliegen.
In der Tat, am 18. oder 19. August ist auf kurze Augen-
blicke zwischen den Regenschauern eine rund zehnköpfige
Schwalbenfamilie um das Stallgebäude zu sehen. Sobald es reg-
net werden die Kleinen wieder hineingelockt. Gegen Ende der
Woche jedoch tun sie vollends den Schritt - oder genauer den
Flügelschlag - in die Welt, ... aber nicht ins Leben. Denn am
Sonntag dem 24. regnet es in Strömen, ununterbrochen von mor-
gens früh bis in die Nacht hinein, ein kalter Regen. Die jungen
Schwalben sitzen auf den Zaun- und Wäschedrähten um unser
Haus und lassen schon die Flügel hängen. Hin und wieder ein
kurzer Ausfall auf eine seltene Fliege, die ihnen aber öfters ent-
wischt. Bei leerem Magen erschlaffen auch die Flügelchen. Zwei-
mal fliegt eine gegen unsere Fenster, wo hier und da noch eine
Fliege sitzt. Zweimal läßt sich eines der ganz Kleinen genau
neben mir auf das äußere Küchenfenstersims nieder. Sobald ich
mich rühre, fliegt es davon, aber beim zweiten Mal stürzt es
kraftlos ins nasse Gras nieder. Ich muß in den kalten Regen
hinaus, um es aufzuscheuchen und nach einigen Irrflügen dem
Stall und dem Nest zuzutreiben. Aber dort haben sich auch die
Jungen aus der ersten Brut hingeflüchtet und besetzen das Nest.
Für zwei der kleinen ist kein Platz mehr, oder sie kommen schon
nicht mehr hoch und flattern am Stallboden umher. Mein Bruder
nimmt die beiden mit in die warme Küche, während die Katzen
in den Keller wandern. Aber den entkräfteten Tierchen fehlen
wohl die wärmenden Flügel der Eltern und besonders die Nah-
rung : am Morgen ist das eine tot, das andere stirbt bald danach
im Nest, wo es hingebracht worden ist. Am Montag ist das
Wetter etwas besser : bewölkter Himmel, eher kalt, aber wenig
s3
Regen. Die zwei übrigbleibenden werden wohl durchkommen,
obschon sie armselig aussehen. Das Elternpaar nährt sie auf un-
serer Wäscheleine, aber es findet kaum für sich selbst genug
Nahrung, während ganz in der Nähe andere Vögel - Spatzen,
Amseln, Rotschwänzchen, Fliegenschnäpper, Klappergrasmücken,
Meisen, Fitisse, Gartenspötter, usw. - noch mehr Würmer finden
als sonst und auch an abgefallenem Obst naschen. Aber Schwal-
ben sind eben in der Ernährungsweise beschränkter. Am Dienstag
dem 26. regnet es wieder, nicht so andauernd wie am Sonntag,
aber im Laufe des Nachmittags und späten Nachmittags sind
zweimal etwa eine Stunde lang alle Schleusen des Himmels ge-
öffnet : zwei Wolkenbrüche, wie man sie nicht oft erlebt. Gegen
sechs Uhr höre ich ein eindringliches Schreien, so kräftig wie
das eines großen Kükens. Nach einigen Minuten sehe ich nach,
Öffne die Haustür, und eine der zwei kleinen Schwalben, die
sich dort hingekauert hatte, fliegt auf und in flachem Flug davon.
Keine Viertelstunde später setzt das Schreien, aber diesmal
schwächer, wieder ein. Ich öffne die Tür vorsichtiger, das Kleine
sitzt da und schaut uns an, hilfsbedürftig. Wir lassen die Tür
halb offen, gewiß, daß es hereinfliegen wird. Das tut es denn
auch, aber höchstens fünf Meter in den Flur hinein, dort stürzt
es zu Boden. Wir bringen es in einer Pappschachtel in die ge-
heizte Garage, suchen ihm Fliegen, die es aber nicht entgegen-
nimmt : hat es dazu schon nicht mehr die Kraft, oder nimmt die
Schwalbe nur von ihresgleichen Nahrung an? Meine Frau geht
und fragt meinen Bruder, ob er das kleine Wichtchen nicht ins
Nest setzen könnte. Er fürchtet aber, die andern so spät am
Abend in den kalten Regen hinauszuscheuchen. Ein paar Stunden
vorher hatte er auch bereits ein Junges von der ersten Brut tot
am Stallboden liegen gefunden : mit denen fängt es auch schon
an. Wir behalten das Kleine also bei uns ; eine Zeitlang sitzt es
ganz zutraulich auf meiner linken Hand, deren Wärme ihm wohl-
tut. Es schaut mich geradezu an, aber was kann ich tun? Mein
Ausruf : ”Bist du, Armes, denn dazu zur Welt gekommen ?”
hilft ihm auch nicht. Als ich es am nächsten Morgen den Alten
zeigen und ins Nest bringen will, ist es schon tot. Es ist immer
noch kalt ; hin und wieder regnet es. Das vierte Kleine sitzt auf
unserer Wäscheleine und ruft flügelschlagend nach Nahrung, aber
die Alten finden fast nichts. Wenn sich eine der beiden in seiner
Nähe niederläßt, rückt es an sie heran und pickt wild fordernd
an ihren Schnabel ; umsonst. Einige Meter davon sitzen zwei der
54
älteren Jungen aneinandergepreßt, um etwas Wärme zu gewin-
nen. Erbärmlich sieht das aus, wie die blöde, blinde Natur ihre
zierlichsten Geschöpfe martert und tötet. Ich bin froh, daß ich
heute nach Lüttich muß und das nicht mit anzusehen brauche.
Das letzte Kleine stürzt gegen elf Uhr, als es einen kleinen Flug-
versuch macht, zu Boden. Meine Frau hebt es auf; im Nest
stirbt es natürlich kurz darauf. Am Nachmittag scheint die Sonne
hin und wieder, sofort vermehren sich die Fliegen und Mücken,
und das Schwalbenpaar nährt seine großen Kinder ohne Unterlaß.
Es muß sie nähren wie vor zwei Monaten im Nest, als hätten sie
inzwischen nicht schon ganz selbständig gelebt und die Katze
vertreiben und die Kleinen füttern helfen. Am Donnerstag wie-
der Regen und abermals Regen, wenigstens am Morgen. Auf .
einer Fahrt nach Verviers sehe ich in anderen Orten das gleiche
Schauspiel : ein Kleines neben einem Bordstein schirpend, Alte,
die ihre Flugkraft weithin eingebüßt haben und nun kaum noch
dem heranrollenden Wagen entkommen. Doch die beiden Jungen
zu Hause leben noch und folgen hin und wieder den Eltern auf
ihren Flügen von einem Kuhfladen zum andern, wo noch einige
Fliegen sitzen. Sind von der ersten Brut nur noch diese beiden
am Leben? Oder waren die zwei andern stärker, so daß ihnen
keine Not anzusehen ist? Am Freitagmorgen, nach einer kalten
Nacht, in der der Nordostwind tobte, sitzen fünf oder sechs auf
unsern Drähten und Leinen, aber wenig später sehe ich eine
drunter im Gras liegen und rufen. Die Alten fliegen über sie hin,
um sie aufzumuntern. Was ist da zu tun? Erst bin ich geneigt,
sie liegen zu lassen, man kann ihr ja doch nicht helfen. Dann
besinne ich mich eines andern : in der Garage hängt eine in-
einandergeschobene Steckleiter horizontal an der Wand; mit
drei dünnen Holzstäben, die ich dicht nebeneinander zwischen
zwei der vier Holme stecke, mache ich schnell eine etwas breite
Vogelstange, auf der das Tierchen besseren Halt finden wird
als auf einem dünnen Draht. Ich nehme es auf - davonfliegen
kann es schon nicht mehr - und setze es auf die Seitenfläche
des Leiterholms, in die Nähe der improvisierten Aufsitzstange ;
die Garage lasse ich geöffnet. Eine halbe Stunde später hat es
sich denn auch an der Wärme etwas erholt und sitzt - sieh an -
auf der ihm zugedachten Stange. Doch erschöpft ist erschöpft.
Dann hat es wohl zu früh einen Flugversuch gemacht, ist nieder-
gestürzt und am Boden gestorben. Am Nachmittag desselben
Freitags fängt die Temperatur an zu steigen, das Wetter klart
55
langsam auf, am Samstag ist es schön : die andere junge Schwal-
be, die mit der zuletzt eingegangenen aneinandergedrückt auf der
Leine gesessen hatte, wird von den Eltern genährt, - und so auch
noch am Sonntag. Am Dienstag, als der Wind schon wieder
kälter weht, ruft sie immer noch nach Nahrung, aber die Alten
bringen ihr keine mehr. Muß die nun auch noch dahin ? Doch
sie muß jetzt wohl wieder allein fertig werden, sonst wird sie
auch nicht reif für die große, bevorstehende Reise nach Afrika
südlich der Sahara. Sie ist davongeflogen und hoffentlich am Le-
ben geblieben. Sechs Opfer - wenigstens sechs - von neun erst
so glücklich aus dem Nest gekommenen Vögelchen, das dürfte
doch schließlich genügen.
Jetzt, wo ich dies schreibe, am 5. September, herrscht schö-
nes Herbstwetter, wenn auch der Nordwind noch etwas bläst.
Die Schwalben schwirren und kreisen in Scharen hoch über den
Häusern, Wiesen und Wäldern und lassen sich in Gruppen von
fünfzig bis hundert auf die Hochspannungsleitungen nieder, denn
es sind gesellige Vögel. Es waren dieses Jahr anscheinend mehr
zu uns gekommen als in den letzten Jahren. Aber wieviele Junge
hat das Wetter getötet! Schade. Sonst wären von diesen zwit-
schernden, schlanken, einfach aber schön gefärbten Flugkünstlern
wohl wieder einmal - wie in früheren Jahren - viele Hunderte
aus jedem Dorf abgereist und nächsten Frühling größtenteils zu
uns zurückgekehrt, zu neuem Brüten, Zwitschern und Insekten-
vertilgen.
Jules Aldenhoff (Gemmenich)
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Eindrücke aus der Russischen Steppe
von Peter Emonts-pohl
Zu diesem Zyklus von fünf Gedichten schreibt der Verfas-
ser : ”Als Zwangssoldat habe ich die weiten Räume des Ostens
erlebt und versucht, in die Vergangenheit des Landes und in die
Seelen seiner Menschen zu schauen”.
Vision am Kurgan ()
Tief in der Wermutsteppe
wölbt sich ein Kurgan empor.
Nur Steppenwind und Sommerglut, ;
verschüttet die Gänge, die Treppe,
der Eingang, das Holzzelt, das Tor ;
verebbt des Ostens Völkerflut.
Grab eines Skythenfürsten
schläft drei Jahrtausende schon,
birgt Waffen, Gold und Edelstein.
Am Hügel die Schafe, sie dürsten ;
sie bannt kaum der Rohrflöte Ton;
nur Kühlung bringt der Abendschein.
Manchmal in Sturmesnächten
braust es von Osten heran,
ein Geisterheer, Sarmatenzug ;
ein blutiges Streiten und Fechten
auf nächtlicher Walstatt hebt an.
Zum Schwert geschmiedet ist der Pflug.
Und wie aus dunkeln Träumen
fährt dann der Kriegsfürst empor,
besteigt das Streitroß, schwingt das Schwert.
”Vorwärts, wir dürfen nicht säumen !”
erschallt rings der Kriegsruf im Chor.
Es sirrt ein Pfeil, es stürzt das Pferd.
Ostwärts ein fahler Schimmer.
Müd gehn die Krieger zur Ruh.
Leben, Liebe, Todesnot
deckt wieder, wie lang schon, wie immer,
mit Schweigen der Grabhügel zu;
vergessen Sieg und Heldentod.
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Hunnenritt
Flatternde Mähnen und stampfende Hufe,
knirschendes Leder, das Kurzschwert am Knauf,
zorniges Hecheln und heisere Rufe,
zieht es wie Sturm aus der Steppe herauf,
Staub wirbelt auf, eine goldene Wolke,
huschende Schemen ! - Dem Steppenvolke
reitet der Tod mit der Fahne vorauf.
Schwelende Flammen und beißende Schwaden
zeichnen den Weg, ein unheimlich Fanal.
Nun in die Balka (?) in raschen Kaskaden
stürzen die Rosse ins trockene Tal.
Hufe zermahlen den Wermut im Staube,
zitternd erschauert mit dürstendem Laube
einsamer Strauch und zersplittert im Fall.
Sinkendes Leben, zertretene Blüte,
hastiges Suchen, Erraffen von Gold;
lechzende Gier kocht im heißen Gebiüte,
holt im Vorbeiritt sich blutigen Sold.
Sehnige Leiber und gelbe Gesichter,
blauschwarze Strähnen und blitzende Lichter ;
schwindender Hufschlag wie Donner noch grollt.
Allerheiligenfeier (*)
Grünspanpatina auf Kuppeln und Dächern
blüht in den Himmel Belaja Kalitwas. (*)
Weiß schimmern Felsen am kreidigen Steilhang.
Ikonostase vor Gottesgemächern,
weinend der Pope das Gotteswort las,
inbrünstig Flehen den Himmel bezwang.
So wie des Donez urewiges Rauschen
brandet der Beter vielstimmiger Chor,
uralte Hymne, ein Singen und Lauschen,
flutet wie Brandung ans himmlische Tor.
Golden erstrahlen Gewänder und Kronen,
silbern Gelock und Prophetenbart
dämmern durch Wolken von Weihrauch herab.
Blick schwarzer Augen aus alten Ikonen,
gütige Strenge mit Wehmut gepaart,
segnende Hände auf Wiege und Grab.
Führer im Leben und Tröster im Sterben
bist du, o Sergius, o Wladimir.
Will uns das Leben, das Schicksal enterben,
finden wir Stärke und Hilfe bei dir.
Segnet die Gaben, die wir euch bereiten :
Eier und Butter und Kascha (°*) und Brot !
58
Seht wie der Wachslichter ruhige Flammen
Schimmer und Schatten an Wänden ausbreiten,
wechselnd wie menschliche Freude und Not
über uns, die wir dem Staube entstammen.
Dunkel des Chores gewaltiges Fluten
einmal noch ruft aller Heiligen Namen.
Flammendes Beten, ein pfingstliches Gluten
jubelt wie Sturmwind : In Ewigkeit Amen !
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59
Ikone
Durch die erblindeten Scheiben
dämmert die Nacht schon herein.
Endlos weit dehnt sich die Steppe
unter dem Abendrotschein.
Holz nur und Lehm sind die Wände,
schützendes Dach aus Stroh ;
haben sie auch nur vier Wände,
sind doch die Menschen froh.
Ewige Flamme im Glase
funkelt wie Blutrubin ;
unter der alten Ikone,
heiliges mystisches Glühn.
Sanft weht ein gütig Erbarmen
her aus dem altdunklen Bild ;
lindert die Herznot der Armen,
Jungfrau, dein Lächeln so mild !
Die russische Seele
Noch in den Hütten an Wolga und Donez
lächelt aus dunkler Ikone die Magd,
Mutter des Herren ; Rubin und Smaragd
funkeln auf Kronen aus Goldfiligran.
Herrin der Milde, o Frau von Kasan !
Mutter, dein Lächeln, es rührt an die Herzen
schmerzvoll durch Zeit und durch Ewigkeit ;
russische Seele ist leidensbereit,
dunkel, voll Schwermut, doch hörst du sie an,
Herrin der Milde, o Frau von Kasan !
Jubel der Freude und Abgrund der Tränen ;
seliger Rausch ist der Schmerz so wie Freud.
Mutter der Armen ist nahe im Leid.
Nimmst dich der leidtrunknen Seele doch an,
Herrin der Milde, o Frau von Kasan !
Anmerkungen :
1. Der Kurgan : Vorgeschichtlicher Grabhügel der Skythen in den Step-
pen Südrußlands.
2. Die Balka : Durch Erosion entstandene Schlucht in der Südrussi-
schen Steppe.
3. Die Ostkirche feiert das Allerheiligenfest am Sonntag nach Pfingsten.
4. Belaja Kalitwa : Stadt am Donez, der Name bedeutet : weißer Stein.
5. Die Kascha : Hirse,
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Der grosse und der kleine Hans
von H. Schmitz jun. (1)
Schmitz & Sohn war eine ”feine Firma” in Köln am Rhein,
— aber sie stand mit diesem vornehmen Titel nicht im Handels-
register, weil der Sohn, nämlich der kleine Hans, erst 10 - 11 Jah-
re alt war. Der große Hans aber, also Schmitz sen., hatte es im
Leben zu etwas gebracht und wurde daher von seinen beiden
Frauen mit allem Respekt ”Johannes” genannt - sein Stammhal-
ter blieb ein Hans sein Leben lang. Was diese beiden da einmal
zu Weihnachten vor mehr als 50 Jahren erlebten, das sind heute
lustige und selige Erinnerungen ..., aber damals...!
” Das Christkindchen ist gestolpert”
Schmitz jun. (von den ”lieben” Tanten noch immer ”Häns-
chen” genannt) wußte natürlich ganz genau, weshalb er an die-
sem Abend mit den ganz Kleinen zu Bett geschickt wurde :
Der Vater wollte im Wohnzimmer den Weihnachtsbaum schmük-
ken, während im davorgelegenen Salon die neue Mutter ”dem
Christkindchen helfen mußte”.
Der kleine Hans im Kinderzimmer konnte gar nicht ein-
schlafen, weil er alles mithören wollte : Er hörte den Vater die
alten kleinen Kisten öffnen mit den bunten Kugeln darin, hörte
ihr liebliches sanftklingelndes Rascheln in den Tannenzweigen,
und er hörte weiter mit und lauschte stundenlang. Endlich schien
der Christbaum fertig zu sein : ”Lisbeth”, rief der Vater, ”nu’
mach’ mal auf, ich will nur den Baum hineintun !” Schlüssel-
bundklirren kam von der Salontür, und dann Mutters Stimme :
”Laß aber das Licht aus, Johannes !” Der Filius verstand ;
auch der Vater sollte ja überrascht werden !
Doch die Überraschung kam leider zu früh :
Lautes Glassplitterkrachen hallte gruselig durch die Heilige
Nacht ! - Dann ein dumpfer Fall. - Und wieder Klicken und
Krachen ! - ?? Bei dieser nächtlichen Katastrophe konnte der
kleine Hans natürlich nicht in seinem schönen warmen Bettchen
(1) Pseudonym für Prof. Dr. Hans JOST, wohnhaft in Köln, dessen
Vater aber aus Ostbelgien stammte. Dies ist der Grund, weshalb der
Verfasser diese Weihnachtserzählungen in unserer Zeitschrift ver-
Öffentlicht sehen möchte.
61
bleiben. Er schlich ins vordere Elternschlafzimmer und guckte
durchs Schlüsselloch in den ”Salon”. Da sah er die ”Besche-
rung”, als Mutter den Kronleuchter wieder hell gemacht hatte :
Vater stand mit den Schuhen in zwei großen am Boden
liegenden Bilderrahmen, in die er im Dunkeln hineingetreten war;
der Christbaum lang hingestreckt über dem Weihnachtstisch, und
der große Hans hielt ihn noch am Ständer fest !
Er schimpfte fürchterlich : ”Diese lächerliche Heimlichtuerei
..., nu’ helf” mir doch wenigstens !”
Durch das Schlüsselloch glaubte der kleine Hans das trau-
rige Gesicht von Mutter zu sehen, aber sie sagte nichts - sie
half ihrem Johannes aus den Bilderrahmen und rettete so we-
nigstens den schönen Christbaum.
Des Vaters Schimpfen aber nahm kein Ende - die arme
Mutter mußte einem wirklich leid tun ! Da faßte sich der Sohn
ein Herz, lief ins Wohnzimmer und rief laut weinend :
”Vater, was schimpfst du denn mit der Mutter? Sie ist
uns doch soo gut !” Sie schleppte gerade die neuen, aber schon
zertrümmerten Familienbilder daher von Vater Johannes und
der seligen Mama, mit denen sie ihn überraschen wollte.
Der Vater war auf einmal ganz ruhig - angesichts seines
Ältesten. im Nachtskittel. Nur aus dem Kinderzimmer hörte man
das Wimmern der aufgeschreckten kleineren Geschwister.
Das alles hatte der große Hans in seinen ”Geschäftsprinzi-
pien” gar nicht vorgesehen und wurde ganz weich ; er wollte es
nur nicht zeigen und rief daher mit lauter Stimme : ”Lisbeth,
komm doch her, wir trinken noch ein Glas Wein zusammen !”
Aber die Mutter kam nicht ; sie hatte jetzt im Kinderzimmer
zu tun. Da durfte Hänschen mal mittrinken - und der bekam
dann wieder Mut : ”Vater”, fragte er sich dummstellend, ”was
ist denn eigentlich passiert ?”
”Das Christkindchen ist in die Bilderrahmen gestolpert, weil
Mutter das Licht ausgemacht hat.”... ”Lisbeth, nu’ komm doch
endlich ! Auf die Bilder lassen wir neue Glasscheiben machen,
und dann ist alles wieder gut !”
Die Mutter setzte sich schließlich doch zu den beiden - der
62
Filius küßte den Vater zum Schlafengehen auf den großen
Schnurrbart und fragte ganz dreist : ”Vater, krieg ich auch’ ne
Eisenbahn mit Dampf ?” ”Sowas kann nur das Christkindchen
bringen, aber daran glaubst du ja nicht mehr ?!”
”Ja, hast du denn vielleicht in meinem Alter noch an das
Christkindchen geglaubt ? Es hat dir doch früher gar nichts Schö-
nes gebracht, weil ihr so arm wart !” Bei dieser Logik konnte
die Mutter wieder lachen, und der kleine Hans bekam vom Vater
einen sanften Klaps hintendrauf.
Der große Hans sagte aber auf einmal ganz ernst : ”Das
wirkliche Christkind wollte den Menschen etwas von der Liebe
und Weisheit Gottes in die Welt bringen, - aber keine Eisenbah- ,
nen und dergleichen !”
”Hurra ! Die Eisenbahn ist da !” .
Am frühen Weihnachtsmorgen rief Vater Johannes : ”Kin-
der, das Christkind ist gekommen !” Wie herrlich war das alles :
der flimmernde Christbaum mit den hellstrahlenden Kerzen, der
Weihnachtstisch mit den schönen Sachen darauf und - der
Dampfeisenbahn darunter ! Nur der Vater ging leer aus - sein
Weihnachtsgeschenk, die neuen großen Familienbilder, hatte er
schon kaputtgemacht ; sie standen mit zerfetzten Glasscherben
auf dem Balkon.
Die kleineren Geschwister jubelten über das diesmal beson-
ders liebe Christkind, und Hans, der nicht mehr klein sein wollte
- im Besitze einer Dampfeisenbahn -, führte diese zum erstenmal
über die Schienen - leider! - nur im Leerlauf. Die Gebrauchs-
anweisung aber für die Lokomotive ließ er nicht mehr aus den
Händen und versteckte sie sogar, als er mit zum Gottesdienst
mußte, in seiner Matrosenbluse.
In der Kirche überkam den kleinen Hans ein erregendes
Gefühl aus Freude und Trauer zugleich : ein inniges Glücksemp-
finden über die ihm geltende Liebe von Vater und Mutter -
und dabei doch ein tiefes Mitleid mit den Kindern der armen
Leute, wie es Vaters Eltern waren. Weshalb sorgten die Reichen
nicht besser dafür, wie es das wirkliche Christkind doch wohl ge-
wollt hatte ? - Darüber mußte er einmal mit Vater sprechen !
Der wußte über alles Bescheid, der würde ihm auch bei der Ge-
brauchsanweisung für die Dampflokomotive helfen, -
63
Zu Hause aber wollte der große Hans gar nicht mithelfen :
”In der Gebrauchsanweisung steht ausdrücklich, nur feinstes Ma-
schinenöl verwenden !, und das ist nicht im Haus !”
Nach dem Mittagessen kam jedoch dem kleinen Hans eine
autoritäre Hilfe in der würdigen Gestalt des wohlvertrauten Haus-
arztes, Herrn Dr. Pütz. Der bekam die Gebrauchsanweisung
gleich in die Hand gedrückt - bevor er sich noch setzen konnte
oder sich gar seinen goldenen Kneifer auf die Nase gesetzt hatte..
Dann aber stemmte der Herr Doktor die Ellbogen aufs Knie
und strich seinen langen Bart : ”Ja, hm, ja, eine sehr kompli-
zierte Sache für Kinder !” ”Gar nicht kompliziert, Herr Doktor,
nur das feine Maschinenöl hat das Christkindchen vergessen”,
sagte der kleine Hans, weil die jüngeren Geschwister dabeiwaren.
”Dem kann leicht abgeholfen werden”, meinte der Herr
Doktor, ”hol’ in der Apotheke nebenan für 10 Pf Knochenöl !”
Noch nie hatte der kleine Hans einen Auftrag so rasch
ausgeführt.
Der große Hans mußte wohl oder übel die Dampfeisenbahn
in Betrieb setzen, nachdem er die edleren Teile der Maschine
mit dem Knochenöl behandelt hatte. Brennspiritus war ja Gott sei
Dank im Haus. - Das Entzünden ‚des Brenners war ein großer
Augenblick, und der erste Pfiff aus der Dampfpfeife schrillte
imponierend durch das Wohnzimmer. Die Eisenbahn setzte sich
in Bewegung und lief wunderbar schnell - um die Kurven, über
die Kreuzung -, ohne zu entgleisen ! Unvergeßliche Eindrücke
der Kinderjahre ! Auch die Großen schienen ergriffen zu sein,
jedenfalls bedurften sie der Stärkung : ”Lisbeth, laß eine gute
Flasche für den Herrn Doktor heraufholen !”
Die beiden großen Männer setzten sich gemütlich an den
Tisch, und der kleine Hans hatte nun seine Eisenbahn ganz für
sich allein. Sie lief für ihn nur viel zu kurze Zeit ! Doch er konnte
sie ja jetzt selbst in Betrieb setzen. Den Brenner rasch heraus-
nehmen, ihn reichlich mit Spiritus füllen, wieder einsetzen und
anzünden, - das ging ganz schnell und heimlich ! ”Johannes, paß
auf, ich muß jetzt in die Küche”, hatte die Mutter gesagt. Aber
der Vater plauschte gerade mit dem Herrn Doktor beim Glase
Wein ...
64
Alles Böse und Heimliche rächt sich schon auf dieser Er-
denwelt, besonders bei kleinen Jungen : Auf einmal brannte das
ganze Fahrgestell der Lokomotive, - ach, die schönen, rotlackier-
ten Räder wurden ganz blasig und schwarz, Feuer und Spiritus
quollen aus dem überreichlich gefüllten Brenner auf den Tep-
pich, - das Sicherheitsventil stieß zischend Dampf aus, und die
brennende Maschine wollte gerade losbrausen ! In der größten
Verzweiflung ergriff der kleine Hans das brennende Ding mit
einer Serviette und blies nach Leibeskräften in die Flammen, -
schließlich schwang er die feuerspeiende Lokomotive hin und
her, um dadurch die Flammen zum Erlöschen zu bringen. Aber
dadurch wurde - o Schreck! - der brennende Spiritus auf
die Portieren zum Salon geschleudert !! Da sah der Vater erst die .
neue Katastrophe und schrie auf : ”Lisbeth, Lisbeth, komm
schnell, es brennt, es brennt !” -
Die Männer und Kinder standen hilflos da, als die Mutter
eingriff. Sie sagte wieder nichts, sondern erstickte einfach mit
ihrer Küchenschürze im Handumdrehen sämtliche Brandstellen.
”Der Bengel mußte ja auch unbedingt eine Dampfeisenbahn
haben”, sagte der große Hans vorwurfsvoll zu seiner Frau, ver-
ärgert über seine eigene Ratlosigkeit. Und sogar der majestäti-
sche Dr. Pütz wandte sich mit erhobenem Zeigefinger an die
Mutter : ”Sehen Sie, ich habe es ja gleich gesagt, ein sehr ge-
fährliches Spielzeug für Kinder !”
Die arme Mutter sollte es also wieder schuld sein ! Da konn-
te es der kleine Hans bei seiner neuen Eisenbahn nicht mehr
aushalten, er schlich ganz traurig zur Mutter in die Küche ...
Aber am Abend war alles wieder gut - bis auf die verkohlten
Räder der Dampflokomotive.
Die Räder wurden neulackiert und die Dampfeisenbahn
lief noch oftmals, ohne zu brennen oder zu entgleisen !
Die alten Familienbilder aber erinnern heute noch an diese
glücklichen Zeiten !
65
Die Sprachenfrage in Ostbelgien
Leo Wintgens & Alfred Bertha
Es ist eine erfreuliche Feststellung, daß die durch den Krieg
und das Nachkriegsgeschehen aufgestauten Emotionen mittlerwei-
le soweit abgeklungen sind, daß man sich ”sine ira et studio” dem
Studium auch solcher Probleme zuwenden kann, die noch in den
fünfziger Jahren tabu waren. Wohl sahen auch damals viele, daß
etwas ”faul” war, aber die Furcht, an den Pranger gestellt und
des Irredentismus geziehen zu werden, ließ es den meisten klüger
erscheinen, zu schweigen. So konnte sogar höheren Orts der
Eindruck entstehen, die Ostbelgier - denn um diese geht es -
stellten keine Forderungen, weil bei ihnen alles zum besten stün-
de. Sie, ”die Stillen im Lande” (J. Müller-Marein in der ”Zeit”),
galten nachgerade als Musterbürger. Dabei bleibt zu fragen, ob
der ein Musterbürger ist, der da fatalistisch allen Dingen ihren
Lauf läßt.
Vielen Bewohnern der ostbelgischen Kantone fiel es nach
dem Geschehenen schwer, ihren Standort zu bestimmen. Dies
gilt besonders für die ältere Generation. Der jüngeren jedoch, die
durch die Vergangenheit weniger stark geprägt ist, muß es klar
sein, daß wir als Belgier deutscher Sprache (”Deutsch-Belgier”)
im belgischen Staate die gleichen Rechte und Freiheiten genie-
ßen, wie die beiden anderen Sprachgemeinschaften. Darüber
hinaus haben wir als Minderheit einen Anspruch auf den beson-
deren Rechtsschutz unserer Sprache und Kultur.
Es ist das Verdienst Albert Verdoodts, in seinem Werk
”Zweisprachige Nachbarm - Die deutschen Hochsprach- und
Mundartgruppen in Ostbelgien, dem Elsaß, Ost-Lothringen und
Luxemburg”
N" 6 der Schriftenreihe der Forschungsstelle für Nationalitäten- und Spra-
chenfragen, Marburg/L., erschienen in der Wilh. Braumüller Universitäts-
Verlagsbuchhandlung G.m.b.H., Wien-Stuttgart, 1968, 190 S., (275 Fr)
uns den Spiegel unserer ostbelgischen Wirklichkeit vorgehalten
zu haben.
Der Autor hat es sich zum Ziel gesetzt, zu untersuchen, ob
und wie das in Art. 27 der Allgemeinen Menschenrechtserklä-
rung garantierte ”Recht auf freie Teilnahme am kulturellen Le-
ben der Gemeinschaft” in den in dieser Hinsicht besonders in-
teressanten Gebieten von Ost-Belgien, dem Elsaß, Ost-Lothringen
und Luxemburg verwirklicht wird.
66
Uns interessiert natürlich vor allem das Resultat seiner
Untersuchungen in Ost-Belgien ; auf dieses wollen wir uns also
in unserer Rezension beschränken.
52 Seiten hat Dr. Verdoodt der Lage der deutschen Sprach-
und Mundartgruppen in Belgien gewidmet : zu wenig, um wirk-
lich alles bis ins letzte Detail auszuleuchten, genug aber, um bei
der gewählten Arbeitsmethode zu folgerichtigen Schlüssen zu
kommen.
Seine Quellen legt der Verfasser in der Einleitung dar :
neben der Literatur (das Literaturverzeichnis füllt vier Seiten)
waren es persönliche Aufenthalte in unserer Gegend sowie zahl-
reiche Kontakte mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, .
die es ihm erlaubten, sich ein Bild über-die Situation in unseren
Gebieten zu machen.
In systematischer Reihenfolge untersucht er, für den alt- und
neubelgischen Teil jeweils getrennt, die geographischen und wirt-
schaftlichen Grundlagen, die historischen und politischen Fakten,
die juristischen und administrativen Gegebenheiten sowie die so-
zio-kulturellen Strukturen .
A. Alt-Belgien (L.W.)
(K. 1) Sowohl die ”Encyclopedie Larousse” (1963) wie die tief-
schürfenden Studien mehrerer Professoren der Universität Lüt-
tich, verstorbener wie H. Bischoff und G. Kurth, jetziger wie A.
Boileau und E. Legros, bestätigen die Existenz der deutsch-
sprachigen Gruppe im altbelgischen Raum.
In wirtschaftlicher Hinsicht ist unser Gebiet nach Verdoodts
Ansicht wesentlich nach Wallonien hin orientiert. Doch neuere
Ermittlungen, u. a. von Herrn Kulturinspektor F. Pauquet, Kel-
mis, beweisen eine stets steigende Anziehungskraft der Stadt
Aachen, insbesondere auf die Bevölkerung der meisten Gemein-
den des angrenzenden Göhlgebietes, so auch von Moresnet,
Gemmenich u. a. Dies ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt,
daß seit einigen Jahren sogar aus Lüttich manche Arbeitskräfte
per Bus oder Privatwagen nach Aachen fahren und hier dauernd
oder zeitweilig Beschäftigung finden.
Zudem ist Aachen heute Erholungs- und Einkaufsziel vieler
deutschsprachiger und selbst wallonischer Belgier.
67
Viele Bewohner unseres Gebietes finden dank genügender
Kenntnisse der deutschen Sprache eine Stelle in den zahlreichen
Zollagenturen entlang der deutschen Grenze in Neu-Moresnet
(Tülje), Hauset (Köpfchen), und Eynatten (Lichtenbusch), die
alle im offiziell deutschsprachigen Gebiet liegen.
(K.2) Im zweiten Kapitel ”Historische und politische Grund-
lagen” scheinen uns besonders folgende Fakten und Zahlen wis-
senswert.
Schon bei der Gründung Belgiens im Jahre 1830 wurde,
angesichts der rund 250.000 Deutschsprachigen der ehemaligen
Herzogtümer Limburg und Luxemburg (1/6 der damaligen Be-
völkerung), das Deutsche im gleichen Rang wie das Flämische
als Landessprache anerkannt; Französisch war damals einzige
Amtssprache in ganz Belgien.
1839 aber wurden - wie schon 1815 Eupen (Limburg) und
St. Vith (Luxemburg) - große Teile Luxemburgs (das heutige
Großherzogtum) und Limburgs (der Süden des heutigen Niederl.-
Limburg) abgetrennt. Das belgische deutschsprachige Gebiet
war somit nach und nach zerstückelt worden und zählte nur noch
rund 30 Gemeinden. Die regelmäßige deutsche Übersetzung des
”Moniteur” wurde immer seltener und ab 1844 ganz eingestellt.
Im Jahre 1898 beantragt eine Massenpetition von fast zehn-
tausend Unterschriften beim belgischen Parlament die Anerken-
nung der deutschen Sprache als Amtssprache im gleichen Rang
wie das Französische und seit 1878 das Flämische. Ein großer
Teil der Unterschriften stammt von der Bevölkerung des Mont-
zener Gebietes, die anderen aus dem Kanton Arel (Arlon). Diese
Bittschrift wurde vom Parlament verworfen ! Dennoch antwor-
teten die Gemeindeverwaltungen auf deutschsprachige Eingaben
in deutscher Sprache.
Überdies hatte der Bischof von Lüttich, Mgr. Doutreloux, der
sprachlichen Lage Rechnung getragen, indem er im Jahre 1888
für die Pfarreien der Gegend um Montzen ein eigenes Dekanat
schuf (bis zum zweiten Weltkrieg deutschsprachiges Dekanat).
Die neuere Entwicklung trägt, infolge der beiden leidigen
Kriege, den Stempel der Verwechslung von Politik und Sprache.
Dieses Kapitel hätte wohl etwas ausführlicher behandelt werden
können, besonders was den Sprachengebrauch in Kirche und
Schule anbetrifft. Doch wahrscheinlich war dieser im einzelnen
68
von einer Gegend, ja von einer Ortschaft zur anderen zu ver-
schieden (*). Im allgemeinen aber blieb bis nach dem 2. Welt-
krieg im Montzener Gebiet die deutsche Sprache in Schule und
Kirche neben und oft sogar vor dem Französischen im Gebrauch.
In der Verwaltung aber hatte schon der erste Weltkrieg, mit der
Zwangsauferlegung des Deutschen als Amtssprache, die entge-
gengesetzte Reaktion ausgeübt. Seit 1918 - kaum 20 Jahre ! nach
der Bittschrift zugunsten der deutschen Muttersprache - wurde
in der Verwaltung offiziell kein Deutsch mehr zugelassen. (Aber
erst seit einigen Jahren, seit etwa 1963-64, bekommen auch die
des Französischen Unkundigen nicht einmal mehr ihre Steuer-
erklärung in deutscher Sprache !) Im Umgang mit der Bevöl-
kerung bleibt jedoch immer noch das Plattdeutsche im Gebrauch. S
Verdoodt geht hier auch kurz auf die bekannten Kontro-
versen hinsichtlich unseres Dialekts ein. Wir verweisen diesbe-
züglich auf den Beitrag von Dr. Rene Jongen aus Moresnet in
dieser Zeitschrift (N° 5), der unsere Mundart aus der gleichen
Perspektive, im Zusammenhang mit der hochdeutschen Kul-
tursprache unseres Gebietes betrachtet.
Schlußfolgernd können wir feststellen, daß, vor den ver-
schiedenen politischen Übergriffen deutscherseits und den nach-
folgenden leidigen Verwechslungen von Politik und Sprache bel-
gischerseits, die deutsche Sprache, gestützt auf die örtlichen
Mundarten, sich in den deutschsprachigen Gebieten um Montzen
und Arlon großer Beliebtheit erfreute und einen festen Stand
hatte. Hätte man wie z. B. in der Schweiz nie Sprache und Kul-
tur mit Politik oder Nationalität verwechselt, so wäre dies wohl
auch heute noch allgemein der Fall.
So aber drängt sich ein kurzer Vergleich mit Elsaß-Lo-
thringen (III. Teil) auf, wo die Entwicklung ähnlich verlaufen
und auch die heutige Lage, 25 Jahre nach dem 2. Weltkrieg,
vergleichbar ist. Im deutschprachigen Gebiet Frankreichs zeich-
net sich jetzt eine Reaktion gegen die heutigen sprachlichen Miß-
stände ab, die der Bevölkerung einzig und allein zum Nachteil
gereichen und durch überlebte Vorurteile die Jugend daran hin-
dern, eine gründliche kulturelle Bildung zu erlangen und sich
den Weg in die mehrsprachige europäische Elite zu bahnen.
* Wir werden diesbezüglich in unseren nächsten Nummern Teile einer
soeben beendeten monographischen Studie über eine Ortschaft des Göhl-
gebietes‘ (Sippenaeken) veröffentlichen.
69
Mehrere Professoren der Universität Straßburg, der Nobelpreis-
träger A. Kastler und andere namhafte Persönlichkeiten, darun-
ter sogar ehemalige KZ-Häftlinge, verlangen die gebührenden
Rechte für ihre Muttersprache, die Kultursprache ihrer Mund-
art(*).
(K. 3) ”Juristische und administrative Gegebenheiten”.
In den Verwaltungen haben die Gemeindeväter der ”platt-
deutschen Gemeinden” vor einigen Jahren für ihre Ortschaften
ein einsprachig französisches Verwaltungsregime gewählt. Die
Gemeinderatsbeschlüsse, die kein Deutsch mehr zulassen sollen,
wurden paradoxerweise durchweg auf plattdeutsch diskutiert.
Ein anderes deutliches Zeichen dafür, wie unrealistisch der heu-
tige Zustand ist, sind die administrativen Schwierigkeiten, die
hier immer wieder auftauchen. So reichte vor kurzem die Ge-
meinde Gemmenich den Antrag ein, daß der neue Feldhüter
Französisch und Plattdeutsch beherrschen müsse, wie es übrigens
die Realität des Alltags verlangt. Die zuständigen Verwaltungs-
stellen lehnten den Antrag ab, da diese Gemeinde sich 1962
selbst diese Möglichkeit genommen hatte !
Das Gesetz vom 2. August 1963, Art. 56, aber läßt, ob
ihrer sprachlichen Sonderlage, den einzelnen Gemeinderäten der
Gemeinden Baelen, Gemmenich u.s.w. jederzeit die Möglichkeit
offen, eine der Wirklichkeit entsprechende Zweisprachigkeit ein-
zuführen. Art, 32 desselben Gesetzes, der über die Zulassungs-
prüfungen zu den öffentlichen Ämtern handelt, bestimmt, daß alle,
die ihre Studien im offiziell deutschsprachigen Gebiet absolvie-
ren, ihre Zulassungsprüfungen nach Wahl deutsch oder franzö-
sisch ablegen können. Dies trifft also auch für die Studenten aus
dem Montzener und Areler Raum zu, die z. B. in St. Vith, Eupen
oder Kelmis ihre Studien absolvieren. Denjenigen, die im Areler
oder Montzener Gebiet studieren, steht nur der eine der beiden
Wege, die französische Prüfung, offen !
Wegen der sprachlichen Vorurteile infolge des 2. Weltkrieges
wurde in diesen Gegenden auch das sehr zufriedenstellende
deutsch-französische Unterrichtsregime durch einen einsprachig
französischen Unterricht ersetzt. Auf das daraus resultierende
tiefstehende Durchschnittsniveau wurde schon des öfteren von
* MNäheres in dem Buch ”Notre avenir est bilingue - Zweisprachig un-
sere Zukunft” 1968 im Selbstverlag herausgegeben vom ”Rene - Schickele-
Kreis” 12, rue Joffre, Straßburg.
70
zuständigen Pädagogen und Wissenschaftlern hingewiesen. (Was
unser Gemmenicher Vorstandsmitglied Dr. Jules Aldenhoff an-
läßlich des ersten ostbelgischen Dichtertreffens dazu sagte, kön-
nen Sie in unserer Zeitschrift N" 4, S. 56 lesen.)
Der Wunsch, wieder Deutsch zu lernen, wird übrigens in den
letzten Jahren immer drängender und allgemeiner. So berichtet
die A.V.Z., Ostbelgische Ausgabe, vom 27. Juni 1969 über
eine Versammlung im Rathaus von Heinsch (Prov. Lux.), bei
welcher der Abgeordnete Charles Ferdinand Nothomb, Bürger-
meister Müller, Inspektor Colling und zahlreiche Lehrpersonen
beschlossen, sich intensiv mit der erneuten Einführung von
Deutschkursen zu befassen. Diese und andere Forderungen, u.a.
die Entsendung eines Delegierten in den zu schaffenden deutsch- .
sprachigen Kulturrat, wurden schon 1959 durch Senator P. No-
thomb und Provinzialrat Uselding gestellt. Bei einem kürzlichen
Interview der R.T.B. begrüßte der Philologe Julien Bestgen
(Arlon) lebhaft, daß in manchen Gemeinden, zum Vorteil der
Bevölkerung, in der Volksschule endlich wieder Deutsch unter-
richtet wird.
Im Montzener Raum aber, wo das Gesetz vom 30. Juli
1963, Art. 9, auf der zweiten Stufe (3. u. 4. Volksschuljahr) 3
und in der dritten und vierten Stufe (5. bis 8. Schuljahr) 5 Stun-
den Deutsch obligatorisch vorschreibt, bleibt dieses Gesetz zur
Förderung der französisch-deutschen Zweisprachigkeit, trotz der
Wünsche vieler Eltern, wegen der Gegnerschaft mancher Schul-
lehrer sehr oft unbeachtet. Verdoodt schlußfolgert, daß sich diese
Schulen in einem Zustand der Gesetzwidrigkeit befinden. Nach
Verdoodt gibt ungefähr die Hälfte der Gemeindeschulen vom 3.
Jahr an einen Deutschkurs ; unseres Erachtens sind es bedeutend
weniger. Die Staatsschulen (Bleyberg, Welkenraedt) hingegen
scheinen das Gesetz in etwa einzuhalten.
Bei Gerichtsverfahren in Aubel, Limburg und Verviers, und
auch für die Protokolle, kann jeder Bewohner unserer Gemeinden
die deutsche Sprache verwenden und verlangen.
(K. 4) ”Sozio-kulturelle Gegebenheiten.”
Im Areler Gebiet wird nach Verdoodt im religiösen wie im
kulturellen Leben neben dem Französischen meist auch die
Mundart verwendet, doch eine literarische Produktion bringt
diese, ohne die Stütze der deutschen Hochsprache, nicht mehr
71
hervor. Bei den jungen Leuten, die den Krieg und seine Folgen
nicht miterlebten, wird das Interesse am Deutschen immer reger.
So hält z.B. die Areler Studentenorganisation P. A. F. Veran-
staltungen in Mundart und Französisch ab.
Deutschsprachige Zeitungen (Südl. : Luxemburger Wort;
nördl. : Grenz-Echo, A.V.Z.) und Zeitschriften sind noch immer
stark gefragt. Die deutschsprachigen Sendungen des B.H.F. (ost-
belgischer Sender), des N.W.D.R. und besonders die deutschen
Fernsehprogramme werden eindeutig bevorzugt, vor allem im
Montzener Gebiet.
Das aktive Kulturleben unserer Gegend kommt in Ver-
doodts Buch etwas zu kurz, besonders was die neuere Entwicklung
betrifft. Die kulturelle Tätigkeit ist in unserer Gegend wohl nicht
geringer als im angrenzenden gleichartigen, offiziell deutsch-
sprachigen Gebiet. In manchen Ortschaften gibt es sogar mehrere
Musikvereine oder Chöre. Das Repertoire der letzteren umfaßt
auch manche deutschen Volkslieder und Gesangstücke, Noch
vor einigen Jahren gab es mehrere Theatergruppen (Gemme-
nich, Bleyberg, Membach), die fast ausschließlich auf deutsch
und in der Mundart spielten. Die Umgangssprache, vor allem
auch im Vereinsleben, ist und bleibt die Mundart. Verdoodts
Schätzungen (S.5), nach denen 20 bis 50% der Bevölkerung
sich nicht mehr der Mundart bedienen sollen, liegen viel zu
hoch.
Nicht nur im Karneval finden deutsche Schlager (u.a. auch
bei den hiesigen Tanzkapellen) sowie plattdeutsche und hoch-
deutsche Gedichte und Lieder von bodenständigen Heimat-
dichtern regen Anklang.
Trotz der Nähe der Universität Aachen geht von hier, so
Verdoodt, niemand nach Deutschland studieren. Eine Anglei-
chung der Studienprogramme und Diplome, gepaart mit einem
intensiveren Deutschunterricht würde unserer ostbelgischen Ju-
gend - wie so vielen ausländischen Studenten - auch diesen Weg
Ooffenhalten (*). Zahlreiche Studenten des altbelgischen Raumes
absolvieren übrigens ihre Studien in Mittelschulen des offiziell
deutschsprachigen Gebietes, wo das Deutsche und das Franzö-
sische sorgsam gepflegt werden.
* Diese Möglichkeit, die Provinzgouverneur Clerdent, Lüttich, kürzlich
in seiner Rede über die Ostkantone erwähnte, soll aufgrund der
gleichen sprachlichen Grundlagen und der Nähe der Stadt Aachen, nach
Transch auch von den Jugendlichen unserer Gegend genutzt werden
7
B. Neu-Belgien (A, B.)
Die Lage in den neu-belgischen Gebieten unterscheidet sich
insofern von derjenigen der alt-belgischen Ortschaften, als in
den erstgenannten die Hochsprache von der Mundart getragen
wird, beide also übereinstimmen, was in den Gemeinden des
Montzener und besonders des Areler Raumes bekanntlich nicht
mehr der Fall ist.
Nicht alle Erkenntnisse des Autors sind neu. Manches war
schon anderswo ausführlicher behandelt worden. So die wirt-
schaftliche Entwicklung, so die Geschichte und Politik von 1914-
1940 (1). Bei der Analyse der Nachkriegsjahre betont Verdoodt
besonders die zahllosen Repressalien, denen die Bevölkerung .
der Ostkantone ausgesetzt war. Er fährt dann fort : ”Es ist not-
wendig, die Schrecknisse dieser Epoche zu erfassen, um zu ver-
stehen, daß ihre Spuren noch keineswegs getilgt sind” (S. 31).
Den weitaus breitesten Raum nimmt die Analyse der in
Justiz und Verwaltung sowie im Kulturleben herrschenden Zu-
stände ... und Mißstände ein. Einige seiner Schlußbemerkungen
möchten wir Ihnen, verehrte Leser, weitergeben :
1. Innenminister Gilson dachte lange Zeit daran, einen
eigenen Bezirk für die deutschen Gemeinden und die Malmedy-
Gemeinden zu schaffen, die bisher dem Kommissar von Verviers
unterstehen. In dieser letztgenannten Stadt machten aber die
Kreise der Christlich-Sozialen-Partei, die die Hälfte ihrer Stim-
men aus den deutschen Kantonen bekommt, Einwendungen gel-
tend (S. 40).
2. Im dienstlichen Verkehr mit der Bevölkerung hand-
haben die deutschsprachigen Gemeinden die gesetzlich vorge-
schriebene Doppelsprachigkeit. Die praktische Anwendung va-
riiert je nach der Person des Gemeindesekretärs ... (S. 40). Was
(1) H. Piana : ”L’&volution &conomique du canton d’Eupen”, descrip-
tion et Evolution de&mographiques, Löwen, 1953,
G. Kriescher NR mE Economiques du canton d’Eupen”, Löwen,
A. Eicher : ”Heisse Eisen”, in Jahrbuch Eupen, Malmedy, Sankt
Vith, für Geschichte, Wirtschaft und Kultur, 1966,
S. 92-97.
K. Pabst : ”Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Par-
teipolitik 1914-1940. Aachen, Zeitschrift des Aachener
Geschichtsvereins, Bd. 76, S. 206-515, 1964.
73
die vom Autor monierte Einsprachigkeit - französisch ! - aller
Ortsbeschilderung angeht, so muß gesagt werden, daß in letzter
Zeit mancherorts zweisprachige (deutsch-franz.) Schilder ange-
bracht worden sind.
3. Die Lage im Unterricht variiert innerhalb der rund 100
Schulen und je nach den ca. 300 Lehrern ... ”Bezüglich der
Vorschrift, wonach das Französische die Muttersprache oder
Umgangssprache des Kindes zu sein hat, das in diese (= ein-
sprachig-französische Schule) aufgenommen wird, und daß das
Familienoberhaupt in einer dieser Gemeinden wohnen muß, ist
mindestens zu sagen, daß man sie nicht streng anwendet, aus-
genommen einen Teil der kommunalen Schulen. Wenn die Ge-
meinde sich gelegentlich streng erweist, wird das Kind in die
Staatsschule geschickt, wo man sich großzügiger zeigt ... Was
den Unterricht in der zweiten Sprache als solcher (insbesondere
in den Volksschulen) anbelangt, haben wir festgestellt, daß die
gesetzlichen Ausnahmebestimmungen im allgemeinen angewen-
det werden.....”” (S. 45).
”Aber für alle Schüler und Studenten stellt sich das Pro-
blem der sprachlichen Befähigung ihrer Lehrpersonen. Wir er-
innern daran, daß 1945 sämtliche Lehrer, die während der deut-
schen Annexion an Ort und Stelle geblieben waren, pensionslos
entlassen worden sind. Man mußte sie sofort ersetzen ... berief
man im allgemeinen (belgische) Luxemburger ... Daraus folgte,
daß mehrere Schülergenerationen an verschiedenen Orten ihren
Unterricht in Französisch mit Erklärungen in Luxemburger Dia-
lekt erhielten ... ”(S. 46).
Sodann wird auch das äußerst stachlige Problem der Leh-
rerausbildung aufgeworfen. Man kann nicht umhin, festzustellen,
daß die Lehramtskandidaten unserer Gegend im Vergleich zu
ihren flämischen und wallonischen Kollegen stark benachteiligt
sind. Um Lehrer heranzubilden, die ihre Muttersprache wirklich
beherrschen, genügt es eben nicht, an der Normalschule für die
deutschsprachigen Kandidaten einen sog. starken Unterricht in
Deutsch zu geben. Auch ein Versuchsschuljahr nach dem Abitur
zur ”Express-Heranbildung” deutschsprachiger Lehrer dürfte
nicht die Lösung sein.
74
Genauso akut wie das Problem der Volksschullehrerausbil-
dung ist das der Heranbildung geeigneter Lehrkräfte für den
Mittel-, den technischen und den Berufsschulunterricht. Nicht
unterschätzen sollte man auch den Fragenkomplex ”Lehrbuch”.
Deutsche Lehrbücher entsprechen meist nicht den belgischen Pro-
grammvorschriften.
Lehrer, die die Sprache, die sie unterrichten, nur mangel-
haft beherrschen ; Studenten, die vom Besuch einer deutschen
Pädagogischen Hochschule oder Universität wegen Nicht-Aner-
kennung der Diplome und fehlender Stipendien zurückgehalten
werden ; Mangel an passenden Lehrbüchern ; Nicht-Beachtung .
der Sprachgesetzgebung an vielen, besonders aber an den staat-
lichen Schulen : das sind nur einige der Aspekte des Problems
”Unterricht” in den deutschsprachigen Gemeinden Ost-Belgiens.
Fügt man noch hinzu, daß oft das Lehrfach als Mittel zum
Zweck, will sagen : zum Erlernen des Französischen, dient, so
kommt man zum Schluß, daß die Ausgangspositionen unserer
Schüler weitaus schwieriger sind als die der flämischen oder
wallonischen. ”Dadurch werden schon zu Beginn junge Leute
ausgeschieden, die in einem einsprachigen Schulregime, das ihrer
Mutter- oder Umgangssprache entsprochen hätte, zweifellos mit
Erfolg abgeschnitten hätten”, sagt Verdoodt (S. 45). Können wir
uns solche Vergeudung intellektuellen Kapitals leisten? (Vgl.
hierzu das Memorandum der Bischöflichen Schule St. Vith, 1968)
4. Was den Gebrauch der deutschen Sprache im Gerichts-
wesen angeht, so wurde die Lage schon 1958 folgendermaßen
umrissen : ”Die Mehrzahl der richterlichen Beamten und der
Gerichtsschreiber verstehen nicht Deutsch ... Die meisten Perso-
nen, die vor Gericht gestellt werden, wagen es nicht, das Ver-
fahren vor der deutschen Kammer zu verlangen, um nicht schon
vor Beginn des Prozesses benachteiligt zu sein” (Beschwerde der
C.S. P. der Ostkantone anläßlich der Studientagung in Büllingen
am 2.2. 58). Bis heute hat sich da wenig verändert. Eine Aus-
nahme bilden die Friedensgerichte von St. Vith, wo in der Regel,
und von Malmedy, wo auf Wunsch der Prozeß auf deutsch ge-
führt wird. Weniger gut steht es in Eupen, ganz abgesehen von
Aubel und Limburg. Voll und ganz scheint sich die vorhin er-
wähnte: Beschwerde der C.S. P. zu bestätigen, wenn man liest,
daß 1962 in Verviers in nur 35 von ungefähr 4000 aus dem
75
deutschsprachigen Raume. kommenden Fällen ein Verfahren in
deutscher Sprache verlangt wurde. Die Zahlenangaben liegen
etwas weit zurück. Ob sich die Verhältnisse inzwischen grund-
legend gebessert haben ?
5. Alle Belgier sind vor dem Gesetze gleich. Bei der Lek-
türe der von Verdoodt gezogenen Schlußfolgerungen ist man
jedoch versucht, in Anlehnung an Orwells ”Farm der Tiere” zu
sagen : ”Alle Belgier sind gleich, aber die einen sind gleicher
als die anderen.” Und daran, daß die Ostbelgier etwas ”unglei-
cher” sind als die andern Belgier, sind nicht nur die Gesetze,
die diskriminierenden Verordnungen, schuld, sondern auch in
nicht geringem Maße die Gleichgültigkeit der großen Masse der
Bevölkerung. Diese Gleichgültigkeit läßt sich als eine Folge der
Kriegs- und Nachkriegsereignisse erklären.
Verdoodts Untersuchung hat zweifelsohne viele Meriten.
Und doch ist dieses Buch in mancherlei Hinsicht ärgerlich. Die
Übersetzungsfehler sind Legion. In der Graphie der Ortsnamen
waltet die reine Willkür (Hergerat-Hergenrat, Sant Vith, Schoen-
berg, Welkenrat). Sogar über die Schreibung des Namens des
Verfassers ist man sich nicht im klaren : Verdoodt (Einband
und Einführung von Fishman) oder Verdoot (Einleitung S. 4)?
Die Grammatik wird -zigmal vergewaltigt. Wortschöpfungen sind
keine Seltenheit ; so z. B. die ”Sprachdeutschen”.Gibt es etwa
auch Sprachfranzosen oder Sprachitaliener ? Die Reihe ließe
sich beliebig fortsetzen.
Jedem der beiden hier besprochenen Teile ist eine Über-
sichtstabelle angegliedert, aus welcher der Leser ersehen kann,
auf welchen Gebieten die Mundart, das Deutsche oder das Fran-
zösische im Gebrauch vorherrscht. Auch dort findet man leider
Druckfehler. Erwähnen wir abschließend noch, daß Verdoodts
Arbeit in den Grundzügen schon 1965 in französischer Fassung
vorlag. Wir haben in vorliegender Rezension versucht, auch die
neuere Entwicklung kurz zu umreißen.
Leo Wintgens & Alfred Bertha
Inhaltsverzeichnis
Der Schriftleiter Vorwort 3
Zur Geschichte unserer Heimat :
O. E. Mayer, Raeren Datierte Eisenschmelzen des Mittelalters 4
Firmin Pauquet, Kelmis Die Besiedlung im Gebiet der ehe-
maligen Herrschaft Kelmis (III) 7
Frans Darcis, + Moresnet Entstehung und Entfaltung der Wall-
fahrt zu Moresnet (Eichschen)
1741 - 1904 15°
H. de Couve, Lüttich Alte Geschichtliche Chronik des Post-
amts Herbesthal und von Wel-
kenraedt zur Beihilfe 27
Erlebtes und Erschautes :
Josef Franck, Aachen Heimat 39
Hermann Heutz, Hauset Dorfgeschichten 42
Gerard Tatas, Gemmenich Burg Streversdorf bei Montzen 48
(Gedicht)
Der Vorstand Mitteilung 48
Sendetermine der Geschichtsver-
eine im Deutschsprachigen Bel-
gischen Rundfunk
Jules Aldenhoff, Gemmenich Schwalbenglück und Schwalbennot 49
Peter Emonts-pohl, Eindrücke aus der Russischen Steppe 56
Iserlohn (Raeren) (5 Gedichte)
Hans Schmitz, Köln Weihnachtsgeschichte : Der große
und der kleine Hans 60
Buchbeschreibung :
Alfred Bertha, Hergenrath u. Die Sprachenfrage in Ostbelgien 65
Leo Wintgens, Moresnet