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Landschaft im Grenzraum Nordostbelgiens
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ZEITSCHRIFT DER VEREINIGUNG FÜR
KULTUR, HEIMATKUNDE UND GESCHICHTE
IM GÖHLTAL
Nr 51 — August 1992
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Im Göhltal
ZEITSCHRIFT DER VEREINIGUNG
FÜR
KULTUR, HEIMATKUNDE UND GESCHICHTE
IM GÖHLTAL
Nr 51
August 1992
Veröffentlicht mit der Unterstützung des Kulturamtes der
deutschsprachigen Gemeinschaft
Vorsitzender: Herbert Lennertz, Stadionstraße 3, 4721 Neu-Moresnet.
Sekretariat: Maxstraße 9, 4721 Neu-Moresnet, Tel. 087/65.75.04.
Lektor: Alfred Bertha, Bahnhofstraße 33, 4728 Hergenrath.
Kassierer: Fritz Steinbeck, Hasardstraße 13, 4721 Neu-Moresnet.
Postscheckkonto N’ 000-0191053-60.
Die Beiträge verpflichten nur die Verfasser,
Alle Rechte vorbehalten
Entwurf des Titelblattes: Alfred Jansen, Moresnet-Kapelle.
Druck.: Hubert Aldenhoff, Gemmenich.
3
Inhaltsverzeichnis
A. Jansen, Zum Umschlagbild 5
Moresnet-Kapelle
Heinr. von Schwartzenberg
Aachen Der Dreiländerpunkt 9
Ren6€ Jongen, Sprachschöpferische Wirkungs- 29
Louvain-Jla-Neuve möglichkeiten in der Mundart
Jakob Langohr, Lihrer Pesch&s Jraaf 41
Aachen-Bildchen
Alfred Bertha, Vor 80 Jahren: 42
Hergenrath Herbesthal wird selbständige Pfarre
Astrid Schmitz, Kinderaugen sehen ihre Heimat 65
Kelmis '
Alexandra Ardeleanu-Jansen,
Aachen - Montzen Der sogenannte Jagdsaal von 74
Schloß Streversdorp/Chäteau Graaf
Hub. Jenniges, Kampf um einen Bischof: 93
Kraainem J. Th. Laurent,
Apostolischer Vikar des Nordens
M. Th. Weinert, Aachen In der Nacht 101
F. Nijns, Walhorn Tätigkeitsbericht 102
6
Die Bedachung des Westturms gehört ebenfalls zu einem
nicht seltenen Typusjener Zeit, ähnlich der von Schloß Hoensbroek,
während die Dachform des Bergfrieds durch die vier Ecktürmchen
mitbestimmt wurde.
Wichtige Elemente zur Datierung des Daches sind die
Wetterfahnen, sechs an der Zahl, die den Bergfried und den
Westturm bekrönen. Sie tragen das Wappen des Gerard Colyn
und dessen Ehefrau Alexandrine von Efferen, die die Herrschaft
Beusdael von 1606 bis 1643 besaßen. Ein Wappenstein Colyn-
von Efferen trägt die Jahreszahl 1626.
Somit dürfte feststehen, daß die Dachpartien.etwa 100 Jahre
jünger sind als Palas und Westturm. Wie P.-J. Rensonnet wohl zu
Recht vermutet, dürfte das ursprüngliche Dach durch einen Brand
zerstört worden sein. Bei der Neueindeckung wäre der Westturm
um eine Etage aufgestockt worden, was die ovale Form der
Fensteröffnungen erklären könnte.
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Diese vor 1882 gemachte Aufnahme zeigt den Schloßhof von Beusdael vor den
Umbauten.
(Reprod. A. Jansen)
7
Die Besitzerfolge auf Beusdael ist vom frühen 14. Jh. bis in
unsere Tage lückenlos belegt.
1323 ist Johann genannt Schevart von Oys Herr zu Beusdael.
Ende des 14. Jh. und während der ersten Hälfte des 15. ist
Beusdael im Besitz des Herman von Eys (+ 1462), dessen Vater
Johann 1370 Eva von Beusdael geehelicht hatte. Nach dem Tode
des Gerard von Eys (1578) ging Beusdael an die Eheleute Joh.
Colyn und Eva von Eys über. Die Familie Colyn blieb bis 1760 im
Besitz von Beusdael. Letzter Herr von Beusdael vor der
Franzosenzeit war Graf Pierre Charles Francois Antoine de MEan-
Beaurieux, ein Neffe des Lütticher Fürstbischofs Francois
Constantin de Hoensbroek.,
Im 19. Jh. folgten sich (durch Heirat) die Familien von Copis
und d'Oultremont. Graf Florent Ferdinand J.L. d'Oultremont ließ
1882 bedeutende Umbauten an Schloß Beusdael vornehmen:
erwähnt sei der Bau einer neuen Brücke über den Wassergraben
und eines wenig stilgerechten überdimensionalen Portals. Die
Wirtschaftsgebäude ließ Graf d’Oultremont niederlegen und
außerhalb der Wassergräben neben dem eigentlichen Bauernhof
Pferdeställe, Kutschenremisen und Wohnungen für das
Dienstpersonal erbauen. Beusdael erhielt damals durch den
Architekten Emile Janlet sein heutiges Aussehen.
Graf Florent d'Oultremont verstarb ledig und hinterließ
Beusdael dem ältesten Sohn seines Bruders Eugene, dem Grafen
Joseph-Antoine M.E.H. d'’Oultremont.
Der neue Besitzer entschloß sich 1921 zum Verkauf von
Beusdael, das damit zum ersten Male in seiner siebenhundert-
jährigen Geschichte verkauft wurde.
Der aufwendige Lebensstil des Käufers, Guillaume-Jean-
Abraham Huyser, führte 1934 zur Zwangsversteigerung seines
Beusdaeler Besitzes, den ein Vervierser Industrieller, Victor
Voos, erstand, dessen Erben Schloß und Ländereien von Beusdael
(mit Ausnahme der Waldungen) 1950 an L. Vanderheyden
verkauften. Das Schloß ging im folgenden Jahre an die Lütticher
Vereinigung "Les colonies scolaires catholiques Liegeoises" über,
die Beudael noch heute besitzt.
Für die "petite histoire" sei noch folgende Begebenheit
erwähnt: der genannte Abraham Huyser hatte bei einer seiner
zahlreichen Reisen seine junge Frau (sie war 25 Jahre alt) in Athen
8
verloren. Er ließ die Tote nach Sippenaeken überführen und die
einbalsamierte Leiche in einem Glassarg in Schloß Beusdael in
einer Krypta unter dem Gang zur Kapelle beisetzen. Die
Einbalsamierung scheint jedoch nicht fachgemäß vorgenommen
worden zu sein, denn die "Mumie" zerfiel nach und nach. Kurz vor
dem Zweiten Weltkrieg war der Glassarg mit den sterblichen
Überresten der jungen Frau eine der Attraktionen von Beusdael.
Heute erinnert noch eine Grabplatte an die damalige Gruft. Sie
trägt die Inschrift:
"HIER RUST MYNE INNIG GELIEFDE VROUW
MEVROUW ODETTE HUYSER GEB WEHRY,
GEB. NEUILLY s/SEINE 5-2-1897 ;
OVERL. ATHENE 30 APRIL 1922.
GOD ZY HARE ZIEL GENADIG."
Seit 1976 steht Schloß Beusdael unter Denkmalschutz. e
Literatur
de Fossa, Paul-Andr&: Chäteaux en terre vervi6toise. Beusdael, in Le Courier, 9.-10.-11.
April 1977
Poswick, Guy: Les DElices du Duch€ de Limbourg, Verviers, 1951, S. 259-264.
Rensonnet, Paul-J.: Beusdael, son Chäteau et ses Seigneurs, in Bulletin de la Soci&t€
Vervi&toise d'Arch&ologie et d’Histoire, Bd. 53, 1966, S. 1-112.
Ders. in Journal d'’Aubel, 11.6.1982.
9
1.
Der Dreiländerpunkt
Ein historisches Denkmal
von Heinrich von Schwartzenberg
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Am Dreiländerpunkt, dort wo die Grenzen von Belgien, Deutschland und den
Niederlanden zusammenstoßen, steht heute der "Blaue Stein",
Der achteckige Grenzstein trägt auf den entsprechenden Seiten die Buchstaben
"B" für Belgien, "D" für Deutschland und "NL" für die Niederlande. Außerdem
trägt er die Nr. 1032 der belgisch-deutschen und die Nr. 193 der deutsch-
niederländischen Grenzstein-Numerierung,
Die Grenzsäule Nr. 1 der belgisch-niederländischen Grenze steht, eigentlich nicht
exakt, einige Meter entfernt am "Höchsten Punkt" der Niederlande.
10
A. Entstehung und Entwicklung des Dreiländerpunktes
im Aachener Wald
Man kann sagen, daß das Gebiet westlich von Aachen noch
im Jahre 1000 ein wenig besiedeltes Wald- und Ödland war, das
als solches nach dem damaligen Recht dem König gehörte (1).
Nach dem Jahre 1000 fingen die Herrscher an, die
Nutzungsrechte über Teile ihres Eigentums an Klöster und Kirchen
zu verschenken.
So schenkte Heinrich II. am 6. Dezember 1016 dem Kloster
Burtscheid einen Hof in Uillam (Vijlen bei Vaals) (2). Nach und
nach erwarb die Abtei Burtscheid weitere Besitzungen hinzu, u.a.
den Mönchshof, den Panneshof und den Hof Bellet, alle gelegen .
in oder bei Vijlen (3). An der Kirche in Vijlen und am Hof Bellet
sind heute noch Wappensteine der Burtscheider Abtissin von
Renesse zu sehen.
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Wappen der Burtscheider Äbtissin von Renesse am Hof Bellet in Cottessen
11
Heinrich III. schenkte am 13. Februar 1041 Landgüter in
Vaals, Gemmenich, Mamelis und Vijlen dem Kloster St. Adalbert
zu Aachen (4).
Am 27. April 1072 weilte Heinrich IV. in Aachen und
schenkte bei dieser Gelegenheit dem Aachener Marienstift den
Königshof Walhorn, woraus später die Lehnsherrschaft des
Marienstiftes über Walhorn entstanden ist (5).
Aus den Schenkungen bildeten sich später kleine Ver-
waltungsbezirke (Banken), Herrlichkeiten oder Herrschaften, bei
denen die Beschenkten meist nur die Grundherrschaften erhielten,
d.h. sie konnten alle Verkäufe, Geschenke, Übergaben und Hypo-
theken beurkunden, also ausschließlich Grundbuchtätigkeiten
wahrnehmen (6).
Am Dreiländerpunkt kamen die Bank Montzen und die
Dreibank Vaals/Vijlen/Holset zusammen.
Die Erhebung von Orten zu kleinen Herrlichkeiten fällt vor-
wiegend in die Regierungszeit Philipps IV., der 1621 König von
Spanien wurde und mit dem Verkauf von Orten an zahlungsfähige
Adelsfamilien seine Finanzmisere beheben wollte (7).
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Auszug aus den Finanzbüchern der Herzoglichen Rechnungskammer zu Brüssel.
In dem Dokument wird bestätigt, daß Adolf v. Belven Holset und Vaals am 18,
August 1626 für 3700 fl gekauft hat. Ferner ist zu ersehen, daß Winand de Berlo
Vijlen für 3100 fl erhielt. (Kopie aus Familienarchiv Bern. v. Schwartzenberg) Im
übrigen ist dem Schreiber der Urkunde ein grober Fehler unterlaufen. Statt
Adolff Bertoldt de Belven muß es Adolf(f Bertolf(ß de Belven heißen.
(Freundliche Mitteilung von Herrn A. Bertha) .
2
Im Jahre 1626 kaufte Adolf v. Belven die Bank Holset/
Vaals, die er später an Jan v. Schwartzenberg weiterverkaufte (8).
(Siehe Auszug aus den Finanzbüchern der Herzoglichen
Rechnungskammer und Bild des Hauses "a gene Banket".)
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Das Haus "a gene Banket" war Sitz der Schöffenbank Holset; hier wurde im
17. Jahrhundert Recht gesprochen. (Foto aus "Speo Invidiam Vaals").
Der spanische König Philipp IV. verkaufte 1626 als Nachfolger der Limburger
und Brabanter Herzöge und damit als Landesherr von Herzogenrath dem Adolf
v. Belven die neuerrichtete Herrlichkeit Holset und Vaals. Unter Protest von
Adolfs Nachfolger, Jan (Johann Wilhelm) v. Schwartzenberg, kommt die
Herrlichkeit 1656 unter die Verwaltung des Drossarts von Herzogenrath.
Die hohe Gerichtsbarkeit lag im Westen von Aachen im
wesentlichen bei den Herzögen von Limburg bzw. deren Rechts-
nachfolgern, obwohl das Aachener Reich nach einer Urkunde des
Königs Sigismund von 1423, die eine andere von 1391 bestätigte,
zeitweise weit in das Limburger Land hineinreichte. (Es dürfte
sich wohl nur um die Vergabe von Nutzungsrechten gehandelt
haben.)
Die Dreibank Vaals/Vijlen/Holset gehörte bis zum Jahre
1662 zum Limburger Land Herzogenrath und unterstand dem
dortigen Obergericht des Limburger Hofes (9).
Daß die Herzöge von Limburg das Sagen hatten, läßt sich
wie folgt erklären:
13
Unser hiesiges Land gehörte durch den Vertrag von Verdun
(843) zum Mittelreich Lothringen und später durch den
Teilungsvertrag von Meersen (870) zum Ostreich Ludwigs des
Deutschen. Kaiser Otto I. teilte im Jahre 959 das Ostreich in Ober-
und Niederlothringen ein, wobei unser Land zu Niederlothringen
kam. Um 1100 erschienen die Herzöge von Niederlothringen
auch als Herzöge von Limburg, die damit die Herren über die 1066
zuerst erwähnte Grafschaft Limburg wurden (10).
Das Land Herzogenrath wurde erst 1137 dem Herzogtum
Limburg einverleibt. Nach dem Tode des Grafen Adalbert von
Saffenberg fiel Herzogenrath an seinen Sohn Adolf, der Margareta
von Schwarzenberg, eine Nichte des Erzbischofs von Köln,
Friedrichs I. (+ 1131), heiratete. Mathilde, die Erbtochter des
Grafen von Saffenberg, heiratete im Jahre 1137 den Herzog
Heinrich II. von Limburg, wodurch Herzogenrath und das
dazugehörige Gebiet zum Herzogtum Limburg kamen (11). Ab
1410 wurde Herzogenrath dauernd verpfändet, zuletzt an Jülich,
bis es 1544 wieder eingelöst wurde und an Limburg zurückkehrte
(ZAGV, 56, 1935; S. 29).
Die am Dreiländerpunkt angrenzende Bank Montzen blieb
noch bis zur Franzosenzeit (1794) beim Herzogtum Limburg,
während die Dreibank Vaals/Vijlen/Holset durch den
Partagevertrag im Jahre 1662 als Exklave zu den "Generalstaaten"
der Niederlande geschlagen und seitdem von Den Haag aus
regiert wurde.
Das Herzogtum Limburg war von 1288 bis zu seiner
Auflösung im Jahre 1794 nie selbständig. Es gehörte durch die
wechselvolle Geschichte nacheinander zu Brabant, Burgund,
Habsburg (Österreich) und Spanien (12).
Zugehörigkeiten des Herzogtums Limburg (13):
1288-1477: Nach der Schlacht von Worringen im Jahre 1288
kam das Herzogtum Limburg an den Sieger, d.h. an Brabant.
(1406 wurde es mit Brabant Burgund einverleibt, das
damals von Philipp dem Kühnen regiert wurde.)
1477-1555: Übergang an das Haus Habsburg (Österreich)
durch Heirat der Tochter Karls des Kühnen mit Maximilian von
Österreich.
1555-1714: Durch Teilung wurden die Niederlande Spanien
zugeschlagen.
14
(Nach dem 30-jährigen Krieg (1648) wird die Unabhängigkeit
der nördlichen Niederlande anerkannt. Durch den Friedensschluß
in Den Haag vom 29. Dezember 1661 (Partagevertrag) wurden
die Grafschaft Daelheim und die Herrschaften Valkenburg und
Herzogenrath zwischen Spanien und den "Generalstaaten" der
Niederlande geteilt. So kam auch die Dreibank Vaals/Vijlen/
Holset als Exklave zu den sogenannten Ländern Overmaas.
Seitdem gehörten die zu den "Generalstaaten" geschlagenen
Gebiete nicht mehr zum Herzogtum Limburg (14). Siehe Karte
von 1739.)
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Karte der Länder Overmaas "Valkenburg, Daelheim, Herzogenrath" von 1739
Die vorgenannten Länder wurden durch den Partagevertrag von 1661 zwischen
Spanien und den "Generalstaaten" der Niederlande geteilt. Die spanischen
Anteile kamen 1714 mit dem Herzogtum Limburg an Österreich.
(Die Herrlichkeitsnamen, die die Vorsilbe "Staats"tragen, sind die
niederländischen Anteile).
15
1714-1794: Durch den Frieden von Utrecht wurden die
südlichen Niederlande und damit auch das Herzogtum Limburg
wieder Österreich angegliedert.
Mit der Ersterwähnung des Aachener Reiches im Jahre 1336
und mit der Benennung einer Aachener Hoheitsgrenze um 1430,
die von Vaals über den Dreiländerpunkt in Richtung Entenpfuhl,
Steinknipp, Hirtzplei, Grüne Eiche verlief, kann man auch die
Entstehung des Dreiländerpunktes annehmen, kamen doch hier
die Grenzen des Aachener Reiches, der Bank Montzen und der
Dreibank Vaals/Vijlen/Holset zusammen.
Die vorgenannte Aachener Grenze von Vaals nach Grüne
Eiche ist wahrscheinlich 1545 mit Adlersteinen des Aachener
Reiches markiert worden (15). Von Vaals bis zum Dreiländerpunkt
sind noch zwei Adlersteine vorhanden.
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Aachener Adlerstein in Vaals, Aachener Adlerstein auf dem
Akenerstraat 2 £ Schorenkopf (ca. 1 km nördl. vom
Dreiländerpunkt)
17
Bei der Neuaufteilung im Jahre 1615 fiel das umstrittene
Gebiet als Pufferzone zwischen Aachen und Montzen an die
herzogliche Domäne. (Das trapezförmige Landstück wird heute
noch Königswald genannt.) Die Aachener Adlersteine wurden
zerstört und durch Wappensteine mit dem burgundischen
Andreaskreuz, dem Burgunderabzeichen (briquet) und mit dem
Goldenen Vlies ersetzt, die heute noch in größerer Zahl vorhanden
sind (17).
Ein Ausgangspunkt für die Grenzziehung war der
Dreiländerpunkt.
Durch den Partagevertrag vom 29. Dezember 1661 kam die
Dreibank Vaals/Vijlen/Holset im Jahre 1662 als Exklave zu den
niederländischen "Generalstaaten", bei denen sie bis zum Jahre
1794 blieb.
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Grenzsteine aus der Burgunderzeit mit goldenem Vlies (1.)
bzw. "Briquet" (r.)
20
Nicht mehr das Aachener Reich, sondern die "mairie de
Laurensberg" war Anrainergemeinde des Dreiländerpunktes. An
der alten Grenze zwischen den Departements Niedermaas und
Ourthe befindet sich heute noch ein dicker Quaderstein, der
vermutlich aus napoleonischer Zeit stammt (19) (s. Abb.).
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Quaderstein an der alten Departementsgrenze
Nach der Niederlage Napoleons wurde im Jahre 1815 beim
Wiener Kongreß unser Gebiet neu aufgeteilt. Die Grenzlinie ist
aus der nachstehenden Karte zu ersehen. Östlich dieser Grenze
wurden aus den früheren französischen "Mairien" preußische
Gemeinden und aus den Kantonen entstanden die Kreise.
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Die Grenzziehung 1815-1816
"Die Nord-Süd-Grenze bei Aachen zwischen Preußen und
den Niederlanden wird fast in ihrem ganzen Verlauf willkürlich
gezogen. Sie entsteht auf dem Wiener Kongreß als Kompromiß.
Die Niederlande hatten zwischen Roermond und Trier die
(historisch vernünftigere) Rur-Urft-Kyll-Linie gefordert, Preußen
dagegen (auf Drängen der Tugendbündler) die Maas-Linie. Man
legte die Grenze irgendwo dazwischen: bei Moresnet sogar in
doppelter Linienführung. Zu den neuen Vereinigten Niederlanden
gehört auch Luxemburg; allerdings nur in Personal-Union, denn
es ist Bestandteil des Deutschen Bundes, einschließlich des heute
belgischen Teils."(20)
Die doppelte Linienführung bei Moresnet kam dadurch
zustande, daß die Artikel der Wiener Abmachungen von Preußen
und den Niederlanden unterschiedlich ausgelegt wurden. Ein
Festpunkt, der nie umstritten war, war der Dreiländerpunkt.
Preußen las aus den Bestimmungen, daß die Süd-Nord-
Grenze des Kantons Eupen verlängert werden sollte, bis sie auf
den Dreiländerpunkt träfe.
22
Die Niederlande meinten dagegen, daß vom Dreiländerpunkt
aus in exakter Nord-Süd-Richtung eine Linie zu ziehen sei, bis sie
auf die Grenze des Kantons Eupen stoße. (s. Karte unten 1.)
Man konnte sich nicht einigen und erklärte den Streifen
zwischen den beiden Grenzlinien "vorläufig" zum neutralen Gebiet
(Neutral-Moresnet). Dieses Provisorium dauerte allerdings bis
zum Jahre 1920. Eigentlich wären die verschiedenen Auffassungen
für dieses kleine Gebiet gleichgültig gewesen, aber je nach der
Auslegung wäre ein Land in den Besitz eines Galmei-Bergwerks
gekommen. Galmei wurde zur Messingherstellung von beiden
dringend benötigt. .
Es ist nur merkwürdig, daß in den ganzen Verhandlungen .
das Bergwerk, um das es eigentlich ging, nicht erwähnt wurde
(21).
Durch diese Regelung blieb zumindest der Dreiländerpunkt
erhalten, der 1839 bei der Entstehung von Belgien sogar (bis
1920) zum Vierländerpunkt wurde.
Die Grenzsteine von Neutral-Moresnet sind noch in großer
Zahl vorhanden.
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Grenzziehung bei Neutral-Moresnet Grenzstein von Neutral-Moresnet
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verhindert hätte. Nur Maastricht unter General Dibbetz bleibt
neun Jahre als eingeschlossene Festung unter holländischer Flagge.
Nur ab und zu öffnet sich ein Tor der Stadt, um Proviantholer aufs
flache Land zu lassen. Auch Luxemburg fühlt belgisch, aber da es
zum Deutschen Bund gehört, bleibt es für sich. Die Stadt
Luxemburg selbst ist Bundesfestung und hat preußisches
Militär. "(20)
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"Das Dreiländereck rückt 1839 von Cleve nach Aachen.
Holland hat in den Teilungsplan eingewilligt: Halb Limburg
kommt zu Holland, halb Luxemburg zu Belgien. Da die abgegebene
luxemburgische Hälfte zum Deutschen Bund gehört, muß — so
will es der Bund — das Tauschobjekt Limburg jetzt in den
Deutschen Bund hinein. Nur die Festungen Maastricht und Venlo
nimmt man davon aus. Willem 1., jetzt nur noch halber Großherzog
von Luxemburg, wird für die verlorene Hälfte Herzog von Limburg
und sitzt zweimal im Deutschen Bund, halb großherzoglich, halb
herzoglich. Jedoch schon 1840 dankte er ab." (20)
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Nachdem das Dreiländereck wieder von Cleve zum Aachener Dreiländerpunkt
verlegt worden war, begann man 1843 die Grenze zwischen Belgien und den
Niederlanden mit spitzen Grenzsäulen zu versehen, die lebhaft an die Helmspitze
eines Gendarmen der Biedermeierzeit erinnern. Vom Dreiländerpunkt bis Knokke
markieren sie heute noch die belgisch-niederländische Grenze (23).
Die Grenzsäulen zeigen neben den beiden Staatswappen die Jahreszahl 1843
und die Nummer des Grenzpunktes, Die Abb. zeigt die Grenzsäule Nr. 2 (ca. 700 m
vom Dreiländerpunkt).
Nach dem Ersten Weltkrieg kamen im Jahre 1920 Neutral-
Moresnet und der Kreis Eupen zu Belgien, so daß nunmehr die
Aachener Stadtgrenze und die Laurensberger Gemeindegrenze
auch die Landesgrenze zwischen Deutschland und Belgien
bildeten.
Nur bei Bildchen bekamen Aachen und damit auch
Deutschland einen sonderbaren Grenzsack zugesprochen. In
diesem Gebiet, das z.T. zum obengenannten Königswald gehört,
sollte nämlich ein Grenzübergangsbahnhof für die Güterabfer-
tigung errichtet werden. Daraus wurde nichts, weil man später
feststellte, daß die Güterbahnhöfe Aachen-West und Montzen zur
Abwicklung genügten (24).
26
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*, 1944 zu Belgien C
Zeichenerklärung:
1 = Burtscheid 1897 zu Ac - 2 = Forst 1906 zu Ac
3 = Bildchen 1921 zu Ac + D (1947-1958 u. belg, Verw.)
4 = Sief 1921 zu Ac+D
4a = Todtleger (1948-1958 u. belg. Verw.)
5 = Laurensberg 1972 zu Ac
Sa = Lemiers 1816 1 Haus zu D - 6 = Richterich 1972 zu Ac
7 = Haaren 1972 zu Ac - 8 = Eilendorf 1972 zu Ac
9 = Kornelimünster/Walheim 1972 zu Ac
10 = Neutral-Moresnet 1816-1920 neutral, danach zu B
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand das besagte Gebiet
vorübergehend unter belgischer Verwaltung (1947-1958).
Im Jahre 1921 erhielten Aachen und damit auch Deutschland
in Raeren-Sief einen weiteren Streifen des Kreises Eupen, weil
sich dort ein Aachener Wasserwerk befand. Das Waldstück
Todtleger bei Lichtenbusch, in dem vorgenannten Gebiet gelegen,
stand von 1948-1958 ebenfalls unter belgischer Verwaltung. Im
Zweiten Weltkrieg gehörte der Kreis Eupen von 1940 bis 1944
wieder vorübergehend zu Deutschland.
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Quellennachweis
1) Gielen: Die Mutterpfarre u. Hochbank Walhorn. Walhorn 1987, S. 16
2) Wurzel: Die Reichsabtei Burtscheid. Aachen 1984, S. 94
3) Wurzel, a.a.0. S. 132
4) V.V.V. Vaals: Speo Invidiam Vaals, Vaals 1979. Deutsche Übersetzung. S. 4
5) Gielen, a.a.0. S. 16
‚von Coels: Die Lehensregister der Propsteilichen Mannkammer des
Aachener Marienstiftes. Bonn 1952, S. 1 f.
6) Wurzel, a.a.0. S. 98
7 Meven in Zeitschrift "Im Göhltal" 24/1978, S. 43
8) Limburg Verleden. Maastricht 1976, S. 203
9) Wurzel, a.a.0. S. 97
10) Gielen, a.a.0. S. 22
11) Aachener Volkszeitung: 19. Mai 1982 %
12) V.V.V. Vaals, a.2a.0. S. 4
13) Gielen: Raeren und die Raerener im Wandel der Zeiten. Eupen 1967. S. 12
14) Quix: Kreis Eupen. Aachen 1837, S. 2
15) Liese: Vom Aachener Stadtwald, Aachen 1930, S. 17
16) _Pauquet in Zeitschrift "Im Göhltal" 22/1978, S. 5 f. Liese, a.a.0. S. 16
17 Liese, a.a.0. S. 14 f.
18) _Hollatz in Zeitschrift "Im Göhltal" 24/1978, S. SO und 55
19) Queck: Wandern durch unsere schöne Heimat. Ausgabe 1. Aachen 1963, S. 100
20) Queck: "Raum Aachen 125 Jahre am Dreiländereck" in Aachener Volkszeitung.
1965 (Karten und Text)
21) Spandau: Zur Geschichte von Neutral-Moresnet. Aachen 1904, S. 21 f.
22) Queck: Wandern durch unsere schöne Heimat. Ausgabe 1. Aachen 1963, S. 119
23) Queck, a.a.0. S. 100
24) Queck: Wandervorschlag 54/1966 in Aachener Volkszeitung
Bilder- und Kartennachwels
Alle Fotos und die Karten 1,2,3 und 8 vom Verfasser.
Karten 4, 6 und 7 von Walter Queck.,
Karte 5 von Fritz Spandau.
x
Nachtrag
1. Zur Entstehung der Banken Montzen und Vaals/
Vijlen/Holset
Die Bank Montzen entstand erst 1447. Bis dahin reichte die
Bank Sinnich-Völkerich an den Dreiländerpunkt heran (25).
In den Jahren 1323 bzw. 1356 wurden bereits die
Schöffenbank Vijlen und Richter und Schöffen von Vaals erwähnt
(26).
1464 wird die Dingbank Holset genannt, die mit Sicherheit
schon vorher bestand (27). |
28
Die Banken Holset und Vaals wurden später vereinigt und
im Jahre 1626 an Adolf von Belven verkauft. Im Jahre 1656 kam
noch die Schöffenbank Vijlen hinzu, so daß daraus die Dreibank
Vaals/Vijlen/Holset entstand. (28).
2. Zur Abbildung S. 20
Die von W. Queck geäußerte Vermutung, daß der Quaderstein
aus napoleonischer Zeit stamme, trifft nicht zu. Es handelt sich
vielmehr um einen jener Zwischensteine, die nach 1843 zwischen
den gußeisernen Grenzpfählen (s. Abb. S. 25) gesetzt wurden
(29).
Die Grenzmarkierung zwischen Belgien und den Nie- ö
derlanden erfolgte nach 1843 zwar im wesentlichen auf der alten
Departementgrenze, jedoch wurden bei dieser Gelegenheit kleine
Grenzkorrekturen vorgenommen. Es fand ein Tausch von
Grundstücken zwischen den Gemeinden Gemmenich und Vaals
statt (30).
3. Zu den Jahren 1940-1944
Gemäß Führererlaß vom 23. Mai 1940 wurden im Zweiten
Weltkrieg von Deutschland neben den Kreisen Eupen und
Malmedy auch noch einige altbelgische Gemeinden annektiert,
die nie zum Reich gehört hatten, darunter auch die Gemeinden
Gemmenich, Kelmis und Moresnet. Durch diese Regelung, die
am 1. Juni 1940 in Kraft trat und die in Belgien und wohl auch in
Deutschland aus völkerrechtlichen Gründen als Provisorium
betrachtet wurde, entstand aus dem Dreiländerpunkt vorüber-
gehendein Zweiländerpunkt. Bei der Befreiung durch die Alliierten
am 12. September 1944 wurde der alte Zustand wieder hergestellt
1)
(25) "Im Göhltal" 49/50. 1991, S. 120
Pauquet, F. in Jahrbuch Eupen-Malmedy-St. Vith. 1966, S. 163 f.
(26) v.Agt: De Nederlandse Monumenten van Geschiedenis en Kunst.
” Zuid-Limburg: Vaals, Wittem en Slenaeken. s' Gravenhage 1983, S. 12
Quix: Reichsabtei Burtscheid. Aachen 1834. Urk, 141
(27) OQuix: Die Frankenburg. Aachen 1829, S. 59
(28) v. Agt, a.a.0., S. 12
(29) _H. Beckers in "Im Göhltal" 37/1985, S. 7
(30) v. Agt, a.a.0., S. 12/13
(31) Schärer. Deutsche Annexionspolitik im Westen. Frankfurt 1978, 5.77 f.
29
Sprachschöpferische
Wirkungsmöglichkeiten in der
Mundart.
von Ren€ Jongen *
"Die Affen sehen auf den Menschen herab,
wie auf eine Entartung ihrer Rasse, so wie die
Holländer das Deutsche für verdorbenes
Holländisch erklären." (H. Heine)
Wie genau Heine es im obigen Zitat bezüglich der Einstellung
der Holländer zur deutschen Sprache mit der Wirklichkeit nimmt,
soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Wir wollen uns zunächst
nur mit der bloßen Aufzeichnung des Gemeinten begnügen: im
Menschen schlummert ein Dämon des Eigendünkels und des
Hochmuts, der ihn dazu veranlaßt, sich selbst als das höchste aller
Wesen zu betrachten, alles Eigene und Eigentümliche - auch
anderen Angehörigen der menschlichen Spezies gegenüber - für
das Beste und das einzig Vollkommene zu halten. Daß eine solche
Einstellung in ganz besonderem Maße auch der eigenen Sprache
gelten dürfte, entspricht allen Erwartungen, da die Muttersprache,
weil reines Erzeugnis der Überlieferung, gern als höchster
Ausdruck der eigenen Volksart erlebt wird... Jedoch ist eine
solche Haltung nicht unbedingt in einem moralischen Sinne zu
deuten, sie kann auch einfach als der Ausdruck eines Dranges
nach lebensnotwendiger Selbstbestätigung verstanden werden...
Umso überraschender ist daher die Feststellung, daß sich der
oben erwähnte Dämon häufig in sein Gegenteil verwandelt zu
haben scheint sobald es nicht mehr um die Hochsprache, sondern
um die (muttersprachliche) Mundart geht. Es zeigt sich nämlich,
daß viele von der Mundart eine Vorstellung haben, die, statt von
Selbstvertrauen und Eigendünkel, vielmehr von Selbsterniedrigung
und Selbstvernichtung zeugt. Die eigene Mundart wird leicht als
(*) Prof. an der Universit& Catholique Louvain-la-Neuve und den Facult&s
Universitaires St. Louis in Brüssel
30
"verdorbene" Hochsprache aufgefaßt, als unvollkommene und
minderwertige Sprache, mit unvermeidlich begrenztem Wortschatz
und reduzierten, wenig differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten,
mit vereinfachter Aussprache und vergrobten Lautungen...
Eine solche Auffassung beruht auf einem leider tief
eingewurzelten und folgenschweren Vorurteil. Ich will jedoch
keineswegs in Abrede stellen, daß es bei bestimmten und besonders
bei den gegenwärtigen gesellschaftlichen Voraussetzungen
tatsächlich dazu kommen kann, daß die Mundart als ein echtes
Hindernis auf dem Wege zu gerechter menschlicher oder sozialer
Entfaltung und Promotion erlebt wird, daß manche es demnach
vorziehen, der Mundart den Rücken zu kehren... Obschon für ein
solches Verhalten, nach unvermittelt eng pragmatischen Kriterien
gemessen, einiges Verständnis aufgebracht werden kann, bleibt
dennoch die unverkennbare Tatsache, daß dabei auf den Trümmern
von Vorurteilen und Fehldeutungen aufgebaut wird. Zwar dürfte
es nicht schwer fallen, nachzuweisen, daß die Mundart den
Zugang zu bestimmten Wissens- und Lebensbereichen versperrt,
oder gar als soziale Barriere fungiert. Solche Geschicke haben
jedoch nichts mit dem Wesen der Mundart zu tun, - auch die
Hochsprache ist schließlich "nur" eine zur Einheitssprache
erhobene Mundart -, sondern sind durch äußere geschichtliche
Faktoren bedingt. Anderseits steht fest, daß solche historische
Tatbestände nicht oder kaum rückgängig gemacht werden können:
die Mundart ist nun einmal ein Kommunikationsmittel, welches
auf räumlich und sozial begrenzte Gruppen beschränkt bleibt...
Dennoch sehe ich keinen zwingenden Grund, um eine
Zweisprachigkeit Mundart/Hochsprache für nachteilig zu halten.
Jedoch auch hier scheint die unnachgewiesene Meinung vor-
zuherrschen, daß Nichtzweisprachler (d.h. Nichtmundartsprecher)
es zu einer besseren Kenntnis der Hochsprache bringen... Im
Göhltalgebiet (Nordosten der Provinz Lüttich = NOL) indessen
ist diese Problematik insofern spezifisch, als in den fran-
zösischsprachigen Gemeinden Hochsprache (Französisch) und
Mundart verschiedenen, nicht (mehr) eng verwandten Sprach-
gruppen angehören. Dadurch wird der rein sprachliche Abstand
zwischen beiden bedeutend größer. Zugleich aber wird die Gefahr
von Interferenzen und gegenseitigen Verwechslungen umso
geringer.
31
Die Schwierigkeit liegt im Grunde einzig und allein darin,
daß verschiedene Sprachen gleichzeitig bewältigt werden müssen,
und zwar ohne daß Merkmale der einen auf den Gebrauch der
anderen übertragen werden. Nicht die Zweisprachigkeit als solche
istm.E. fragwürdig, sondern der Tatbestand, daß die Hochsprache
vielfach unter sprachdidaktisch ungünstigen Verhältnissen erlernt
wird: im Hochsprachenunterricht auf der Schule werden die
sprachlichen (= mundartlichen) Voraussetzungen einfach ignoriert;
häufig wird das Kind, und zwar bereits im Vorschulalter, mit einer
mundartlich "kontaminierten" Hochsprache konfrontiert usw.
In allem Übrigen - d.h. im Wesentlichen - dürfte die Mundart
der Hochsprache in nichts unterlegen sein. Eine Sprache ist ein
Kommunikationsmittel, anhand dessen die Mitglieder einer
Gemeinschaft bedeutungsvolle Aussagen über Sachverhalte im
Bereich der menschlichen Erfahrungen machen können. In diesem
einzig grundlegenden Sinne ist auch die Mundart eine (vollwertige)
Sprache, in der alle nötigen Ausdrucksmittel zur Verwortung und
Bezeichnung der zu benennenden Wirklichkeit vorhanden sind,
etwa Sprachzeichen wie Wörter (z.B. wiederholen, gestern),
Wortbestandteile (z.B. -ung, -ig), syntaktische Verkettungen von
Wörtern zu Wortgruppen und Sätzen (z.B. die gestrige Ver-
anstaltung wird morgen wiederholt werden). Wie jede Sprache
erfüllt auch die Mundart in perfekter Weise alle Anforderungen,
die an sie von den Sprechern gestellt werden. Eine Sprache (oder
Mundart) würde keine (lebende) Sprache mehr sein, wenn anhand
der in ihr vorhandenen Ausdrucksmittel die zu besprechende
Wirklichkeit nicht mehr benannt werden könnte. Es ist deshalb
unsinnig, behaupten zu wollen, daß die Mundart weniger als die
Hochsprache leisten könne, etwa weil sie ärmer an Aus-
drucksmitteln zur Bezeichnung von bestimmten Inhalten wäre.
Wohl kann festgestellt werden, daß die Mundart auf gewisse,
etwa für den alltäglichen Verkehr wichtige Bereiche beschränkt
bleibt, daß etwa wissenschaftliche oder sonst gedanklich eng
durchstrukturierte Bereiche kaum in ihr besprochen werden
(können). Dies liegt aber keineswegs an der Mundart selber,
sondern an dem rein äußeren Tatbestand, daß sich die Mund-
artgebraucher - aus historisch-praktischen und sozio-kulturellen
Gründen - nicht zu solchen Benennungsaufgaben veranlaßt sa-
hen.
32
Das Wesen der Sprache zeigt sich nicht nur in deren Fähigkeit,
als Kommunikationsmittel zu dienen, sondern und vor allem auch
in der Eigenschaft, daß sie einen unerschöpflichen Vorrat an
Verwortungs- und Benennungsmöglichkeiten der äußeren
Wirklichkeit darstellt. Jedesmal, wenn die Gemeinschaft oder der
einzelne Sprecher vor die dringende Aufgabe gestellt wird, einen
neuen bzw. spezifischen Erfahrungsinhalt begrifflich zu verworten
und zu benennen, findet er in seiner Sprache die nötigen Rohstoffe
und Anweisungen zur schöpferischen Gestaltung einer
angemessenen Bezeichnung. Es ließen sich zahlreiche Typen von
möglichen, sprachlich belegten Bezeichnungsmodalitäten
unterscheiden. Im Folgenden sollen lediglich einige Haupttypen .
am Beispiel der Mundart besprochen werden:
1) Handelt es sich um eine neue, aus fremder Kultur einge-
führte Sache, dann kann auch die fremde Bezeichnung mit über-
nommen werden, z.B. schwing-gom oder 'kau-jumi (= chewing
gum/ Kaugummi; dagegen sonst köjje = kauen). Ist etwa in einem
bestimmten Bereich eine eindeutig fremdsprachliche Terminolo-
gie belegt, so ist dies ein Zeichen, daß auch die betreffenden
Begriffe (und eventuell Sachen) über diesen Weg eingeführt
worden sind; im östlichen NOL ist dies etwa der Fall im Bereich
der Eisenbahnterminologie, wo von Baan: hof, Jelajjze, Schie:ne
(jedoch auch rajj), Wartezaal (dagegen sonst waa:de = warten),
Tsoch (= Zug) usw. die Rede ist.
Der Tatbestand, daß das NOL-Gebiet seit längerer Zeit, als
Kreuzpunkt von mehreren Kulturen, eine Übergangszone bildet,
findet seinen sprachlichen Ausdruck darin, daß der mundartliche
Wortschatz einen ziemlich heterogenen Charakter aufweist.
Zusätzlich zum ursprünglich westlich-niederdeutschen
Wortmaterial ist dem Lexikon - und zwar wiederholt zu
verschiedenen Zeiten - eine Fülle von Wörtern fremden Ursprungs
einverleibt worden: östlich-rheinisch-deutsche Wörter einerseits,
französisch-wallonisches Wortmaterial anderseits. Die meisten
der älteren Entlehnungen sind den einheimischen Wortge-
staltungsgesetzen angepaßt worden, nur den neueren und neuesten
Bildungen ist noch ihre Herkunft anzusehen. Auch ist darauf
hinzuweisen, daß es im Gebrauch der neuesten Entlehnungen
deutliche Unterschiede nach Ortschaft oder Generation geben
kann. Mundartsprecher etwa, die während der Kriegsjahre die
33
deutsche Schule besucht haben, verwenden für den Schulbereich,
im Gegensatz zu den jüngeren Generationen, vielfach Entleh-
nungen aus dem Deutschen, z.B. Tafel, Aufjaa:p, Bl&jstaf,
Rade&:rjumi, Strich, Schwaam, Buchstaab, u.a.
Einige weitere Beispiele:
a) Wörter östlichen Ursprungs (es ist jedoch auch
damit zu rechnen, daß französische Wörter häufig über den
Umweg des Deutschen eingeführt worden sind, z.B.
komeles&&:re = kommunizieren) : Würfel (dagegen sonst
worep = Wurf), stolz, schlau, einfach, Blitzableiter (dagegen
sonst aa: flEjje = ableiten), Vulentser (auch vullecht oder vulle
b&&:r=Faulenzer), wichtech (auch in der Bedeutung "Prahler"),
bequem, Firlefanze, Lenk(stange), lenken, (T)sie:dong
(Zeitung), Feuerzeug (auch: 'Brik? = briquet)...
b) Wörter westlichen Ursprungs: 'Plafong (mit
Charakteristischer Verschiebung des Wortakzents auf die erste
Silbe, vgl. das gleiche sogar in Vor- und Familiennamen wie
"mars@l, 'haari (Henri), 'toseng (Toussaint), 'd&lvoo
(Delvaux)...), 'kamjong (camion), 'Baseng (bassin (de nata-
tion)), Schampel'jong (champion), Scham'pet ((garde)
Champötre), wall.bj&sse, föd: (faux = "feige"), VErschet
(fourchette), Bezjuu:re maake ("bonjours" machen), B&&:ske
(baiser), Pü'n&:z (punaise)...
2) Aufschlußreich und kennzeichnend für das NOL-Gebiet
istin diesem Zusammenhang die Feststellung, daß das mundartliche
Sprachmaterial eine auffallend reiche und bunte Struktur aufweist.
Die NOL-Mundarten, d.h. in letzter Instanz die Mundartsprecher,
erweisen sich als besonders aufnahmebereit. Der Wortschatz
dürfte annähernd ebenso viel dem westlichen Sprachprinzip
entsprechendes Material enthalten wie Wörter, die an östliches
Sprachgut erinnern, z.B.
a) Östliches Sprachgut: (t)s&€:je (deutsch zeigen / aber
niederl. tonen), bej&&:ne (begegnen / ontmoeten; auch trefe),
belle (bellen /blaffen; auch bletsche), Fieber (Fieber / koorts),
Kr66€:ch (Krieg /oorlog), vuul (faul /lui, rot), Lök (Loch / gat),
Tajsch (Tasche / zak), St&vvel (Stiefel /1aars), spi& (spät /laat),
bes (bis oder (du) bist / tot oder je bent), bellech (billig /
goedkoop), Tsiel (Ziel / doel), Stonnd (Stunde / uur),
"66.veldech (einfältig = albern), Aan(t)soch (Anzug), Spaß
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haben ‚ nie, höö:flech, schlie:slech, wenn (wenn), vaa:re (mit
dem Wagen oder Fahrrad fahren / rijden), röjjech (ruhig /rustig)
USW...
b) westliches Sprachgut: Moow (niederl. mouw / aber
deutsch Ärmel), tr£ke (trekken /ziehen), döjje (duwen/stossen,
rücken), 'Botram (boterham), vie:z (vies / schmutzig), kike
(kijken), vervange (/ ersetzen), ku@&dd (kwaad / böse; auch
vö@ltsch), Ejj&päl (aardappel / Kartoffel), Höchde (hoogte /
Höhe), buute(s) (buiten / draußen), Unterschied her- / hinauf
ist unbekannt, dek(s) oder dgk(s) (dikwijls / oft, häufig), ndd:
+ Infintitiv des Verbs (na + Inf. / nach) usw...
Vor allem aber fällt das häufige Nebeneinander von
koexistierenden gleichbedeutenden Bezeichnungen auf. Benen-
nungsmittel stehen den Sprechern somit häufig im Überfluß zur
Verfügung, was sie dann bisweilen dazu veranlaßt, die vorhandene
Synonymie zu feineren Bedeutungsunterschieden auszunutzen.
Beispiele: op-hüü:re (aufhören) = ut-sch6jje (uitscheiden)
= ndd:-öd:te (nach-lassen); waa:de (warten) = bEjje (ndl. ver-
beiden); Enk (inkt) = Tinte; schl&&m (schlimm) = &rech (ndl. erg);
stoot (ndl. stout, jedoch nur in der Bedeutung "unartig") = vröch
= fröch (frech); t(e)r@k (direkt) = sofort; straks = löts = gliks
(gleich, in wenigen Augenblicken); stell (still) = lie:z (leise) =
höjjsch ("hövesch"); lang h&&r = lang jel&: (lang(e) her /
geleden); vutt (fort) = &w&ch (weg); altit (altijd) =ömmer (immer);
aate(r) = hengge(r) (achter(aan) / hinten, hinter); B@k (bek) =
Schnaa:vel (Schnabel); Ek (Ecke) = Hukk (hoek); fatsüngglech
(fatsoenlijk) = anständig; jem@klech (gemakkelijk) = li&t (leicht);
Kasske (frz. casque) = Helem (Helm); Klöör (kleur) = Verref
(verf, Farbe); jek= veröckt (verrückt) = dööl ("toll"); plat = flach;
wajl (weil) = ömdat = vgrdat (omdat); während = tit (z.B. tit der
. Kre&:ch = tijdens de oorlog); der zellefde (dezelfde) = der
nemmleje (der nämliche) = der €&:jeste ("der eigenste"); beldd;ve
(ndl. beloven) = verspre&ke (dt. versprechen); 'utwenndech
(auswendig) = va buutes (van buiten); dakd&t (akkoord) =
"Everstannde (einverstanden); dat batt n&ks (dat baat niets) = dat
nötst n€ks (nützt) = dat hatt jengge (T)Sw@Kk oder j&ngge Z&€n
(das hat keinen Zwek / geen zin); dat €&s m&ch ejaa:l (das ist mir
egal) = ... pa'rajj (frz. pareil) = ... al&'16€ ("all-allein") usw...
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Zusätzlich sind selbstverständlich zahlreiche typische NOL-
Wörter und Ausdrücke belegt, etwa Jölep (Hosenträger), D&&:m
(Zitze am Kuheuter, Ar'tiss ("Artist" = Vieharzt), Jrülle (Geschirr
zum Spülen), Pizzele (Plural = Prügel), 'Tuspang ("Zuspange" =
Sicherheitsnadel), Schaav (Schrank), flot (schnell), &jen Denk
("im Ding" = im Hause), €ngge vgr der Nöll höwwe ("einen für
den (Ar])nold halten" = einen foppen), aa:jenddö:me w&&:de
("angenommen werden" = gefirmt werden), j&t-wet-wi-veg:l
("etwas-weiß-wie-viel" = sehr viel), d& €&s onnder-ene Awto
bl&&:ve (der ist unter einem Auto "blieben" = geblieben = über-
fahren worden; auch etwa övvervaa:;re wö&de), wu&(n&)baa: ("wo
auf an" = wohin, auch wu@h6&6€:(n)) usw...
Änliches gilt für die anderen Sprachebenen (Lautebene,
Morphologie, Satzlehre). Bekannt ist etwa, daß bei den Vokalen
(Selbstlauten) nicht nur ein Längenunterschied gemacht wird
(z.B. e Bat = ein Bad / ene Baat = ein Bart), sondern auch ein
prosodischer Unterschied zwischen sog. Schärfung und
Trägheitsakzent (z.B. e Hoot = ein Holz / ene Hoo:t = ein Hut;
oder e Hat = ein Herz / e hatt = er hat). Dadurch wird die bereits
hohe Anzahl von zehn Grundvokalen (im Deutschen etwa gibt es
deren nur sieben) vervierfacht (z.B. vier verschiedene Werte für
den alleinigen a-Laut, z.B. zat (= satt) / (der) zatt (dat) (= (ihr) sagt
(das)) / zaat (= sagte) oder Maat (= Markt) / Maa:t (= "Magd" =
Dienstmädchen)).
In der Morphologie liegen häufig mehrere Varianten vor. So
gibt es etwa drei Bildungsmöglichkeiten für das sog. schwache
Präteritum: z.B. maake (machen) = e makde = e makdene = €
maaket (er machte). Für ein starkes Präteritum wie "er tat" gibt es
eine ganze Reihe von möglichen Entsprechungen: e dongg = e
dengg = e doo:ch = e d&&:;ch = e diöch = e dien ...
Auch gibt es typische Wortbildungsmöglichkeiten, z.B. das
Suffix -es zur Bildung entweder von Kollektivbezeichnungen
(z.B. et piepes = das, was zum Rauchen benötigt wird, Rauchwaren;
et nienes = Nähzeug; et schrie:ves; et &ötes...) oder von
Personenbezeichnungen (aus der lateinischen, häufig in Vornamen
auftretenden Nachsilbe -us, vgl. Petrus, Cornelius; in der Mundart
bezeichnen die entsprechenden Namen häufig den sonderbaren,
kauzartigen, schelmischen oder einfältigen Menschen, z.B. e Votes
(zu vot = der Hintere), e Tupes, ene Nölles ("(Cor)nelius"), ene
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Tönnes, ene Tünnes ("(An)tonius"), ene Drikes ("Hen)dricus"),
ene Duu:res ("(Theo)dorus")...
Das Futurum (Zukunft) kann sowohl mit dem Hilfsverb
we&:de (deutsch "werden") wie mit zölle (ndl. zullen) zum
Ausdruck gebracht werden: et wett re&:ne = et zal re&&:ne (es wird
regnen). Auch "gehen" istunter Umständen möglich: et j&e&t re&&:;ne
(het gaat regenen, il va pleuvoir). Ein anderes Beispiel: die
Mundart kennt zwei verschiedene bestimmte Artikel:l) der/de/
(het (= der, die, das) und 2) (DEn&/G)En/GE, jedoch nur nach
Präposition und vor Sachnamen, z.B. der döjsch = der Tisch, aber
op-jen& döjsch = op-&n& döjsch = ob-&n& döjsch = op-(jDEn
döjsch = auf dem/den Tisch...
3) Erfahrungsgegenstände können jedoch auch anhand von
bereits vorhandenen Wörtern, jedoch in übertragener Bedeutung,
benannt werden. Es ergibt sich somit die Möglichkeit, daß ein
bestimmtes Wort, das gewöhnlich einen Inhalt X bezeichnet, auch
zur Bezeichnung eines mit diesem eng verwandten Inhalts Z
verwendet werden kann, z.B. der Höös (Hals) als Körperteil, jedoch
auch etwa zur Bezeichnung eines Flaschenteils (der Höds van-en
Flaajsch) oder gar zur Bezeichnung des Ganzen, zu dem "Hals"
normalerweise nur einen Teil darstellt (z.B. ene grreme Hdds =
ein armer Kerl). Diese Möglichkeit beruht auf dem Tatbestand,
. daß alle Menschen über die gleichen grundlegenden Bedeu-
tungsgesetze zu verfügen scheinen, Gesetze, nach denen etwa ein
Gegenstand Z nach einem anderen Gegenstand X benannt werden
kann, wenn betimmte Bedingungen erfüllt sind: z.B. wenn beide
Gegenstände bestimmte Ähnlichkeiten aufweisen (vgl. der
längliche Flaschenteil zwischen Rumpf und oberem Ende gleicht
einem menschlichen Halse) oder wenn beide Gegenstände in
einem direkten Verhältnis zueinander stehen (so kann der Teil für
das Ganze stehen oder umgekehrt, vgl. "die ganze Stadt hat sich
vor dem Rathaus versammelt"; oder die Ursache steht für die
Folge, oder umgekehrt usw...).
Es handelt sich hier um einen der geläufigsten Benennungs-
prozesse. Anderseits muß jedoch damit gerechnet werden, daß die
ursprüngliche Motiviertheit, welche zur Zeit der Namengebung
vorherrschte, im Laufe der Zeit leicht abgeschwächt werden oder
gar völlig verloren gehen kann.
37
Wer etwa denkt heute noch daran, daß ein "Draht" ( = drdd:t)
ursprünglich etwas "Gedrehtes" bezeichnete (nach dem gedrehten
Faden aus Wolle oder Flachs; dri&ne ( = drehen) = drah- + Umlaut,
vgl. spdd: (ohne Umlaut) = spi& (mit Umlaut) (spät), Nöd:t /niene
(Naht/nähen), Kröd:n (Krähe)/kri&ne (krähen), Brömel (Brom-
beere, ndl. braambes)/Briöme (Plural = ndl. braam, Dornstrauch).
Oder daß "Kopf" (= Kop), welches ein früheres "Haupt" (= hövet,
nur noch relikthaft und entmotiviert erhalten, z.B. Höjjerki@z =
"Hauptkäse", Höttschel = "Häuptsel", Höö:pel = "Hauptpfühl", ze
huwwech 6€-jöän Höö:t ha = "sie hoch im Haupte haben" = groß-
tun) verdrängt hat, ursprünglich eine bildhaft-metaphorische
Bezeichnung war: Kop bezeichnete zunächst einen rundförmigen
Becher (vgl. noch heute ndl. een kopje koffie, engl. a cup), wurde
aber, auf Grund einer Formähnlichkeit mit dem menschlichen
Haupt, in anschaulichem Sprachgebrauch auch auf dieses ange-
wandt; der Gefäßname ist auf den Körperteil übertragen worden.
Ähnliches ist im Romanischen geschehen, wo "testa" (= frz. tete;
ursprüngliche Bedeutung: Becher) das frühere "caput" ersetzt hat.
Überhaupt ist das menschliche Haupt ein Erfahrungsgegenstand,
der gern in bildhaft-ausdrucksreicher Versprachlichung benannt
wird: vgl. mundartliche Bezeichnungen wie Tünnes, Klötsch oder
Bölles (zu "bol" = knollenartiger, rundlicher Gegenstand).
Eine solche Vielfalt von Bezeichnungen ließe sich auch für
die meisten anderen Körperteile sowie für eine Menge von sonstigen
lebenswichtigen Erfahrungsinhalten zusammenstellen, etwa für
die "Hand" (bzw. die Finger): deutsch Hand (die Sprachwis-
senschaftler denken, daß die ursprüngliche Bedeutung "die
Fassende, die Greifende" gewesen sein kann), Patsche, Pfote,
Klaue, Flosse, Tatze (häufig aus dem Tierreich); Mundart: bliev met
dingg kndeke = Knuvvele = Fike döva = bleibe mit deinen
Knochen/"Knuffeln" davon; oder für den Begrif "stehlen": st&:le
= klauwwe = mgpse = stritse: "weinen" : jringge = kriesche =
bgö&ke = brölle; "schnell laufen": v&e&:je = vitse = plete = kazöke
= €n engge Kaje&r verb6&&€jloope ; "Angst": Anngs = Flup =
Pgfel; "prahlen, großtun": ze huwwäch €-jen Höö:t ha = z&ch j&t
/ wonndesch wat mingge ("sich etwas/Wunders was meinen") =
vgg:ldär-h66: maake (viel dahin machen") = vgg:1 Be£haaj maake
("viel Buhai machen") = der Jaan mank&6:re ("den Johann
mankieren") = stüüte ...
38
4) Der Erfahrungsinhalt kann ferner auch aufgrund von be-
stimmten ihn kennzeichnenden Eigenschaften und nach allge-
meinen Wortbildungsregeln bezeichnet werden. Zu dieser Gruppe
gehören die sog. Zusammensetzungen von zwei sonst unab-
hängigen Wörtern (z.B. Schlddp-kaa:mer = Schlafzimmer; Ausgabe-
opn&:mer = "Ausgabe-aufnehmer", Tonbandgerät), sowie die sog.
Ableitungen (Grundwort + Affix, z.B. köpech = "Köpfig" =
starrköpfig).
Wichtig ist hier die Feststellung, daß wir einen Gegenstand
(oder einen Vorgang, eine Handlung...) dadurch benennen können,
daß wir uns mit der Bezeichnung einer bestimmten, diesen
Gegenstand kennzeichnenden Eigenschaft begnügen. Der
Gegenstand "Schlüssel" ist so benannt worden (= ene Schlgötel),
weil mit ihm "geschlossen" (= schliöte) werden kann, d.h. ein
Gegenstand X ist nach der Handlung Z benannt, zu deren
Ausführung er hergestellt worden ist. Ein "Riß" oder "Spalt" heißt
in der Mundart R&Ets/Retsch oder Baschh ("Barst"), weil er das
Resultat eines Vorgangesist, daß als riete ("reißen") oder baschhte
("bersten") bekannt ist. An der Nase ist leicht zu erkennen, ob
einem etwas schmeckt oder gefällt; somit kann einem etwas nicht
nöd zingg Naa:z ("nach seiner Nase") sein, oder er kann etwas zu
naa:ze haben (Verb, vgl. ndl. neuzen). Anderseits kann die Nase
zum Stellvertreter der gesamten Person werden (vgl. unter 3), z.B.
En vgrwitseje Naa:z ("eine vorwitzige Nase"). Der Graa:v
(Graben) und das Graav (Grab) sind nach der Handlung des
Grabens benannt, die Daak (das Dach) danach, daß es (das Haus)
bedeckt. Die Pfeife (= Piep) ist ursprünglich nach ihrem
röhrenförmigen Bestandteil benannt (vgl. Stdd:vepiep = Ofenrohr,
Boksepiep = Hosenbein, frz. pipeau); das Rauchen ist im
Deutschen, Niederländischen und Französischen nach dem dabei
hervorgebrachten Rauch benannt (rauchen, roken, fumer), in der
Mundart zunächst nach der dabei verwendeten Pfeife (= piepe),
dann wurde dieses Wort auch auf das Rauchen von Zigarren oder
Zigaretten übertragen.
Der Garten (= Jaa:de) bezeichnete ursprünglich den um-
zäumten, eingefriedigten Raum (germanisch = garda, indogerm.
ghordho, vgl. lat. hortus = Garten, altslavisch gradu, russisch
gorod = Einhegung, Stadt, vgl. Belgrad, Nowgorod), ist also nach
der Eigenschaft des Umzäuntseins benannt worden, anderseits
39
aber auch nach einem der in ihm angebauten Gewächse (Kollef =
"Kohl-hof"). Dieses Beispiel zeigt, daß auch hier die ursprüngliche
Benennungsmotiviertheit leicht verloren gehen kann, bis in
späteren Zeiten nur noch ein beliebiges, intern unalysierbares
Wort übrigbleibt: koll ist eine Nebenform mit Kurzvokal zu kuäl,
(vgl. ru@t = rot / € rott = ein Rotes); ku&l ist aber seinerseits
ausgestorben, nur eine Nebenform mit Umlaut hat sich erhalten
können, entweder als Allgemeinbegriff in Zusammensetzungen
wie Blommkü&l = Blumenkohl, Kruzjjelkügl = Krauskohl... ,
oder als Bezeichnung des Krauskohls = kü@l. So bedeutete das
Wort "Hahn" ursprünglich "der Singende" (vgl. germ. chanan, lat.
cano = ich singe); die "Wand" war die aus Flechtwerk hergestellte
"Hauswand", nach dem Ergebnis der dabei verrichteten Arbeit
benannt (= "Gewundenes", zu winden)...
Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele finden...
Auch die hier gegebene Übersicht von Bezeichnungs- und
Benennungsmodalitäten ist unvollständig... Ich habe jedoch nicht
nach Vollständigkeit getrachtet, sondern danach, zu zeigen, daß
man für die Mundart die gleichen Ansprüche auf sprachliche
Vollwertigkeit geltend machen kann wie für die Hochsprache.
Konkreter ausgedrückt: die Mundart ist eine vollwertige Sprache,
und als solche trägt sie im gleichen Maße wie jede andere Sprache
zur geistigen Entfaltung des Menschen bei. Wichtig dabeierscheint
mir vor allem die ständige, durch die äußere Wirklichkeit an den
Menschen gerichtete Aufforderung, für die sich in ihr ergebenden
Kategorien eine Benennungsmöglichkeit zu erfinden. Die Welt
verlangt immer wieder nach Versprachlichung. Jede Sprache,
jede Mundart ist somit ein unersetzliches Dokument, in dem
dieses Ringen mit der Wirklichkeit sichtbar wird...
RESUME:
Seuls des facteurs externes, non inhErents ä la r£alite dialectale,
d'ordre politique ou social, peuvent determiner une position
d'inf&riorit& du dialecte par. rapport ä la langue nationale, dite
culturelle. S'il est vrai qu'il faut tenir compte de tels facteurs, iln'en
reste pas moins que fondamentalement un dialecte est une langue
au mö&me titre que n'importe quelle langue culturelle. En effet,
comme toute langue, le dialecte r&unit en lui toutes les possibilit&s
40
de cr&ativit€, fournissant ainsi aux usagers les moyens n&cessaires
leur permettant de d&signer et de nommer les contenus d'expe-
rience et les donn&es de la r£alit€ avec lesquelles ils se trouvent
&tre confront&s... C'est ce qu'on tente de montrer et d'illustrer dans
cet article, au moyen d'exemples repris aux dialectes du Nord-Est
de la province de Li@ge.
Si donc il est question d’abandonner le dialecte, ce ne peut
&tre que pour des raisons historiques fortuites, sans rapport direct
avec la valeur intrins&que du dialecte lui-meme. Par ailleurs, une
prise de conscience plus nette des facteurs en jeu devrait Etre de
nature ä faire mieux voir le caract&re parfois gratuit et irr&fl£chi de
certaines prises de position contre le dialecte... .
SAMENVATTING:
Dat een dialekt als een minderwaardige taal beschouwd
wordt is verklaarbaar wanneer men voor ogen heeft, hoe zuiver
externe faktoren, van politieke of sociale aard, tot een dergelijke
opvatting kunnen leiden. Ook kunnen dgl. faktoren niet zonder
meer over het hoofd gezien worden. Dit neemt echter niet weg, dat
het dialekt in de grond precies dezelfde waarde heeft als om 't even
welke taal, omdat het dezelfde onuitputtelijke rijkdom aan
benoemings- en ver-talingsmogelijkheden van de te bespreken
werkelijkheid biedt... Dit laatste wordt aan de hand van enkele aan
de Göhltaldialekten ontleende voorbeelden aangetoond.
Op die wijze zou moeten duidelijk worden dat sommige der
argumenten die vaak ter staving van een prijsgeven van het dialekt
aangevoerd worden, ongegrond zijn...
41
Lihrer Pesches Jraaf
von Jakob Langohr
Et jett en Platsch, janz röhsch än stell
op Pere la chaise va Kelmes.
Eck va Pavei än va Heyjraave
do sönt er vöhl bejraave.
Jon ech et Oddeschjraaf besöeke,
rejits, wenn de roppjehs ajen Har,
do litt och kött bej ajene Hang
et Jraaf va ose Lihrer Schang.
Wat dä als Lihrer os jejäve,
es vör et Leäve hange bläve.
Hej hauw ene Küll, hoof net domett,
deä wor mär vör te zeege,
och wen heä kohm, än dongs va Angs
dech ejen Bank ens läge.
Sing bletze Owwe füjde os, N
do woesch dow jenge Vulle,
dow krägs o' jömmisch jar jeng Tied,
met dämm neävve dech te mulle.
Mär wenn dat Leddche va l'enclume
net klappte, jong et op die Krüng.
Als Dank wat hej jov, wi vör kleng
- ech jlöv, ech benn et net alleng -
bliev an si Jraaf ech at ens stue,
ech kann verbej do dra net jue.
Weisch och der Steen dann at ens af,
en donn e Blömke ejen Vaas.
Ech weäd janz stell än denk terröck
än bähn e Vater unser.
En kann ming Hemmelfaaht ech fiere,
da well ech noch ens bej höm liere.
Denn heä kritt ejene Hemmel feädig
än brengt mech an't stydiere.
42
Vor 80 Jahren:
Herbesthal wird selbständige Pfarre
von Alfred Bertha
Der Aachener Grenzvertrag vom 26. Juni 1816 hatte den
Weiler Herbesthal von Welkenraedt abgetrennt und mit Heistern
(vorm. Henri-Chapelle), Grünstraß(e) und Wauw (vorm. Montzen)
Preußen zugeteilt, ohne jedoch zu bestimmen, welcher Gemeinde
diese Gebietsteile in Zukunft angehören sollten. Erst am 16.
Oktober 1817 beschloß die Regierung zu Aachen, das hinzu-
gewonnene Gebiet der Gemeinde Lontzen anzugliedern. Die von
Eupen zum "Weißen Haus" an der Aachen-Lütticher Chaussee
führende Verbindungsstraße wurde nun zur Grenzstraße (Neutral-
straße) zwischen dem preußisch gewordenen Herbesthal und dem
niederländischen (später belgischen) Ort Welkenraedt.
Die Lostrennung von Welkenraedt brachte 1825 für
Herbesthal auch die pfarrliche Zugehörigkeit zu Lontzen. Dieser
Ort hatte im Ancien REgime (vor der Franzosenzeit) sowohl als
Herrschaft, wie auch als Pfarre stets ein eigenständiges Dasein
geführt. Das Ernennungsrecht der Pfarrer lag beim Aachener
Marienstift, wurde diesem jedoch im 18. Jh. durch die Universität
Löwen streitig gemacht. Die Angliederung von Grünstraß,
Heistern, Wauw und Herbesthal brachte für Lontzen eine Zunahme
von etwa 400 Seelen. Die 1826 erhobenen statistischen Tabellen
geben für Herbesthal folgende Zahlen, wobei "Dorf" eine
Ansammlung von mehr als 12, "Gehöfte" eine solche von weniger
als 6 Wohnungen bezeichnet:
Herbesthal-Dorf: 147 Katholiken, 1 Evangelischer
Herbesthaler Baum (Hof) 5 Katholiken
Meckendriesch (Haus) 2 Katholiken
Kleinstachels (Haus) 3 Katholiken
Kloster (Hof) 7 Katholiken
Kohleweid (Gehöfte) 10 Katholiken
Romar (Hof) 6 Katholiken
Rottdriesch 8 Katholiken
Stöck (Gehöfte) 13 Katholiken
Struych (Sträuch/Hof) 9 Katholiken
Verret (Landgut) 7 Katholiken
43
Weide (Hof) 5 Katholiken
Gesamteinwohnerzahl von Herbesthal 223:
1831 zählte man in Herbesthal 46 Wohnhäuser, in der
Gesamtgemeinde 226. Der Ort war rein landwirtschaftlich aus-
gerichtet und rein katholisch.
Nach der Inbetriebnahme der Eisebahnstrecke Köln-
Antwerpen i.J. 1843 und der damit verbundenen Anlage eines
Grenzbahnhofes entwickelte sich Herbesthal mehr und mehr zu
einer vorwiegend von Beamten von Bahn, Post und Zoll bewohnten
Siedlung. Ein erstes Zollamt wurde schon 1843 errichtet; 1889
wurde dasselbe zu einem "Nebenzollamt I mit hauptamtlicher
Abfertigungsbefugnis" erhoben. Schon 1881 hatte der Ort eine
eigene einklassige Dorfschule erhalten.
7 Die Entfernung zur St. Hubertus-Pfarrkirche in Lontzen betrug
etwa 3/4 Stunden und für viele Beamte, die auch an Sonn- und Fei-
ertagen Dienst tun mußten, bestand kaum die Möglichkeit, ihrer
"Sonntagspflicht" nachzukommen. Für die Schulkinder hatte der
weite Weg nach Lontzen zur Folge, daß sie den Tag ohne die da-
mals übliche allmorgendliche Messe beginnen mußten. Die jünge-
ren unter ihnen gingen auch sonntags eher mit ihren Eltern im
nahen Welkenraedt zur Messe, wodurch die Bindungen zur Pfarr-
kirche sich lockerten, auch wenn der Erstkommunionunterricht
(— damals im Alter von 12 Jahren —) vom Pfarrer in Lontzen
erteilt wurde. Den Religionsunterricht in der Schule von Herbesthal
überließ der Pfarrer dem bzw. den dort tätigen Lehrpersonen.
Schwierig gestaltete sich auch die seelsorgliche Betreuung
der Herbesthaler Alten, Kranken und Behinderten durch den
Lontzener Pfarrer, so daß man sich häufig an den Welkenraedter
Geistlichen mit der Bitte um seelsorglichen Beistand wandte.
Der Gründe, in Herbesthal ein Gotteshaus zu errichten, gab
es also wahrlich genug. Dennochstieß ein diesbezüglicher Vorstoß
der Herbesthaler Anfang 1893 in Lontzen auf Zurückhaltung. Der
dortige Kirchenvorstand urteilte, der Bau einer neuen Kirche sei
"gerade unmöglich". Es wohnten in Herbesthal durchgehend
kleine Leute, welche die erforderlichen Mittel zu schaffen nicht
imstande seien. Ohne die Notwendigkeit eines Kirchenbaues in
Herbesthal zu bestreiten, wollte der Lontzener Kirchenvorstand
doch die diesbezügliche Entscheidung dem Kölner Generalvikariat
überlassen. Er tat dies mit der Bitte, einen Vikar für Lontzen zu ;
44
benennen, der dann "die Sache betreffend den Neubau einer
Kirche in Herbesthal in die Hand nehmen und weiter fördern und
am ehesten zum guten Ziele führen würde."
Eine Ende März 1893 von 150 Familienvätern aus Herbesthal
unterzeichnete Petition an den Kölner Erzbischof, dem die Notwen-
digkeit eines Kirchenbaus dargelegt wurde, stieß zwar auf Ver-
ständnis bei der Kirchenbehörde, fand jedoch nicht die wohlwollen-
de Unterstützung der Lontzener Gemeindeväter, die die Meinung
vertraten, es sei für einen Kirchenbau in Herbesthal "kein Bedürfnis
vorhanden" und in absehbarer Zeit fehlten auch die Mittel dazu.
Die Beschaffung der für einen Kirchenbau notwendigen
Mittel war gewiß das vordringlichste der zu lösenden Probleme,
da ja die Gegner des Projekts immer auf die fehlenden Geldmittel
hinwiesen. Die erzbischöfliche Behörde, die, wie schon gesagt,
eine positive Einstellung zum Kirchenbauprojekt hatte, zeigte
dem Lontzener Pfarrer, wie die Schwierigkeiten umgangen bzw.
gemeistert werden könnten. Es mußte ein Kirchenbauverein
gegründet werden, der die nötigen Geldmittel zu beschaffen hätte.
Zur Gründung eines solchen Vereins kam es allerdings erst am 11.
Dezember 1898. Schnell gelöst war die Frage nach dem passenden
Baugrundstück: Baron de Harlez de Deulin (Lüttich) schenkte
eine günstig gelegene Bauparzelle, während Baron Gaston de la
Rousseli@re einen Steinbruch zur Förderung des Baumaterials zur
Verfügung stellte und die Eisenbahngesellschaft die Entnahme
von Wasser aus ihrem Leitungsnetz genehmigte.
Die Finanzierung des auf 39.000 Mark geschätzten Baues
sollte sich jedoch schwieriger als erwartet gestalten. Nicht nur,
daß die Schätzung des Kirchenbauvereins erheblich unter
derjenigen des Kirchenbauinspektors (50.000 Mk) und unter den
tatsächlichen Kosten (60.000 Mk) lag; da die Eigenmittel aus den
Monatsbeiträgen des Bauvereins im März 1899 erst 10.000 Mk
betrugen, galt es, so schnell wie möglich die Finanzierungslücke
zu decken. Ein Antrag auf Unterstützung durch ein "allerhöchstes
Gnadengeschenk" seitens des Kaisers wurde vom zuständigen
Minister der geistlichen und Medizinalangelegenheiten negativ
beschieden, weil, so derselbe, bei einer Seelenzahl von 800 ein
Gotteshaus für 750 Kirchgänger geplant sei, "was über die
tatsächlichen Bedürfnisse weit hinausgehe", selbst wenn die
Seelenzahl sich noch erheblich vermehre.
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Der von Regierungs-Baumeister Julius Busch aus Neuss entworfene Bauplan sah
die Möglichkeit einer späteren Erweiterung vor. Der kreuzförmige Bau hat im
Lichten eine Länge von 29,39 m, während die Breite des Längsschiffes 7,34 m, die
des Querschiffs 17,14 m beträgt.
46
In Herbestahl war man von der Notwendigkeit eines
Gotteshauses in der geplanten Größe überzeugt. Die Bevölkerung
war von 1885 bis 1895 von 419 auf 813 Personen angestiegen und
man erwartete in absehbarer Zeit einen Anstieg derselben auf
1200, so daß der Kirchenbauverein an seinem Projekt in der
vorgelegten Größe festhalten wollte.
Während staatlicherseits also keine direkte Hilfe zu erwarten
war, stellte die Erzdiözese aus dem Diözesanfonds 1000 Mk zur
Verfügung und genehmigte die Abhaltung einer Kirchenkollekte,
die 8.775 Mk einbrachte. Weitere 25.815,26 Mk erbrachte eine
seitens der Regierung genehmigte Hauskollekte, die von vielen
freiwilligen Sammlern von Köln bis Krefeld äbgehalten wurde.
Eine Anleihe von 1500 Mk und ein Hypothekendarlehen von
10.000 Mk brachten schließlich das verfügbare Kapital auf rund
60.000 Mk.
Der mit der Bauplanung beauftragte Neußer Architekt Julius
Busch hatte ein Gotteshaus im damals üblichen neugotischen Stil
entworfen. Der Bau ist 30 m lang und bildet mit dem 17 m breiten
Querschiff ein Kreuz, das in der Vierung von einem hohen
Dachreiter bekrönt wird.
Nachdem am 8. August 1900 der erste Spatenstich getan
worden war, konnte am 28. Oktober die Grundsteinlegung erfolgen,
die von der gesamten Ortschaft zu einer großartigen Feier gestaltet
wurde, über die das "Freie Wort" vom 31.10.1900 in folgenden
Zeilen ausführlich berichtete:
Die feierliche Grundsteinlegung zur neuen Kirche Maria-
Heimsuchung in Herbesthal (Spezialbericht)
Sonntag, 28. Oktober.
Am Morgen.
Unheimliche Weststürme haben seit etlichen Tagen gehaust,
Regenmassen strömen in Massen hernieder; trotzdem haben die
braven Herbesthaler es nicht fehlen lassen, die Vorarbeiten zur
Begehung des herrlichen und freudigen Festtages auszuführen.
Der schwarzumwölkte Horizont macht einer trügerischen
Herbstsonne Platz, der Regen läßt nach und alsbald sind zahlreiche
emsige Hände bereit, Straßen, Häuser und den Kirchenneubau mit
herrlichen Fahnen und frischem Grün zu schmücken. Von
47
Mittag
an strömen zahlreiche Fremde herbei, die entweder im trauten
Familienkreise oder der Einladung des Kirchenbauvereins folgend
an dem Glückstage der Herbesthaler Katholiken teilnehmen wollen.
Nachmittag.
Horch, Trommelklang! es ist die brave, unerschütterliche
Feuerwehr, die, wo es gilt, Thron oder Altar zu ehren, die Erste am
Platze ist. Unter den Klängen ihrer Kapelle begibt sie sich von
Welkenraedt zum Nachbarorte und nimmt vor der Kroe'schen
Restauration den Herbesthaler Kriegerverein in Empfang, um
gemeinsam dem Sammelplatze am Schulhause zuzumarschie-
ren.Wie stehen sie da, die treuen Vaterlandssöhne in stattlichem
Anzuge und tadelloser Haltung, die jungen Schirmer des deutschen
Hortes und die alten Kämpfer, die Mitbegründer des deutschen
Reiches!
Am Schullokale
hat sich der Vorstand des Kirchenbauvereins, die vereinigten
Sänger und eine Anzahl eingeladener Herren eingefunden.
Herr Landrat Gülcher, der Vater des Kreises, der friedliche
Vermittler belgischer und deutscher Transaktionen, dessen Tugend
esist, sich ununterbrochen dem kleinen Manne und dem Landwirten
zu widmen, ist als einer der Ersten angelangt. Auch dieser Herr,
dem zum Gelingen des Neubaues das Wesentlichste zu verdanken
ist, will der hehren katholischen Feier seine innige Sympathie
bezeugen. Die Schulkinder haben bereits Aufstellung genommen
und alsbald nähern sich, das Bild des Gekreuzigten von herrlichen
Kirchenfahnen umgeben, voran der Herr Pfarrer von Lontzen in
Begleitung der Chorknaben, gefolgt von dem Kirchenchor, dem
katholischen Kasino, den Schützengesellschaften St. Hubertus
und St. Barbara sowie dem Kriegerverein Lontzen.
Eine Abordnung der Feuerwehr bildet am Schulhaus Spalier
und in alter deutscher Steinmetztracht erscheinen vier Maurer, die
den in Sandstein ausgehauenen, mit einer schwarzen Marmorplatte
versehenen Grundstein auf einer sinnlich geschmückten Tragbahre
liegend, in Empfang nehmen. . Ca
Der Zugsetztsichunter lustigen Klängender beiden Kapellen
in Bewegung und zieht durch Alt-Herbesthal die neutrale Straße
48
entlang zum Kirchplatze. Deutsche und Belgier haben ihren
Häusern herrlichen Fahnenschmuck verliehen. Eine unzählige
Menschenmenge hält die Straße von beiden Seiten besetzt.
An der Kirche angekommen, ergreift Herr Pfarrer Greven
aus Lontzen, in Stellvertretung des verstorbenen Dechanten Herrn
Hohlmann aus Raeren, der aber mittlerweilen durch Herrn
Oberpfarrer Beys aus Eupen ersetzt ist, das Wort zu einer herrlichen
erbauenden Ansprache.
Im Chor der Kirche
äußerte der hochwürdige Herru.a.: "Im Namen des hochwürdigsten
Herrn Erzbischofs bin ich heute erschienen, um die Grundstein- ;
legung eines neuen Gotteshauses vorzunehmen. Dieses Gotteshaus
soll für Euch eine Stätte der Erbauung sein... Die Kirche ist ein Ort
der Erbauung, in welchem wir um Schutz vor dem Feind, vor
Bewahrung von Krieg, Pest und Hungersnot beten, wo wir
himmlischen Segen, Regen und Sonnenschein erflehen. Jedes
katholische Gotteshaus ist heilig, denn es heißt in der Heiligen
Schrift: "Hier ziehe deine Schuhe aus, denn der Ort, wo du stehst,
ist heiliges Land"... Die Kirche ist eine Stätte des Segens, des
Trostes und des Friedens für Reich und Arm, Hohe und Niedere,
Männer und Frauen, Väter und Mütter, Greise und Kinder, Jüng-
linge und Jungfrauen. Sie ist der erhabenen Gottesmutter als
Schutzpatronin geweiht und wir wollen dem Herrn, von dem alles
Gute kommt, danken, daß seine heilige Stätte an der westlichsten
Grenzmarke des deutschen Reiches entstanden ist. Möge der Neu-
bau bis zum Turme ohne Unfall sich vollenden! Das walte Gott!
Beten wir ein Vater unser für die Wohltäter dieses Gotteshauses."
Soweit die wesentlichen Gedanken der Ansprache von Pfarrer
Greven. Das "Freie Wort" berichtet nun weiter:
"Hierauf verlas Herr Kaplan Schaeben die auf Pergament
geschriebene Urkunde, welche dem Grundsteine einverleibt wurde:
"Heute, am 28. Oktober 1900, als Papst Leo XII.
Kirchenfürst, Kaiser Wilhelm II. Kaiser von Deutschland, Herr
Greven Pfarrer und Herr Schaeben Kaplan von Lontzen sowie
Herr Leo Esser Bürgermeister von Lontzen-Herbesthal war,
wurde ich nach den Plänen des Regierungsbaumeisters Busch aus
Neuß durch den Bauunternehmer Johann Joseph Koch ausAachen
erbaut unter dem Schutztitel Mariä Heimsuchung."
49
Nachdem der Stein in die fertige Nische geschoben war,
beteten die zahlreich anwesenden Geistlichen und Patres die
Litanei von Allerheiligen und sang der Männer- und Knabenchor
das Miserere. Nach Erteilung des Segens stimmte die Versammlung
das Lied: "Großer Gott, wir loben Dich!" an. Hiermit schloß der
feierliche Akt und die Vereine begaben sich zum Hotel Scholl, wo
im geschmackvoll renovierten Saale die
Festversammlung
begann. Eingeleitet wurde dieselbe durch die Lontzener Harmo-
nie und Feuerwehrkapelle, welche bald mit der Herbesthaler Mu-
sikkapelle ein gut zusammengesetztes Streichorchester lieferte
und den vereinigten Sängern von der Grenze den Platz einräumten."
Unter den zahlreichen Reden und Trinksprüchen, hebt der
Presseberichterstatter besonders die des Lontzener Kaplans
Schaeben hervor, der kurz zuvor an einer Rom- und Jerusalem-
Pilgerreise teilgenommen hatte und der Grundsteinlegung der
Grabeskirche Mariens (Dormitio) beigewohnt hatte. Kaplan
Schaeben ging von dem Spruch "gebt dem Kaiser, was des Kaisers
ist” aus, um auf "unseren Friedensfürsten, den allgewaltigen
Kaiser Wilhelm II., auf dessen rastlose Arbeitsamkeit und
Gottesglauben" hinzuweisen. "Unser Kaiser", sagte der Kaplan,
"ist ein gläubiger Christ, der selbst die Stätte, wo der Fürst des
Himmels, der Heiland, wandelte, besuchte und uns Katholiken
das Grab der heiligen Gottesmutter erfocht, wo vor wenigen
Tagenbei der Grundsteinlegung tausende Mahommedaner, Türken
und Araber versammelt und aus deutschen Kehlen das 'Heil Dir
im Siegerkranz' erscholl. Sein Hoch galt dem Kirchen- und
Staatsfürsten; die zahlreichen Anwesenden stimmten begeistert
in dasselbe ein".
Bürgermeister Esser würdigte in seiner Ansprache die
Verdienste des Lontzener Pfarrers als eines unermüdlichen
Förderers des Kirchenbaues. Der Pfarrer wälzte den Dank auf
seinen Kaplan ab, gedachte aber auch einzelner Wohltäter: des
mittlerweilen verstorbenen Barons de Harlez, des Barons de la
Rousseli@re und der kirchlichen und weltlichen Behörden, die die
Kirchen- und Hauskollekten bewilligten.
Der Journalist schließt seinen Bericht im "Freien Wort" in
der Hoffnung und mit dem Wunsche, daß in nicht ferner Zeit "Gott
dem Herrn das tägliche Meßopfer dargebracht werden kann, zum
50 ;
Segen der Gemeinde und Aufrechterhaltung des Friedens in dem
in seiner Art einzig dastehenden belgischen und deutschen
Grenzgebiete".
In den folgenden Wochen schritt der Bau der neuen Kirche
zügig voran, "trotz der großen Terrainschwierigkeiten", wie die
Presse berichtete. "Lobend ist die Ordnung, der Fleiß und die
Ruhe, mit welcher an der Baustelle gearbeitet wird, anzuerkennen
und gereicht dieses dem Unternehmer, Herrn Koch, zur Ehre; es
ist nicht unwahrscheinlich, daß, falls kein Mangel an Materialien
eintritt und die Witterung günstig bleibt, die Kirche vor
Winteranfang unter Dach ist", schreibt die Zeitung am 12. Sep-
tember 1900.
Wenn nun auch der Bau "infolge verschiedentlicher Hinder-
nisse und der ausnahmsweise abnormen und ungünstigen Wit-
terung" im Frühjahr 1901 nicht in der gewünschten Weise
voranschritt, so glaubte man doch mit Bestimmtheit, daß das
Gotteshaus bis zum 2. Juli, dem Patronatsfest Mariä Heimsuchung,
soweit fertiggestellt sei, daß die Kirchweihe stattfinden könne.
Inzwischen war der Kirchenbauverein selbst nicht untätig und er
konnte mit Freuden feststellen, daß der unter der Leitung der Frau
Bürgermeister Esser stehende Paramentenverein ebenfalls ein er-
hebliches Pensum Arbeit erledigt hatte: 5 komplette Meßgewänder,
9 Alben, 4 Stolen, weiße und rote Röcke für die Chorknaben,
Schultertücher, Handtücher etc. hatten die Damen bis Ende April
1901 genäht. Notwendige Einrichtungsgegenstände wie Beicht-
stuhl, Altarleuchter, Ölgefäße, Kelch, Ciborium, Meßbuch, Meß-
pult, Altarschelle, Altarkreuz, Weihrauchfaß und Weihwas-
serkessel: all dies wurde von großzügigen Gläubigen geschenkt.
Schon jetzt wußte Bürgermeister Esser dem Kirchen-
bauverein zu berichten, von höherer Stelle seider Kirchengemeinde
Herbesthal eine absolute Selbständigkeit zugesprochen; die von
Dombaumeister Statz zu Köln ausgearbeiteten Pläne für den Bau
eines Rektoratsgebäudes seien vom Kölner Generalvikariat
gutgeheißen und man werde diese Arbeiten dem Unternehmer J.
Koch aus Aachen "zur promptesten Ausführung" übertragen.
Ende Juni 1901 lieferte die Glockengießerei F. Otto in He-
melingen 2 Glocken für das neue Gotteshaus.
Der Tag der Kirchweihe, der 7. Juli 1901, gestaltete sich
wiederum ähnlich wie der der Grundsteinlegung. Am Vortag
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. Die Herbesthaler Pfarrkirche.
Zeichnung des Architekten, Reg.-Baumeister Jul. Busch
(Januar 1899)
52
bereits hatte der Ort durch Girlanden und Fahnenschmuck ein
festliches Kleid angelegt und Glockengeläute und Böllerschüße
hatten das Ereignis angekündigt.
Die Feierlichkeiten begannen am Sonntagmorgen mit dem
Empfang des Eupener Dechanten Beys und des Landrats Gülcher
durch den Lontzener Pfarrer Schwarz sowie zahlreiche Vereine
aus Lontzen, Herbesthal und Welkenraedt. Der Berichterstatter
nennt im Einzelnen: das Katholische Kasino, den Kriegerverein,
die Harmonie, die St. Hubertus-und Barbara-Schützengesellschaft.
Aus Welkenraedt waren erschienen: der Cercle Catholique, der
St. Josephs-Arbeiterverein, die St. Johannesschützen, der Turn-
verein La Concorde und der Gesangverein Liederkranz.
Unter Vorantritt der Evers'schen Kapelle aus Eupen zog der .
vom Kriegerverein Herbesthal angeführte Festzug zum Gotteshaus,
wo der Eupener Dechant die Weihezeremonie vornahm. Der
Lontzener Kirchenchor, begleitet durch seinen Organisten,
verschönerte die anschließende Meßfeier durch gregorianische
Gesänge.
Am Nachmittag fand um 4 Uhr eine Dankandacht statt, an
der wiederum die gesamte katholische Bevölkerung des Ortes
teilnahm. Im Anschluß daran traf man sich auf der Wiese des
Restaurateurs Joseph Ahn, wo die weltliche Feier sich abspielte.
"Der altbewährte und an Ehren reiche Gesangverein Concordia
Eupen, der Liederkranz Welkenraedt und die Evers'sche Kapelle
Eupen boten reichlichen musikalischen Stoff." Der ebenfalls
eingeladene Welkenraedter Musikverein "Harmonie" wurde von
der Festleitung "in tiefempfindlicher Weise vernachlässigt", so
daß der Verein abzog und seine Weisen "in den schönen Garten-
anlagen des Hotels Scholl und Herren ertönen ließ".
Die größte Anerkennung zollte der anwesende Pressemann
wiederum der "Papst- und Kaiserrede" des Kaplans Schaeben, der
"mit einem fließenden, wohlklingenden Rednertalente" die Macht
und die Stärke der katholischen Kirche hervorhob und auf die
hohe Stellung, die Bedeutung und den Einfluß des greisen
Kirchenfürsten, "vor dem sich alle gekrönten Häupter beugen",
nicht nur bei den Katholiken, sondern bei allenVölkern hinwies.
Den "allgewaltigen Kaiser Wilhelm II." stellte Kaplan
Schaeben als den Friedensfürsten hin, dessen Werk es sei, den
Völkern einen mehr als dreißig Jahre dauernden Frieden zu er-
53
halten. "Kaiser Wilhelm besuchte die heiligen Stätten, er besuchte
Rom. Seinen Sohn brachte er uns an des Rheines katholische
Gestade, daß er, der einstige Träger der deutschen Kaiserkrone,
im christlichen Glauben seine Jugendjahre unbesorgt verleben
möge. In das ausgebrachte Hoch auf den Kirchen- und
Reichsfürsten stimmte die nach Tausende zählende Menge
begeistert ein".
Weitere Trinksprüche wurden ausgebracht, u.a. auf den Erz-
bischof Hubertus (Simar) sowie "auf die Mutterpfarre Lontzen
und auf die Pflegemutter Welkenraedt",
"Herbesthal! siehe mit glücklichem Herzen auf den schönsten
deiner Tage zurück." Mit diesen Worten und mit dem Wunsche
des Eupener Dechanten Beys, es möge dem Kirchenvorstande
gelingen, das begonnene Werk auf alle Zeiten fortzuführen und in
Herbesthal eine Ära der Brüderlichkeit, Bescheidenheit, cha-
rakterwürdiger christlicher Offenheit und echt ungeheuchelten
überzeugungsvollen Glaubens herbeizuführen, wodurch das Land
zwischen Reich und Arm, Alt und Jung, Hoch- und Niedergestellten
einzig und allein auf immer erhalten werde, beendet der Zeitzeuge
seinen Bericht aus Herbesthal.
Nachdem der Kirchenbau vollendet war, mühten sich die
Herbesthaler um die Erhebung ihres Ortes zu einer selbständigen
Kapellengemeinde. Auf eine Aufforderung des Erzbischofs von
Köln, den Nachweis zum Bedürfnis der Errichtung einer solchen
Kapellengemeinde ausführlicher zu begründen, antwortete Kaplan
Schaeben am 26. Februar 1902 mit folgendem Bericht:
"Das Bedürfnis zur Errichtung einer selbständigen Kapel-
lengemeinde Herbesthal dürfte sich ergeben aus der Tatsache, daß
dortselbst nach Ausweis der letzten Volkszählung 832 Katholiken
zusammenwohnen, die von ihrer bisherigen Pfarrkirche und dem
Wohnort ihrer Geistlichen 3/4 Stunden entfernt sind. Die aus-
reichende Pastorirung von der Mutterpfarre Lontzen aus, besonders
auch der regelmäßige Religionsunterricht für die 160 Schulkinder,
ist zum wenigsten mit großen Schwierigkeiten verknüpft und
besonders müssen plötzliche Unglücksfälle, die bei dem großen
Grenzbahnverkehr nicht selten sind, die beständige Anwesenheit
eines Geistlichen am Orte selbst sehr wünschenswert erscheinen
lassen. Indirekt hat ja die hohe königliche Regierung das Bedürfnis
einer besseren Versorgung Herbesthals in kirchlicher Beziehung
54
schon anerkannt durch die Bewilligung einer Hauskollekte in der
ganzen Rheinprovinz für die Errichtung einer eigenen Kirche in
Herbesthal.
Die Grenzen des neuen Kapellenbezirks sind nun in eine
Generalstabskarte eingezeichnet, die zwar in ziemlich kleinem
Maßtab dieselben zeigt, jedoch gerade die Grenzhöfe des
verbleibenden Restes der Pfarre Lontzen in genügender
Deutlichkeit zeigt. Die Abgrenzung ergibt für den Kapellenbezirk
Herbesthal ein zusammenhängendes abgerundetes Gebiet (237
ha., A.d.R.), das ungefähr die Hälfte sämtlicher Katholiken der
bisherigen Gesamtpfarre Lontzen umschließt. Auch etwa die
Hälfte der bisherigen Cultussteuer der Pfarre Lontzen wurde von
dem nun abzutrennenden Teile aufgebracht." Kaplan Schaeben
drückte abschließend den Wunsch aus, die Abtrennungsange-
legenheit möge bis 1. April 1902 erledigt sei, damit sowohl
Lontzen wie Herbesthal mit diesem Termin nach dem neuen Etat
arbeiten könnten. 8
Wie schon erwähnt, war die Bitte um ein "allerhöchstes
Gnadengeschenk" negativ beschieden worden, weil die Kirche zu
groß geplant sei. Am 8. Mai 1902, -die Kirche war inzwischen
fertiggestellt-, reichte man ein neues Gesuch ein, das ebenfalls
zurückgewiesen wurde, u.a. weil ein Gnadengeschenk nicht für
bereits vollendete Bauten gewährt werde; man habe nach
Fertigstellung des Baus nämlich keine Möglichkeiten mehr, auf
das Raumprogramm (die Pläne) Einfluß zu nehmen.
Daraufhin schaltete sich der Landrat Gülcher ein. Sein vom
14. August 1902 datierter Antrag um Gewährung einer Beihilfe in
Höhe von 10.000 Mark blieb ebenfalls erfolglos, worauf der
Landrat am 13. Mai 1903 ein neues Gesuch einreichte, worin er
darauf aufmerksam machte, daß es für die Herbesthaler Katholiken
fast ausnahmslos zur Regel geworden war, im belgischen
Welkenraedt dem Gottesdienst beizuwohnen. Die dortige Kirche
reichte aber für den Besuch von auswärtigen Gläubigen bei
weitem nicht aus, so daß an jedem Sonntag eine ganz bedeutende
Anzahl derselben vor dem Eingang des Gotteshauses auf der
Straße stehen mußte. Unter Letzteren befanden sich auch viele
Herbesthaler Schulkinder, für welche überhaupt in kirchlicher
Beziehung nur sehr mangelhaft gesorgt werden konnte. Auch
wurde in Welkenraedt nur in französischer Sprache gepredigt.
S5
"Nachdem die Kirche nunmehr ohne Einschränkung des Bauplanes
ausgeführt worden ist", so Landrat Gülcher, hat sich herausgestellt,
daß dieselbe in dem sonntäglichen Frühgottesdienst um 7 Uhr
vormittags gefüllt und in dem späteren Gottesdienst um 10 Uhr
sogar überfüllt ist. An hohen Feiertagen ist häufig ein beäng-
stigendes Gedränge entstanden, so daß viele vor der Kirche
bleiben mußten. Letzteres ist auch an nicht wenigen Sonntagen
der Fall gewesen." (Was das erhoffte "Allerhöchste Gnadenge-
schenk" angeht, so gab der Minister der geistlichen, Unterrichts-
und Medizinal- Angelegenheiten am 12. Januar 1904 einen end-
gültigen, ablehnenden Bescheid.)
Die Gründe für die Überfüllung der Herbesthaler Kirche
waren auch darin zu suchen, daß neben den ortsansässigen
Katholiken auch zahlreiche Einsenbahnbeamte, die mit den Zügen
zur Zeit des Gottesdienstes in Herbesthal ankamen, die dort
üblichen Wartezeiten nutzten, um ihrer Sonntagspflicht
nachzukommen. Zudem waren zahlreiche Gehöfte der Gemeinden
Kettenis und Walhorn der Kirche in Herbesthal näher gelegen als
den eigenen Pfarrkirchen. Die Bewohner dieser abgelegenen
Höfe kamen nun ebenfalls zum Gottesdienst nach Herbesthal.
Schon 1901 war in Herbesthal ein Rektoratshaus errichtet
worden, doch blieb es vorerst unbewohnt. Die Kultussteuern flos-
sen weiterhin nach Lontzen und solange Herbesthal keine selbstän-
dige Kapellengemeinde bildete, blieben diese Geldmittel verloren.
Die Klärung finanzieller Fragen führte dazu, daß die
erwünschte Erhebung Herbesthals zur selbständigen
Kapellengemeinde sich noch um rund ein Jahr verzögerte.
Am 3. Februar 1903 wurde die Errichtungsurkunde der
erzbischöflichen Behörde der Regierung zur weiteren
Veranlassung vorgelegt. Die staatliche Bestätigung derselben
erfolgte am 10.6.1903.
Die Grenzen der nun selbständigen Kapellengemeinde
entsprachen wohl eher den Wünschen Lontzens als denen der
Herbesthaler. Pfarrer Plum, der die Pfarre Herbesthal im September
1940 übernahm, äußerte dazu ziemlich herbe Kritik an Lontzen,
dessen Bestreben es gewesen sei, "möglichst wenig abzugeben,
das Wenige auch in der wirtschaftlichen Kraft möglichst gering zu
halten. So kam es zu Grenzen, die heute noch wie ein Unding
bestehen."
56
Erster Rektor der selbständigen Kapellengemeinde Her-
besthal wurde verdienterweise der bisherige Lontzener Kaplan
Gottfried Schaeben, der der Gemeinde 5 Jahre vorstand, bis er am
2. Juli 1907 zum Pfarrverwalter von Willich ernannt wurde.
Inzwischen hatte das rund um den Bahnhof gescharte Her-
besthal einen weiteren mächtigen Aufschwung erlebt.
Das "Freie Wort", eine damals im Grenzland viel gelesene
Zeitung, schrieb dazu am 12. Mai 1906 u.a.: "Anfangs vorigen
Jahres waren die Bahnhöfe Herbesthal-Welkenraedt infolge des
westphälischen Kohlenarbeiter-Ausstandes mit aus Frankreich
einlaufenden Kohlenzügen überlastet. Die enorme Entwicklung
der deutschen Industrie, des täglich steigenden ungemein starken
Exporthandels Deutschlands auf allen Gebieten, hat hier einen
fast fabelhaften Verkehr geschaffen. Durch die vorjährige Mißernte
in Belgien hat von Deutschland und Böhmen aus ein gewaltiger
Export an Kartoffeln nach Belgien und Nordfrankreich
stattgefunden. Von Ende August bis Ende Dezember v.J. kamen
in Herbesthal 2000 Doppelwagen, vom 1. Januar bis 31. März
1450 und im Monat April nicht weniger als 1180 Doppelwagen
an. Ein Doppelwagen zählt 10.000 Kilos, die meisten Wagen
enthalten jedoch weit mehr, vielfach 12 bis 15.000 Kil.
In letzter Zeit spielt sich in Herbesthal eine bedeutende
Kartoffelbörse ab. Einerseits erscheinen deutsche und öster-
reichische Großhändler, die zum Teil Mengen Kartoffeln nach
hier unbestellt kommen lassen und sie an die täglich aus allen
Teilen Belgiens eintreffenden Händler verkaufen. Daß demnach
hier kolossale Summen umgesetzt werden, ist leicht begreiflich...
Das Bild, welches sich täglich hier, besonders in den Hotels
Herren und Scholl entfaltet, ist ein sehr interessantes. Da fragt
man sich des öftern: "Wer kennt die Völker, ihre Namen?" Man
denkt unwillkürlich an den babylonischen Turm. Außer den
verschiedenen deutschen Dialekten hört man Französisch,
Wallonisch, Flämisch, Polnisch, Ungarisch, usw...
Der so große Kartoffelhandel hat ein bewegtes Leben und
Treiben in Herbesthal verursacht und ist für die hiesigen
Geschäftsleute, besonders für die Restaurateure, von großem
Vorteil. Die Bahn- und Zollbeamten sowie die zahlreichen Arbeiter
der Stationen Herbesthal und Welkenraedt haben durch den
starken Verkehr einen harten Standpunkt. Sie entledigen sich, was
57
Jlobend anerkannt werden muß, ihrer Aufgabe mit allem Eifer und
aller Hingebung. Das Bahnnetz beider Bahnhöfe hat sich in letzter
Zeit wieder als viel zu klein erwiesen. Man ist aber bereits dabei,
Abhilfe zu schaffen. So sind z. B. in Welkenraedt bereits über
hundert Arbeiter beschäfigt, das Terrain zur Planierung für die
Legung von 26 Gleisen zu bearbeiten... Bis zum Herbste wird der
ganze Bahnhof Welkenraedt elektrisch erleuchtet sein, was einen
feenhaften Anblick hervorbringen wird. Der Herbesthaler Bahnhof
wird bekanntlich auch in kurzer Zeit bedeutend vergrößert werden."
Einem weiteren Bericht aus Herbesthal-Welkenraedt vom
31. August 1907 entnehmen wir eine Fülle von Einzeldaten, die
uns die Bedeutung des Grenzbahnhofs Herbesthal für die Bevöl-
kerungsentwicklung dieses Ortes klar zeigen.
Den Bahnhofsdienst gliedert der Berichterstatter in äußeren
Bahnhofsdienst, Eisenbahnwerkstatt und Güterabfertigung.
Der äußere Bahnhofsdienst setzte sich zusammen aus 1
Oberbahnhofsvorsteher (Hr. Weger), 1 Bahnhofsvorsteher (Hr.
Poppe), 2 Assistenten, 3 Diätaren, 2. Praktikanten, 1 Eisenbahn-
gehilfen, 1 schreibfähigen Arbeiter, 18 Weichenstellern und
Hilfsarbeitern, 1 Aushelfer im Telegraphenbüro, 2 Wagennotierern,
2 Weichenstellern, 2 Portiers, 5 Bahnsteigschaffnern, 3 Putzfrauen,
5 Schirrmeister, 7 Hilfschirrmännern, 20 Rangierarbeitern und 4
Stationsarbeitern.
In der Reparaturwerkstatt arbeiteten 1 Werkmeister (Hr.
Lauprecht), 1 Werkführer, 1 Eisenbahngehilfe, 24 Mann Lok-
personal, 10 Wagenmeister, 25 Werkstättenarbeiter (Schlosser,
Schmiede, Schreiner, Sattler und Hilfsarbeiter), 15 Betriebsarbeiter
(Lok- und Wagenputzer). Die Werkstatt war mit Metallbear-
beitungsmaschinen ausgerüstet, die durch einen 15 PS starken
Gasmotor angetrieben wurden.
Die Güterbabfertigung beschäftigte ebenfalls eine erhebliche
Anzahl von Personen: 1 Güter-Obervorsteher (Hr. Stuffmann), 5
Gütervorsteher und Kassenbeamte, 2 Oberassistenten, 25
Assistenten, Praktikanten und Eisenbahngehilfen, 7 Lademeister
und 45 Güterbodenarbeiter. Zudem gehörten der Station Herbesthal
noch 1 Bahnmeister, 3 Rottenführer und 40 Rottenarbeiter an.
Wenn wir die Gesamtzahl der im Eisenbahnwesen in
Herbesthal Beschäftigten nehmen, kommen wir auf 283 Perso-
nen. d
58
Einen erheblichen Aufschwung hatte auch das Zollamt
genommen, besonders nach dem Inkrafttreten von neuen Zoll-
tarifen am 1. März 1907. Das "königliche Nebenzollamt 1" in
Herbesthal zählte Ende August 1907 55 Zollbeamte, von denen 3
Oberbeamte, 6 Sekretäre, 12 Assistenten, 29 Aufseher und 5
Amtsdiener waren. Das Zollamt war (mit geringen Ausnahmen)
zur Verzollung sämtlicher Waren, die in den 947 Positionen des
Zolltarifs von 1902 aufgeführt waren, zuständig, wobei die zu
zahlenden Zollsätze von 5 Pf bis 2.080 Mk pro Doppelzentner
oder Stück liegen konnten. Der Amtsvorstand des Zollamtes
Herbesthal bestand aus dem Oberrevisor Hannibal sowie den
Steuerinspektoren Raback und Cordes, I
Auch das Herbesthaler Postamt entsprach der Bedeutung
des Grenzortes. Neben dem Postmeister, Herrn Homeyer, zählte
man 4 Postassistenten, 5 Gehilfen und 14 Unterbeamte. Da das
bisherige Postgebäude den Ansprüchen nicht mehr genügte, wurde
1907 mit dem Bau eines neuen Postgebäudes begonnen, das 1908
bezogen werden konnte.
So fanden also allein bei Bahn, Post und Zoll 362 Personen
Arbeit. Hinzu kamen Gasthäuser und Geschäftsleute,
Fuhrunternehmer und Handwerksbetriebe, die alle von dem
Grenzbahnhof profitierten. Von einem landwirtschaftlich
geprägten Weiler war Herbesthal zu einer Beamtensiedlung
geworden.
a RO ak
Im vergangenen Jahre konnte Herbesthal den 90. Jahrestag
seiner Kirchweihe feiern; dieses Jahr kann der Ort auf 80 Jahre
eigenständigen Pfarrlebens zurückblicken.
Für den letzten und entscheidenden Schritt der Loslösung
von Lontzen hat sich besonders der am 24. September 1907
eingeführte Rektor Jos. Hecker eingesetzt. Es galt wiederum,
mannigfache Hindernisse zu überwinden. Vor allem die finanzielle
Ausstattung der neuen Pfarrgemeinde mit dem erforderlichen
Dotationskapital von 62.950 Mark, (— zur Hälfte vom Staat und
zur Hälfte von der Kirche aufzubringen —) war eine große
Schwierigkeit. Bei der "geringen Bevölkerungszahl von ca. 900
Seelen" sei nicht zu erwarten, so Generalvikar Kreuzwald, "daß
59
der Staat bzw. der Gesamtverband der Diözesen Preußens die
großen Dotationssummen bewilligen wird, da viele Gemeinden
mit Tausenden von Arbeitern Anspruch erheben." (Brief vom 22.
April 1910)
Auch das Fehlen eines eigenen Friedhofs und die hohen
Kirchensteuern (70%) standen einer Erhebung zur Pfarre im
Wege, so daß das Generalvikariat dem Rektor den Rat gab,
"zunächst einen Kirchhof für Herbesthal zu beschaffen".
Am 27. September 1911 berichtete Rektor Hecker dem
Generalvikariat, die Verhältnisse in Herbesthal hätten sich seit
Jahresfrist wesentlich verändert. Der Rektor geht auf die einzelnen
bis dahin bestandenen Hinderungsgründe ein und schreibt:
"ad 1: In der Sitzung des Gemeinderates Lontzen-Herbesthal vom
22. d.M. ist die Anlage eines eigenen Friedhofes zu Herbesthal
beschlossen worden. Infolgedessen kann das Stelleneinkommen
gewiß um 100 Mark höher veranschlagt werden.
ad 2: Die Zahl der Katholiken beträgt jetzt etwas mehr als 1000.
ad 3: Die Kirchensteuer, die jetzt 70% beträgt, könnte infolge der
Erhöhung der Beamtengehälter im nächsten Rechnungsjahr allen-
falls auf 50% ermäßigt werden, aber nur unter der Voraussetzung,
daß die vom Erzbischöflichen Stuhle bisher der hiesigen
Kapellengemeinde gewährte Beihilfe in ihrer ursprünglichen
Höhe von 500 Mark bis zur Pfarrerhebung weitergezahlt wird".
Weiter weist der Rektor auf das in Herbesthal bestehende
Heimatlosenasyl hin, in dem ihm auch die Seelsorge oblag. Die
Zahl der dort jährlich aufgenommenen Katholiken veranschlagte
er auf etwa 600. Für Rektor Hecker war mit diesem Heim ein
"Dringlichkeitsmoment" gegeben.
Auch der starke Wechsel der eigentlichen Bevölkerung
infolge andauernder Beamtenversetzungen machte in den Augen
des Rektors die Pfarrerrichtung wünschenswert.
Rektor Hecker schloß seinen Brief an das Generalvikariat
mit den Worten: "Ich darf wohl endlich noch die Vermutung
aussprechen, daß die Staatsbehörde bereitsein wird, für Herbesthal,
das doch nichts anderes als eine Beamtenkolonie ist, auch etwas
einigermaßen Außerordentliches zu tun."
Die Argumente des Rektors werden am 21.12.1911 vom
Kirchenvorstand aufgenommen und der Kölner Behörde
vorgetragen. Auch der Kirchenvorstand weist auf die durch die
60
Beamtenversetzungen erschwerte Seelsorge im Ort hin. Ungefähr
70 % der katholischen Bevölkerung sei in ständigem Wechsel
begriffen.
Auch das seit dem 15.3.1911 bestehende Heimatlosenasyl,
welches jährlich 500-600 katholische Insassen werde aufnehmen
müssen, erschwere die Seelsorgearbeit erheblich.
Am 16.2.1912 äußerte sich Rektor Hecker in einem Brief an
den Lontzener Bürgermeister, die Seelsorgearbeit in Herbesthal
habe einen solchen Umfang genommen, daß die Ausübung pfarr-
amtlicher Tätigkeit von dem Pfarrer von Lontzen aus, zumal bei
der weiten Entfernung, gänzlich unmöglich sei. Aus diesem
Grunde sei der in Herbesthal angestellte Hilfsgeistliche schon vor
10 Jahren zu sämtlichen pfarramtlichen Handlungen delegiert |
worden. "Daß diese Betrauung des Hilfsgeistlichen nur ein
Provisorium ist und daß der als Pfarrer amtierende Geistliche
einen Billigkeitsanspruch auf Titel und Mittel des Pfarramtes hat,
liegt auf der Hand", so der Rektor. Die nach seiner Meinung
"naturgemäße Weiterentwicklung der bisherigen Verhältnisse"
mußte die Pfarrerhebung sein.
Diese folgte kirchlicherseits am 3. September 1912; die
Bestätigung durch die Regierung erfolgte am 7. September,
Eine am 17. Oktober 1912 in lateinischer Sprache verfaßte
Urkunde zur Pfarr-Erhebung (-in der Übersetzung des Hergenrather
Pfarrers und Landdechanten A. Mertz-) hat folgenden Wortlaut:
Peter KarlAlois Kreuzwald, Kapitular-Vikar der Erzdiözese
Cöln, zum ewigen Gedächtnis.
Wegen der steten Zunahme der Bevölkerung und der weiten
Entfernung von der Pfarrkirche ist schon im Jahre 1901 in dem
Bezirke Herbesthal, Pfarre Lontzen, eine eigene Kirche unter dem
Titel "Maria Heimsuchung" erbaut und benediziert und bald
nachher ein eigener Geistlicher zur Ausübung der Seelsorge
ernannt worden.
Jetzt aber, da alles vorgesehen ist, was von Rechts wegen zur
Errichtung einer eigenen Pfarre gefordert wird, habe ich
beschlossen, zur größeren Ehre Gottes und zur Förderung des
religiösen Lebens die bisherige Filialkirche zur Würde einer
Pfarrkirche zu erheben.
Nachdem daher alle gehört worden sind, die von Rechts
wegen zu hören waren, und auch zugestimmt haben, trenne ich
61
nunmehr bei der Sedisvakanz des Erzbischöflichen Stuhles, der
infolge des Todes des Hochseligen Kardinals und Erzbischofes
Antonius Fischer verwaist ist, kraft apostolischer Vollmacht, die
mir durch Breve der Konzils-Kongregation unter dem 2. Oktober
1912 ausdrücklich erteilt ist, (tfrenne ich) hiermit die Tochterkirche
unter dem Titel "Maria Heimsuchung" in Herbesthal mit allen
Christgläubigen des Bezirks von der Mutterkirche in Lontzen
unter dem Titel des hl. Bischofs Hubertus- und erhebe dieselbe zu
einer eigenen und selbständigen Pfarre unter dem Titel "Maria
Heimsuchung" des Ortes Herbesthal.
Auch bestimme ich, daß der Geistliche, dem das Pfarramt in
dieser neuen Pfarre übertragen werden soll, alle Pfarr-Rechte
besitzen und die obliegenden Pflichten erfüllen soll, indem ich zu
Gott hoffe, daß das christliche Volk, das seiner Sorge anvertraut
ist, diese seine Pfarrkirche häufig besuche, dem Gottesdienste
fleißig beiwohne, die hl. Sakramente oft andächtig empfange, die
Feste unseres Herrn Jesu Christi und seiner jungfräulichen,
glorreichen Mutter und der übrigen Heiligen mit der schuldigen
Ehrfurcht feiere, das Wort Gottes fleißig anhöre und die Kinder,
Knaben und Mädchen regelmäßig in den christlichen Unterricht
schicke.
Für das Einkommen der neuen Pfarre ist vorgesehen, wie es
in der beiliegenden Urkunde ausdrücklich festgesetzt ist.
Gegeben zu Cöln am 17. Oktober 1912
mit meiner Unterschrift und meinem Siegel
Dr. Kreutzwald, Kapitularvikar.
Quellen und Literatur
Der Regierungbezirk Aachen, topographisch beschrieben, mit einer Sammlung der
interessantesten statistischen Nachrichten, in kreisweise geordneten Übersichten, Aachen,
J.A. Mayer, 1827, S. 43
Goor, Franz: Herbesthal, Selbstverlag 1981, S. 86-111
Pfarrarchiv Herbesthal
Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reg. Aachen 5.052
Das "Freie Wort", Archiv d. Göhltalvereinigung, Neu-Moresnet
Amtsblätter der Regierung zu Aachen (ebd.)
62
Anhang
4 Burk-
Grzbistum Söln.. Söln, den. 284.T014. 19034...
3.3307. ls EN
A eutel Hummer anyameben..
Dienstinstrukt1onm ;
für‘ den Rektor von Nerbesthal.
” Bezüglich der in der Kapellengemeinde Hersthal wohnenden Ka-
tholiken werden dem Rektor die nachstehenden Befugnisse bezw.Ver-
Pflichtungen Übereregens
l.den Gottesdienst zu halten;
2.das Sacrament der Taufe zu spenden;
3.die Wächnerinnen auszusegnen; Sr +
4.die Angehörigen des Bezirks zu becrdigen und für sie die
Exequien zu kaltenfaiese Befugnis, tritt in Kral't ‚sobald jlerbes-
thal einen eigenen‘ Kirchhof hat; ‘
5.den Eingesessenen des Bezirks die h.Ostercommunion in der
” Kirche zu Herbesthal zu spenden; | #
6.die Kinder zur ersten h.Communion vorzubereiten und in der
Kirche zu Herbesthal zu derselben zu führen;
7.die Hatrimonialia der zum Bezirk ressortierenden Paare wahr-
zunehmen; * 55-10 ; 3 S x ;
. 8.in dem Rektoratsbezirk die Seelsorge überhaupt And, irsbeson-
ni dere die Krankenseelsorge ‚zu verschen; Z £ 7
. 9.den schulplaumässigen ‚Religionsunterricht in den zun Benirk
gehörigen sehfaen zu erteilen. £
Gegenwärtige Dienstinstruktion ist den Angehörigen des Bezirks
rechtzeitig bekannt zu geben und tritt mit dem 15.August 1903 in
Kraft,
Hinsichtlich der matrimonialia ist das Folgende zu beachten:
1l.Für die Proklamationen sollen die DEAN or in dem Erlass
De proclamationibus matrimonialibus in ecclesiis filialibus facien-
dis vom 9.März 1901(Kirchl.Anzeiger S.34)gelten.Demgemäss sind die
# Proklamitiöndn wenn Braut und Bräutigam in dem Rektoratsbezirk Doz
mizil oder” Quasidominil haben nur in der Filialkirche vorzunehmen.
Wenn aber ein Teil der Nupturienten Domizil oder Quasidomizil in
dem Rest der Mutterpfarre Kate sind die Proxlamationen in der Fi-
lialkirche und in der Mutterkirche zu halten.Wenn endlich ein Teil
“der XNupturienten aus einer andern Pfarre oder aus einem andern Fi-
lialdistrikt stammt,so haben die Proklamationen nach den geltenden
Vorschriften auch in jener Pfarre bezwiin jenem Filialdistrikt zu
geschehen,nicht aber in der Mutterpfarre,zu welcher der Rek,torats-
bezirk gehört.
2.Es ist ferner zu beachten,dass die Befugnis bezüglich der
matrimönialia als potfestas delegata aufzufassen ist und daher nicht
ad universitatem causarum sondern nur ad singulos casus delegiert
werden kann. . {
3.Zur Eintragung der getrauten Paare ist bei dem Rektorat ein
Traubuch anzulegen.Die hieraus zu” erteilenden Auszüge werden de
mandato Barochi erteilt. nr A S
Das Erzbischöfliche Generalvikariat:
Dienstinstruktion für den Rektor in Herbesthal,
Cöln, den 28. Juli 1903.
Nr, 681 Urtunde
über Errichtung der Pfarre Gerbesthal,
1. Die bisherige felbftändige Kapellengenieinde
Herbesthal wird zur Pfarre erhoben. |
2. Die Grenzen der neuen Pfarre find dies
jelben wie dje der bisherigen Kapellengemeinde.
. 8, Das Dienfteinkonunen des Pfarrer3 von
Gerbesthal regelt fiH nad) dem Gefetz vom 26, Mai
1909 über das Dienfteinkunumen der FathHolifchen |
Pfarrer. | ; a
Soweit die Pfarrgemeinde über den Betrag. vor
2400 Mark einfhließlid des Staat8gehalt? von
} 400 Mark da3 weitere Dienfteinkommen aufzus
6ringen außerftande ift, wird die eine Hülfte des
FehlbetragS von der BifchHöflihHen Behörde aus
fircdhliden Mitteln gewährleiftet, unter der Bor-,
ausfegung,. daß die andere Hälfte feitenzZ des
‚Staates gewährt wird. 4 . .
4. Gegenwärtige, Urkunde ‚tritt am 1, Ofkto-
ber 1912 in Kraft. 8
-. Cöln, den 3. September 1912.
Der Kapitularvitar.
O AD eG Wald:
Die nach der vorftehenden Uikunde vom 3. Sepe
tenıber 1912 von dem Kapitularvikar zu Cöln
Firchliherfeit8 auggefprodjene Errichtung und Unı-
{hreibung der Fätholifchen Pfarrgemeinde Herbes-
‚thal wird auf Grund der von dem Minifter der
geiftlicdhen und Unterrviht3-Angelegenheiten nittel8
Erlaffes vonı 21. Auguft d. I8. — G IT. 4510. II. —
ung erteilten Ermächtigung hierdurch von Stant3=
wegen beftätigt und in Bolzug gefebt.
Machen, den 7. September 1912,
(8S) KöniglihHe Regierung, - ;
- Abteilung für KirhHen- und Schulwefen.
i DufeniB,.
Urkunde über die Erhebung Herbesthals zur Pfarre
Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Aachen,
Donnerstag, 12. September 1912.
ee a nr Dr tn Pe Ma Mi
65
Kinderaugen sehen ihre Gemeinde
von Astrid Schmitz
"Mein Dorf an der Göhl": So lautete das Thema eines
Malwettbewerbs, den die Göhltalvereinigung im vergangenen
Jahr anläßlich ihres 25-jährigen Bestehens organisierte. Bei dieser
Aktion wurden alle Primarschulen von Lichtenbusch bis Bleyberg
(Plombi@res) zum Mitmachen eingeladen. Erfreulich groß war
das positive Echo bei den angesprochenen Lehrpersonen, wie aus
der nachstehenden Liste der teilnehmenden Schulen zu sehen ist:
die Gemeindeschulen von Raeren-Driesch, Lichtenbusch, Eynatten
und Hauset;
die Gemeindeschulen von Walhorn und Lontzen;
die Gemeindeschulen von Hergenrath und Kelmis (deutsch- |
sprachige Abteilung);
das CEsar-Frank-Lyzeum, deutschsprachige Abteilung, Kelmis;
die Ecole Primaire Maria-Hilf, Gemmenich;
die Gemeindeschulen von Homburg, Montzen-Dorf, Montzen-
Bahnhof und Bleyberg.
Die 6 bis 12-jährigen Schüler(innen) sollten dabei eine
Besonderheit ihres Dorfes zeichnerisch darstellen. Das notwendige
Zeichenpapier wurde in großzügiger Weise von der "Generale
Bank" zur Verfügung gestellt.
Was dann an Zeichenarbeiten bei uns im Museum einging,
übertraf alle Erwartungen. Nicht weniger als 673 (!) Kinder hatten
sich, meist unter Anleitung einer Lehrperson, am Wettbewerb
beteiligt. Ein Bild war schöner als das andere, so daß die aus
Lehrern, Kunsterziehern und Graphikern bestehende Jury sich
voreine schwere Aufgabe gestellt sah, sollte sie doch aus der Fülle
der Arbeiten zehn Bilder prämieren.
Bei der Auswahl der Bilder wurde jedes Dorf, aber auch das
Alter der kleinen Künstler berücksichtigt. Schließlich wurden
folgende «Sieger» ermittelt:
1. PERISSE Fabienne, 5. Schulj., Ecole Communale, Montzen
2. HILLIGSMANN Nicole, 6. Schulj., Gemeindeschule, Kelmis
_ 3.KOHNEN Floriane, 1. Schulj., Ecole Communale, Plombi&res
4. MIRSCHEL Nancy, 5. Schulj., Gemeindeschule, Hergenrath
5. KLEIN Julia, 4. Schulj., Gemeindeschule Lichtenbusch ?
66
6. HORSCH Andreas, 4. Schulj., Gemeindeschule Hergenrath
7. SCHEEN Nadine, 2. Schulj., Gemeindeschule Raeren
8.HERMANS Miranda, 6. Schulj., Ecole Communale, Plombi&res
9. LANGELA Kim, 5. Schulj., Gemeindeschule Lontzen
10. GOEBBELS Mario, 5. Schulj., C&sar-Frank-Lyzeum, Kelmis
Außerdem konnten wir eine Reihe von Trostpreisen verteilen.
Einen solchen erhielten:
NOENS Ve&ronique, BRÜLL Thierry und SCHMETZ Nicole
(alle Gemeindeschule Kelmis); JOHR Rebecca (Ce6sar-Frank-
Lyzeum Kelmis); CHRISTEN Frederic (Gemeindeschule
Hergenrath); LANGELA David (Lontzen); FRANCK Oliver
(Walhorn); DELNUI Norbert (Hauset); WELING Alexander
(Lichtenbusch); NIESSEN Marc David und DREUW Michael
(Raeren); BORN Olivier (Maria-Hilf, Gemmenich); CHARLIER
Freddy und LOCHT Cedric (Ec. Comm. Hombourg); CLOSSET
Christine und ALDENHOFF Vincent (Ec. Comm. Montzen-
Vill.).
Ein Sonderpreis für eine gemeinsame Klassenarbeit ging an
das 4. Schuljahr der Gemeindeschule Eynatten.
Die Preisverteilung fand am 6. Juni 1991 in den Räumen der
"Generale Bank" in Kelmis statt, wo die Bilder auch bis Ende Juni
ausgestellt waren.
Unser besonderer Dank gilt der Direktion dieser Bank für die
großzügige Unterstützung unserer Arbeit, dann aber auch allen
Schulleitern und Lehrpersonen, die ihren Schülern durch diesen
Wettbewerb ein Stück Dorfkultur näher gebracht und vielleicht
bei einigen ein bleibendes Interesse für die Schönheiten und die
spezielle Geschichte des Göhltales geweckt haben.
Auf den folgenden Seiten zeigen wir eine kleine Auswahl der
eingereichten Bilder, wobei wir bemerken müssen, daß aus
drucktechnischen Gründen nur schwarz-weiß Arbeiten
berücksichtigt werden konnten.
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74
Der sogenannte Jagdsaal von Schloß
Streversdorp/Chäteau Graaf
Anmerkungen zu einem spätmittelalterlichen
Raumprogramm (*)
von Alexandra Ardeleanu-Jansen
Verläßt man Aachen in Richtung Lüttich und folgt der
Lütticher Straße nach Belgien hinein, wo sie den Namen "Chaus-
see de Liege" angenommen hat, eröffnet sich dem Reisenden bald
hinter Kelmis/La Calamine eine pittoreske Hügellandschaft, die
links und rechts des Hauptverkehrswegs so manches bauhistorische
Kleinod vor dem eiligen Autofahrer verborgen hält. Nur wer sich
auf die schmalen, kurvenreichen Nebenstraßen und die land-
wirtschaftlichen Nutzwege im ostbelgischen Grenzgebiet begibt
und wer hier mit Muße den unbegradigten Landstraßen von einem
Dorf zur nächsten Kleinstadt folgt, dem wird sich diese uralte
Kulturlandschaft in ihrer malerischen Kleinteiligkeit und in ihrer
europäischen Geschichtlichkeit eröffnen.
Unter den zahlreichen Sehenswürdigkeiten sind im Gebiet
der belgischen "trois frontie&res" einige Burgen, Schlösser und
Herrensitze angesiedelt, von denen das sogenannte Schloß
Streversdorp oder Chäteau Graaf bei Montzen eine der älteren
Anlagen zu sein scheint (Abb. 1). Erste urkundliche Erwähnung
findet einer der mutmaßlichen Vorbesitzer der Wasserburg, ein
gewisser Egidius de Triversdorp/Treversdorph, in den 70er Jah-
ren des 13. Jhs. Zwischen 1273 und 1292 erscheint sein Name in
verschiedenen Archivalien (1).
1273 tritt er als Zeuge bei einem Schiedsspruch für die Abtei
Gottesthal (Val Dieu) auf (2), und 1275 findet er in einer Akte (3)
zum Landfriedensbündnis des Herzogs Walram V. von Limburg
mit der Stadt Aachen Erwähnung (4). Im nun folgenden Zusam-
(*) Aus "Architektur und Kunst im Abendland", Festschrift zur Vollendung des 65.
Lebensjahres von Günter Urban, hrsg. von Michael Jansen und Klaus Winands,
Herder Editrice, Rom, 1992.
Abdruck mit frdl. Genehmigung der Herausgeber.
75
menhang ist die Geschichte, bzw. Baugeschichte des Anwesens
jedoch nicht das vorherrschende Thema. Ihr müßte man sich an
anderer Stelle ausgiebig widmen. Aktuell ist wegen seines bedau-
ernswerten Erhaltungszustandes ein mit spätgotischen
Temperamalereien ausgestatteter Raum, der sogenannte "bunte
Söller" im ersten Stockwerk der Kernanlage. Schon in den 30er
und 50er Jahren unseres Jahrhunderts hat er die Aufmerksamkeit
verschiedener Autoren auf sich gezogen (5), jedoch ist er weder
kunsthistorisch noch philologisch oder gar denkmalpflegerisch
auch nur annähernd hinreichend gewürdigt worden.
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Abb. 1: Schloß Streversdorp/Chäteau Graaf, Montzen
Wenn schon die belgische Denkmalpflege sich dieser raren
Wand- und Deckenmalereien nicht angenommen hat, mag man es
den im 19. und 20. Jahrhundert häufig wechselnden Besitzern der
Burg vielleicht nachsehen, daß sie keine konkreten Schritte zu
ihrem Erhalt ergriffen haben. Allerdings ist das Barbarentum, mit
dem sie den Saal behandelt und seine Malereien dem weiteren
Verfall anheim gegeben haben, erschreckend. Nun, zu Anfang der
90er Jahre unseres Jahrhunderts, schlagen, wenn nicht schnellstens
etwas unternommen wird, die allerletzten Stunden des sogenannten
"bunten Söllers". Der Putz bröckelt samt den Malereien allent-
76
halben von Gewölbe und Wänden, und es stellt sich überhaupt die
grundlegende Frage, wie die auf dem fragilen Lehmputz aufge-
brachte Temperamalerei noch erhalten werden kann (6).
Ein großes Unglück war dem "bunten Söller" bereits zu
Anfang des 20. Jhs. widerfahren, als durch das undicht gewordene
Dach an der Westseite des Saales die Hälfte der Malerei verloren
ging. Was heute noch vorhanden ist, beschränkt sich auf die
Ostseite und die Südwand des Raumes. Diese Fragmente aus noch
erstaunlich leuchtend grünem, spätgotischen Akanthuslaubwerk
(Abb. 2) mit verschiedenfarbig gefaßten Phantasieblüten und
Früchten wie Trauben, Granatäpfeln und Eicheln, aus Tier-
darstellungen und Vögeln mit dazugehörigen Versen sowie aus _
Personengruppen, die in der östlichen Fensternische weiteren
Spruchbändern zugeordnet sind, lassen keinen Zweifel daran, daß
der Ausmalung des Saales ursprünglich ein zusammenhängendes
Bildprogramm zugrunde lag.
Einige der Vers-kommentierten Tierszenen, die sich in der
Pflanzenwelt des Gewölbes abspielen, verraten, weshalb der
Raum vielfach als "Jagdsaal" (7) bezeichnet worden ist. Wo ein
Hase von einem Hund gehetzt wird (Abb. 3) und wo ein Eber und
ein Bär sich feindlich gegenüberstehen, ist das vordergründige
Thema unverkennbar. Nur, das Dargestellte allein auf den deko-
rativen Hintergrund eines repräsentativen Gästezimmers (8) oder
eines Feiersaales (9) zu reduzieren hieße, die Sujets der Wand-
und Gewölbemalereien auf ihrer allerersten Bedeutungsebene zu
belassen. Daß hier mehr im Spiel ist, verraten schon allein die
dazugehörigen Spruchbänder. D'Oth&e und Belonje haben in den
50er Jahren anerkennenswerterweise erste Lesungsversuche dazu
vorgelegt (10), die, wenn auch z.T. fehlerhaft, den allegorischen
Inhalt des Bildprogramms bereits erahnen ließen. Ein Vers wie:
"vyll geiacht und niet gevangen,
vll gehoyrdt und niet verstanden,
wII gesien und niet ver (merkt):
dat synt al verloren werck." (11)
der zur Darstellung des von dem Hund gejagten Hasen gehört,
kann nur gleichnishaft verstanden werden. Diese sprichwörtliche
Volksweisheit, die laut Wander auch einer Innsbrucker Handschrift
aus dem Jahre 1430 entnommen werden konnte (12), bezieht sich
freilich weder auf den flüchtenden Hasen (13) noch auf den
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Jagdhund, sondern auf das, wofür die Jagdmetapher hier steht,
nämlich auf den Sinn des menschlichen Lebens.
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Abb. 2: Teil des Ranken- und Laubwerks im Gewölbe des "bunten Söllers",
Schloß Streversdorp
Schon der Physiologus gab seit dem 2.-3. Jh. n. Chr. Aus-
kunft darüber, wie die beseelte Natur im göttlichen, d.h. christlichen
Sinne zu deuten sei. Vom Hasen berichtet der Physiologus, daß
er, "wenn er gejagt wird, in die Felsen flieht und den Berg hinauf
und sich so rettet" (14). Berge und Felsen stehen seit Urzeiten für
den festen, sicheren Zufluchtsort, für Gott schlechthin. Bereits im
Alten Testament sind die Gleichnisse, mit denen Ewigkeit und
Stärke des Göttlichen beschrieben werden, Bilder von Berg und
Fels (15). So zitiert der Physiologus auch den heiligen Basilius:
"Suche auch du, Mensch, den Felsen, wenn du verfolgt wirst vom
bösen Hunde, dem Dämon, der Tag um Tag versucht, das Leben
des Menschen in Besitz zu nehmen. Wenn er sieht, daß der Mensch
bergab läuft und die irdischen und alltäglichen Dinge des Lebens
im Herzen hat, dann kommt er ihm eifriger nach durch die
verwirrenden Gedanken. Wenn er aber sieht, daß er im Willen
Gottes läuft und den wahrhaften Felsen, unseren Herrn Jesus
Christus, sucht und auf die Gipfel der Tugend steigt, wendet sich
der Hund entsprechend dem Wort Davids: "Es müssen umkehren
und zu-schanden werden, die mir übelwollen". (16)
78
Wenn im folgenden eine erneute Entzifferung sowie auch
eine Zuschreibung der noch erhaltenen Verse vorerst zurückge-
stellt wird, so dann, weil schon genug Leseversuche unternom-
men worden sind, die nicht von hinreichenden Voraussetzungen
ausgehen konnten (17). Darüber hinaus kann das Beispiel des
vom Hund gejagten Hasen als Einstimmung auf die Bedeutungs-
dimension der Malereien vorerst genügen, zumal es deutlich
gemacht haben dürfte, daß die Jagdszenen im ""bunten Söller"
von Streversdorp in einem moralisierend christlichen Sinn ver-
standen werden sollten und weit mehr verbergen als bisher vermu-
tet, bzw. darüber geschrieben wurde.
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Abb. 3: Jagdszene im Gewölbe des "bunten Söllers", Schloß Streversdorp
Einen unmißverständlichen Hinweis auf den religösen Ge-
halt des gesamten Bildprogramms muß man in dem Andachtsbild
an der Südwand erkennen. Inmitten der vegetabilen Phantasiewelt
des Rankenwerks ist ein ca. 1,40 x 2 m großes, gerahmtes
"Tafelbild" auf die Wand gemalt, das bisher noch kein Autor
hinreichend beschrieben hat. Pirenne und van Zuylen bezeichne-
ten das Dargestellte lediglich als "deux figures de femmes assises;
Yun tient un enfant debout sur les genoux (la Sainte-Vierge,
probablement)" (18). Obwohl sie das Bild als die wichtigste
Darstellung unter den Malereien des Saales erachteten, war ihnen
79
entgangen, daß sie eine "Anna Selbdritt" (19) vor sich hatten.
Sogar Belonje, der Bruchstücke des unter dem "Tafelbild" ange-
brachten Gebetes entziffern konnte und dabei die Namen von
Maria und der Heiligen Anna identifizierte (20), war nicht aufge-
fallen, daß zwischen diesem Gebet und dem darüber befindlichen
"Anna Selbdritt"-Bild (Abb. 4) ein unmittelbarer Zusammenhang
besteht.
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Abb. 4: Umzeichnung der "Anna Selbdritt" an der Ostwand
des "bunten Söllers" von Schloß Streversdorp
Von Maria und dem nackten Christusknaben ist leider kaum
noch etwas zu erkennen, aber die Marienmutter Anna, die in ihrem
grünen Gewand mit dem rotem Überwurf auf der, vom Betrachter
aus gesehen, rechten Bankhälfte sitzt und die aufgeschlagene
Heilige Schrift auf dem Schoß hält, ist selbst heute noch deutlich
identifizierbar. Anna hat die Bibellektüre unterbrochen, um ihrem
göttlichen Enkel einen Apfel (21) zu reichen. Ihr schönes Gesicht
80
hat überhaupt nichts Matronenhaftes an sich. Die roten, vollen
Lippen charakterisieren Anna (22) eher als jugendliche Frau denn
als Greisin. Annas Blick ist wehmutsvoll auf den Knaben gerichtet,
als ahnte sie seine Passion bereits voraus. Noch hat das Kind den
Apfel nicht ergriffen. Es schaut auf die Frucht und hat den linken
Arm nach ihr ausgestreckt. Die rechte Hand könnte zum
Segensgestus erhoben sein, möglicherweise spielt sie aber auch
nur mit der Halskette.
Die junge Mutter, vom Betrachter aus auf der linken Bank-
seite sitzend, trägt mädchenhaft über die Schultern herabwallendes
Haar, das durch einen dünnen Haarreif aus der Stirn gehalten wird.
Das alles ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Maria scheint den
auf ihrem Schoß stehenden Knaben mit beiden Händen festzu-
halten, ebenfalls den Blick gesenkt, als wüßte auch sie von dem
zukünftigen Leiden ihres Sohnes.
Mutter, Tochter und das Jesuskind befinden sich an einem
architektonisch gefaßten Ort, von dem nur schwer auszumachen
ist, ob es sich um einen Innen- oder Außenraum handelt. Die
Frauen sitzen in einer gemauerten Nische, in einer Art "Laube", an
deren Holzgitterzaun sich Pflanzen emporranken. Hierdurch wird
auf den Hortus Conclusus verwiesen, der seit der Inbezugsetzung
Mariens zum Hohelied Salomonis und durch den bildhaften
Vergleich der Unversehrtheit der Gottesmutter mit dem
Paradiesesgarten seit dem 15. Jahrhundert zu einem vorherr-
schenden Bildthema unter den Mariendarstellungen und Andachts-
bildern wurde.
Die Komposition der Anna Selbdritt von Streversdorp
entspricht der "juxtaponierten gedoppelten Nikopoia" (23), wie
sie insbesondere in der Spätgotik nördlich der Alpen weite Ver-
breitung fand. Die Verbindung zwischen den beiden nebeneinan-
der sitzenden Frauen wird durch das mehr oder weniger ins
Bildzentrum gesetzte Jesuskind hergestellt. Zumeist reicht Anna
dem Knaben eine Frucht (24). Bisweilen spielen Maria und Anna
mit dem Kind oder es blättert in der heiligen Schrift, die in den
meisten Fällen auf Annas Knien liegt (25). Trotz dieses ikono-
graphisch festgelegten Bildschemas blieb den Künstlern des 15.
und frühen 16. Jhs. jedoch genügend Freiraum, ihre Anna Selbdritt
Darstellungen zu variieren. Anna kann links oder rechts sitzen,
das Kind kann zwischen den beiden Frauen stehen, oder es wird
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abwechselnd von Maria und Anna auf dem Arm getragen usw...
Kompositorisch am ehesten verwandt mit dem Bild in
Streversdorp sind Darstellungen wie beispielsweise die in der
alten Pfarrkirche von Niedermendig (26), die Clemen aufgrund
der Modellierung der Köpfe auf Vorbilder aus den Kölner
Malerwerkstätten zurückführte und in die Mitte der zweiten
Hälfte des 15. Jhs. datierte (27), sowie die Anna Selbdritt Gruppe
des Meisters C.W. auf seinem Altarwerk von 1516 mit "Anna und
ihrer Familie" (Stuttgart, Staatsgalerie). Am ehesten ließe sich für
Streversdorp wohl an eine druckgraphische Vorlage denken, die
der Maler dann aber so freizügig abgewandelt hat, daß sich das
direkte Vorbild nicht mehr ohne weiteres festmachen läßt (28).
Stiche wie die eines Meisters E.S., eines Israhel van Meckenem
” aus Kleve, bzw. Bocholt sowie die Blätter eines Hausbuchmeisters,
der ebenfalls eine Zeitlang am Niederrhein tätig war, waren
bekanntlich weit verbreitet und wurden abgewandelt und kopiert.
Die kompositorische Anordnung der beiden Frauen mit dem Kind
auf dem Stich "Die Heilige Familie in der Halle" des Hausbuch-
meisters (L. 29) (29), der die heiligen Personen in einen erker-
artigen Innenraum gesetzt hat und dem Betrachter durch zwei
geöffnete Rundbogenfenster einen Blick in die dahinterliegende
Landschaft gewährte, kommt dem Streversdorper Bild deutlich
näher als das Blatt (L. 217) Israhels van Meckenems (30). Die
architektonische Kulisse des Hausbuchmeisterblattes könnten
den Streversdorper Maler dazu inspiriert haben, seine Personen
in das perspektivisch noch etwas unbeholfen dargestellte Ziegel-
mauerwerk mit einem Holzspalier zu versetzen. Selbst wenn
heute im Bildhintergrund nur noch ein paar Kletterpflanzen zu
erkennen sind und sich auf der linken Bildseite ein Arkadenmotiv
lediglich erahnen läßt, wird dem Beschauer ursprünglich wohl ein
Ausblick in den dahinterliegenden Außenraum und die Landschaft
möglich gewesen sein.
An die Arbeiten Israhel van Meckenems erinnern indes eher
die Blattranken mit ihren Blüten und Vögeln, die sich im "bunten
Söller" um das aufgemalte "Tafelbild" herum ausbreiten.
Meckenem hat mehrere Blätter gestochen, die hierfür durchaus
- als Vorlagen gedient haben könnten (31). Der Streversdorper
Maler hat sich aber auch hierbei künstlerische Freiheiten heraus-
genommen, die sein Rankenwerk von den Ornamentvorlagen
82
jener Zeit deutlich unterscheiden. Indem er die Ranken und
Akanthusblätter raumgreifender umsetzte, ihre Spitzen nicht in
dreiblättrigen "gotischen Krabben" auslaufen ließ und die Blüten-
gebilde um einige phantastische Varianten bereicherte, läßt sich
in den Arbeiten Meckenems und anderer Stecher freilich kein
direktes, d.h. getreu kopiertes Vorbild mehr erkennen. Ein solches
würde sich möglicherweise in den variantenreichen Rahmungen
der Gebets- und Stundenbücher des 15. und 16. Jahrhunderts
finden lassen. Aber auch dies ist keineswegs sicher, denn die
Pflanzen- und Laubwerk-Phantasien der illuminierten Bücher
jener Zeit machen deutlich, wie individuell und unterschiedlich
das Thema Rankenwerk mit Blumen, Tieren und Menschen z.T.
umgesetzt wurde.
Sowie die sich emporrankenden Pflanzen an dem Holzspalier
des "Andachtsbildes" auf den Hortus Conclusus verweisen, so
scheint auch das paradiesische Gefilde an der Südwand des
"bunten Söllers" auf den himmlischen Garten, auf die Friedlichkeit
und Würde des abgeschiedenen Ortes, an dem die heiligen Per-
sonen (Anna, Maria und das Christuskind) verweilen, zu deuten.
Der Reiher auf der Rechten Wandseite, der mit seinem langen
Schnabel ein (inzwischen?) leeres Spruchband hält, steht dabei
möglicherweise für das Bild vom guten Christen (32). Das
Eichhörnchen, dem zwar weder der Physiologus noch die
Kirchenschriftsteller eine besondere Rolle zugesprochen haben,
ergänzt die Paradiesesfauna dabei wie scheinbar zufällig durch
seine friedliche Gegenwart (33).
Was liegt in diesem Zusammenhang schließlich näher, als
das gesamte Rankenwerk des Gewölbes mit seinen eingestreuten
Blütengebilden, die nicht von dieser Welt sein können, sowie den
Granatäpfeln, Weintrauben und Feigen, die durchaus auch als
Christliche Symbole interpretiert werden können (34), als eine
Projektion des Paradiesgartens, ja des Überirdischen, des Himmels,
anzusehen? (35) Mögen zunächst auch die verschiedenen Tierarten,
die sich doch zum Teil recht feindlich begegnen, nicht unbedingt
dafür sprechen, so scheint dem Betrachter zumindest eine
Paradiesesvision vor Augen geführt zu werden, der er - wie die
Sprüche gemahnen - allein durch ein tugendhaftes Leben näher
kommen kann. Die Spruchbänder erinnern daran, daß dem gläu-
bigen Christen überall Gefahren auflauern, die ihn vom rechten
83
Wege abbringen können. Wo ein Hund, die Personifikation des
Teufels, den Hasen, das Symboltier der Treue und Gottesfurcht,
jagt, drückt sich auch eine Gefährdung des paradiesischen Zu-
standes aus (36). Daß sich der Hase vielleicht doch noch retten
kann, mag derjenige hoffen, der feststellt, daß der Gejagte in
Richtung auf die Südwand flüchtet, dort wo Anna, Maria und der
Jesusknabe auch dem Menschen Trost und Hoffnung spenden.
Und da dem Verfolger, dem Hund, der Spruch:
"Ich - sall - vangen - dat - ich - jaege -
All - soelde - ich - iagen - al myn - dage" (37)
zugeordnet ist, könnte man die Jagd auch in Auslegung religiöser
Metaphorik als allegorische Anspielung auf die elementare Suche
des Menschen nach dem rechten Weg, bzw. nach dem Sinn des
Lebens verstehen (38).
Daß selbst Gedanken an den sogenannten Tierfrieden indie
Ausmalung des Gewölbes eingeflossen sein mögen, deutet die
Begegnung zwischen einem Dromedar und einem Fuchs an der
Ostwand über der Fensternische an. Die zu beiden Tier-
darstellungen gehörenden Spruchbänder sind offenbar schon lange
verschwunden, denn auch d'Oth&e und Belonje konnten nichts
Entzifferbares mehr feststellen. Der Fuchs steht friedlich
verharrend da, seinen Kopf aufmerksam dem fremdländischen
Dromedar zugewandt. Dieser Fuchs hat nichts Listiges oder gar
Dämonisches mehr an sich, auch wenn der Physiologus und die
Kirchenväter kein gutes Haar an dem schlauen Räuber gelassen
haben. Vom Alten Testament bis zu den Fabeln des Äsop ist der
Fuchs die Verkörperung des Sünders, des Lasters und der Unauf-
richtigkeit schlechthin.
Wie das eschatologische Heilsbild des Alten Testamentes
vom Friede im Tierreich (39), von der Versöhnung zwischen den
wilden und den zahmen Tieren im Gewölbe von Streversdorp
angedeutet ist, mag man in dieser Begegnung zwischen dem
Dromedar und dem Fuchs erkennen. Als Verweis darauf, daß
selbst die unzähmbaren Raubtiere Jesus Christus als Herrn und
Retter der Welt erkannt haben (40), schaut der Fuchs vielleicht
gebannt auf das Dromedar, das hier für Christus stehen könnte.
Eine christologische Auslegung für das Dromedar gab der
Physiologus bekanntlich noch nicht, aber die Bestiarien, Hrabanus
Maurus und andere sahen im Niederknien des Tieres, um Lasten
84
aufzunehmen, ein Zeichen des Gehorsams und ein Sinnbild des
Kommens Christi auf die Erde (41). "Der Tierfriede ruft dabei das
vergangene und zukünftige Paradies in Erinnerung. Grundlage
einer solchen Deutung ist der in den Evangelien geschilderte
Aufenthalt Christi in der Wüste (vgl. Markus 1, 13), als Christus
unter den wilden Tieren weilte, ... " (42)
Die anderen Tiere, die heute noch im Rankenwerk des
Gewölbes zu erkennen sind, stellen in der Hauptsache Vögel dar.
An einer Stelle, die zum großen Teil abgeblättert ist, aber dennoch
die Konturen eines Vogels hinterlassen hat, könnte ein Pfau (43)
dargestellt gewesen sein. Andere Vögel sind weniger schillernd,
wie beispielsweise ein Kauz (?) (44). Es überwiegen indes die
Reiher (45), die wieder gerollte Spruchbänder ausbreiten und
dabei mit den Flügeln schlagen, aber nicht, wie Belonje meinte, in
Kampfesstellung aufeinander zugehen (46). Recht versteckt, in
der Nordostecke sitzt ein kleiner Hase, der sich knabbernd an
einem Akanthusblatt zu schaffen macht (47). Auch er ist mit
einem Spruchband versehen, das bisher nicht zufriedenstellend
entziffert werden konnte (48).
Das rankenverzierte Gewölbe und die oberste Wandzone
des "bunten Söllers" unterscheiden sich als Darstellung des
vegetabilen Naturraums deutlich vom unteren Teil der Wände,
die bis auf die Höhe von 1,90 m mit einem aufgemalten Gobelin
versehen sind. Das Streben nach illusionistisch vorgetäuschter
Realität geht hier sogar so weit, daß die Malerei umzusetzen
versucht, wie die Draperie mittels Schlaufen an einer Metallstange
festgemacht ist. Belonje hat fünf der ursprünglich wahrscheinlich
acht Familienwappen, die den Wandteppich zierten, identifizie-
ren können und zwei der inzwischen verschwundenen drei rekon-
struiert (49).
Die Fensternische (Estrade) in der Ostwand, die an ihrer
Nord- und Südseite mit Sitzbänken ausgestattet ist, wurde in der
j überwölbten Zone ebenfalls mit Laub- und Rankenwerk ausge-
stattet. An den Wänden haben sich über der Wandteppich-
verkleidung indes Darstellungen von in spätgotische Gewänder
gekleideten Personen (50) erhalten, deren Bedeutung durch die
dazugehörigen Spruchbänder sicherlich erhellt werden könnte,
wären diese in ihrem Zusammenhang noch erhalten.
Auf der Nordwand sind drei Personen (eine Frau und zwei
85
Männer) zu erkennen, die zwei nackte Eroten beobachten, wie
diese die Weltkugel mit beiden Armen fest umgreifen. Daß der
nur noch schemenhaft zu erkennende "Ball" (51) tatsächlich die
Weltkugel repräsentiert, läßt sich an der T-förmigen Dreiteilung
nach dem Schema der Noachidenkarte (52), dem antiken orbis
tripartitus des Augustinus, ausmachen. Der größte und "vor-
nehmste" der damals bekannten Erdteile, Asien, von dem "das Licht
der Welt kommt" (53), liegt auch hier auf der oberen Hälfte des
Globus, während Europa und Afrika sich die untere Hälfte teilen.
Die Szene mit den die Erdkugel umgreifenden Eroten zieht nicht
nur kompositorisch durch ihre Position im Zentrum der Darstel-
lung das Hauptaugenmerk auf sich, auch die dazugehörigen
Spruchbänder scheinen auf sie zu verweisen, Belonje las den
Text, der zur Linken der Frauenfigur angebracht ist, wie folgt:
"wer + nu + gijet + dair + die + tenden + dit + den + nu
komt + wt + sij + geijkert + ..... + nu + gestoelen
der + heijsche + nu + W.....
scaem + der + des + syet + en +baet + .....
der + geijt + zo + gode + beuolen + ..... " (54)
Wenn auch diese Lesart ganz offensichtlich wieder voll von
Transkriptionsfehlern ist, könnte man den Inhalt der wenigen
Zeilen aufgrund ihres Anfanges und Schlusses vielleicht redu-
zierend auf den folgenden Punkt bringen: "Wer durch die Welt
geht, ....., der geht so Gott befohlen". Aber nicht nur aufgrund
dieser etwas kühnen und verkürzten Deutung des Textes wird
klar, daß es sich bei den Darstellungen in der Fensternische wieder
um Anleitungen zu einer tugendhaften Lebensführung handeln
muß, sondern auch die auf die Eroten verweisenden Gesten der
Randfiguren lassen eine Fortsetzung des didaktischen
Gesamtprogrammes erahnen. Möglicherweise darf man in dem
Bild der beiden nackten Amor-Knaben, die den Globus um-
klammern, auch einen Hinweis auf die universelle Macht der
Liebe sehen.
Die Sprüche auf der gegenüberliegenden Wand sind in-
zwischen gänzlich verschwunden. Zweifelsfrei auszumachen sind
lediglich noch die Darstellungen sechs männlicher Personen, die
in Zweiergruppen in einem Halbkreis um ein Liebes (?) paar in
ihrer Mitte herumstehen, Das Paar scheint in einem Garten oder
auf einer Wiese zu sitzen. Die Frau kniet über dem am Boden
86
kauernden Mann und hat die Arme schützend um ihn gelegt.
Beide machen nicht gerade einen glücklichen Eindruck. Eine
Deutung des Ganzen, das von Pirenne und van Zuylen als "cour
d'amour" (55) interpretiert wurde, muß sich heute in den Bereich
der Spekulation begeben, aber in Anbetracht der Tatsache, daß die
nachdenklich dreinschauenden Männergestalten ebenfalls mit
Handgesten auf das Paar in ihrer Mitte verweisen, ist eine
moralisierend belehrsame Anspielung auf die weltliche Liebe
nicht auszuschließen.
Nun hat Belonje, der in seiner Studie von 1956 versuchte, die
Entstehungszeit der Ausmalungen im sogenannten "bunten Söller"
von Streversdorp einzugrenzen, dies an dem historischen Er-
eignis der Hochzeit des Johann von Horrich III. mit seiner zweiten
Frau Christina von Wachtendonk aus Germenseel bei Kleve im
Jahre 1500 festgemacht. Diese Datierung, die auch durch die
Familienwappen auf dem Wandbehang nahegelegt wird (56),
rückt inzwischen nicht nur aus stilistischen und bildhistorischen
Gründen immer mehr in den Bereich des Möglichen, sondern
auch, weil das gesamte Bildprogramm diesem für die Familie so
wichtigen Ereignis sehr entgegenkommt (57). Es gibt annähernd
parallele Beispiele, die eine malerische Raumausstattung mit
profanen und religiösen Motiven anläßlich einer Hochzeit bele-
gen, beziehungsweise eine zweifache Nutzung von bestimmten
Räumen als Andachts- und Wohnbereich erkennen lassen. So wie
die Jagd- und höfischen Gesellschaftsszenen in der landes-
fürstlichen Burg zu Meran wahrscheinlich anläßlich einer Hochzeit
in Auftrag gegeben wurden (58), so ließe sich denken, daß das
Ehepaar Horrich-Wachtendonk seinem Lebensbund durch die
belehrenden Spruchbänder und Bildszenen in dem repräsentativ-
sten Saal ihres neuen Heimes einen christlich-moralisierenden
Anspruch verleihen wollte. Das Andachtsbild der "Anna Selbdritt"
an der Südwand unterstreicht dieses Programm nicht nur, sondern
es weist dem Raum schließlich auch eine doppelte Funktion als
Prunksaal und als Sakralraum zu.. Daß dies zur damaligen Zeit
durchaus üblich war, belegen andere Beispiele, wie die Malereien
im "Grünen Saal" der Burg Reifenstein bei Sterzing. Dort findet
sich neben dem beliebten Laubwerk mit seinen Jadgmotiven eine
Madonna auf der Mondsichel, was nahelegt, daß der Raum
sowohl als Wohnraum als auch als Burgkapelle genutzt werden
et
87
konnte (59). Auf der Burg Gravetsch bei Villanders, wo ebenfalls
Sakrales neben Profanes gesetzt wurde, ist erst auf den zweiten
Blick zu erkennen, daß dieses kleine Zimmer über seinen alltäg-
lichen Nutzen hinaus auch als Sakralraum gedient haben muß,
bevor das Anwesen am Ende des 16. Jhs. mit einer separaten
Burgkapelle versehen wurde. (60)
An dieser Stelle läßt sich eine weitere Parallele zu
Streversdorp anknüpfen. Die Wasserburg bei Montzen erhielt
erst zu Anfang des 16. Jhs. einen eigenständigen Kapellenbau auf
dem Gelände der Vorburg (61). Heute steht hier der 1734 geweih-
te Neubau aus Ziegelmauerwerk mit einem Blausteinaltar aus
dem 16. Jh., der die Wappen der Familien Rodenburg, Horrich,
Wachtendonk und Horst aufweist (62). Bisher spricht alles dafür,
daß sich das Ehepaar Horrich-Wachtendonk zwar bald nach sei-
ner Hochzeit an die Planung einer Burgkapelle begeben haben
kann (63), aber daß zur Zeit der Eheschließung noch kein sepa-
rater Sakralbau auf dem Burggelände gestanden hat. Durch eine
Urkunde in den Maastrichter Archiven ist bekannt, daß Papst
Eugen IV. der Familie von Horrich die Nutzung eines Tragaltares
bereits im Jahre 1431 ausdrücklich gestattet hatte (64), aber von
einer Hauskapelle ist erstmals im Jahre 1542 die Rede,
Die Ausmalung des "bunten Söllers" könnte somit tatsäch-
lich in einem direkten Zusammenhang mit der Hochzeit und dem
Lebensprogramm, bzw. den individuellen Wünschen und Zielen
der Frischvermählten stehen (65). Abgesehen von der Nutzung
des "bunten Söllers" als Andachtsraum wird der aufwendig aus-
gestattete Saal sicherlich auch als Repräsentationsraum gedient
haben, Es ist die Mischung aus weltlichen und religiösen Motiven,
die dem Saal seine doppelte Funktion verleiht. So wie "Anna
Selbdritt" im Hortus Conclusus dargestellt ist, so werden sich die
damaligen Nutzer des Raumes in einen säkularisierten
Paradiesesgarten, möglicherweise auch in einen Liebesgarten,
versetzt gefühlt haben. Die Darstellung der weißen Rose im
Gewölbescheitel, die d'Oth&e und Belonje als Symbol der Ver-
schwiegenheit deuteten (66), kann dabei durchaus in mehrfacher .
Hinsicht interpretiert werden. Zum einen als Sinnbild des Ver-
trauens und der Diskretion, Tugenden, denen man sich an einem
Ort des Zusammentreffens mit Gästen und Freunden sicher sein
wollte, aber zum anderen auch als Symbol der Liebe, als Inbegriff
88
der weltlichen und geistlichen Minne und Schönheit sowie
schließlich ebenso als Sinnbild Mariens, wodurch die
Paradiesesvision in ihrer sakralen Dimension wieder aufgegriffen
wird,
Die verfeinerte Geisteswelt der international höfischen Kultur
des ausgehenden 15. Jhs. spiegelt sich somit auch in dem eher
bescheidenen Herrensitz von Schloß Streversdorp wider. Die
Auftraggeber haben durch die Ausmalung des Saales nicht nur
ihrer religiösen Geisteshaltung Ausdruck verliehen, sondern mit-
_tels der Leit- und Denksprüche haben sie ihre selbst gewählten
Lebensdevisen in dem sowohl geistlichen als auch sinnlich welt-
lichen Ambiente eines Raumes verewigt, der heute zu den wenigen,
noch unveränderten Zeugen des spämittelalterlichen Lebens im
ostbelgischen Grenzgebiet gehört.
1. Vgl. d'OthEe, Janne: Le Chäteau de Streversdrop et ses anciens Seigneurs, Les
comptes de Belderbusch. Verviers, 1955: 40
2. Vgl. Quadflieg, Eberhard: Die Anfänge von Streversdorf. In: Zeitschrift des Aachener
Geschichtsvereins, Bd. 69 Jg. 1957, Aachen, 1957: 59
3. Vgl. Belonje, Johan: Streversdorf. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins,
Bd, 68 Jg. 1956, Aachen, 1956: 71
4. Dies sind Daten, die den voraufgegangenen Studien entnommen werden konnten,
aber es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich weitere Belege oder archäologische
Hinweise finden ließen und die Wasserburg Schloß Streversdorp oder Graaf sogar
noch älter ist.
5. Vgl. u.a. Pirenne & van Zuylen: Chäteau de Graaf, prös Moresnet. In: Bulletin des
Commissions Royales d'Art et d'Arch£ologie, No. 72, Bruxelles, 1933: 283-284;
Poswick, Guy: Les Delices du Duch£ de Limbourg. Verviers, 1951: 199-204;
Mertens, Charles: Chäteaux de Belgique. Bruxelles, 1951; d'Oth&e, J. 1955: 32-35,
163-166; Belonje, J. 1956: 61-71
6. Laut Expertise zweier Restauratorinnen aus Rom, Gigliola Patrizi und Januaria
Guarini, ist das Hauptproblem die feuchtigkeitsanziehende Eigenschaft des Lehm-
putzes, der sich dadurch im Laufe der Jahre vom Steinmauerwerk gelöst hat.
Erschwerend kommt hinzu, daß der eigentliche "Bildträger", eine sehr dünne
Kalkschlämme auf dem Lehmputz, nur zusammen mit dem Putz konsolidiert werden
kann. An eine separate Rettung des Maluntergrundes zusammen mit den Malereien
- etwa in Form von "Sträppo" (von ital. strappare = zerreißen, entreißen) - ist somit
nicht zu denken.
7. Vgl. d’Ohtee, J. 1955: 32
8. Vgl. Belonje, J. 1956: 61-2
9. Vgl. d'Oth&e, J. 1955: 165
10. Vgl. d'Oth&e, J. 1955: 163-166; Belonje, J. 1956: 62-66
11. D'Othee, J. 1955: 163. Es ist zu befürchten, daß die häufig wenig befriedigenden
Lesungen von d'Oth&e und Belonje in nicht geringen Teilen zum Ausgangspunkt
einer erneuten Interpretation der Texte werden müssen, weil in den letzten 40 Jahren
ee
89
noch viel mehr verschwunden ist, als es damals ohnehin der Fall war.
12. "Vill gejagt und nichts gefangen; vil gelesen, nichts verstanden; vil gehort vnd nichts
gemerkt, das seindt eyttel vnnutze wergk." (Wander, K.F.W.: Deutsches Sprich-
wörter-Lexikon Bd 2, Darmstadt, 1964: 978/35)
13. Der dramatischen Situation dieser Hatz, die im 15. und 16. Jh. häufig auf
Ornamentblättern und in der Buchmalerei anzutreffen ist, hat der Künstler einen
besonderen Ausdruck verliehen, indem er den Hasen mit zurückgewandtem Kopf
darstellte. Nicht die Naturbeobachtung war hierbei das Vorbild, sondern mögli-
cherweise eine Vorlage, wie sie auf druckgraphischen Blättern und in Musterbüchern
des 15. und 16. Jhs. im Umlauf waren. Ein frühes Beispiel des Motivs, das einen vom
Hund gejagten Hasen darstellt, der sich nach seinem Verfolger umschaut, ist in einem
florentinischen Musterbuch eines unbekannten Meisters aus dem 15. Jh. zu finden
(Paris, Louvre, Rothschild Sammlung. Vgl. hierzu Gazette des Beaux-Arts 1935 II:
65-74, Fig. 4 sowie Scheller, R.W.: A Survey of Medieval Model Books. Haarlem,
1963: Kat. 28, Fig. 145.
14. Treu, Ursula: Physiologus. Naturkunde in frühchristlicher Deutung. Hanau, 1981:
103
15. Vgl. 1. Mose 49, 24; Jesaja 28, 16; 2 Samuel 23,3
16. Treu, U. 1981: 104
17. Einweiterer Entzifferungsversuch setzt eine fachlich qualifizierte Fotodokumentation
der Malereien und Spruchbänder voraus. Prof. Dr. Leo Wintgens, Brüssel/Montzen,
Spezialist für die Sprachentwicklung im ostbelgischen Raum, und Dr. Reiner
Nolden, Archivar im Trierer Stadtarchiv, haben sich freundlicherweise bereit erklärt,
erneute Lesungen vorzunehmen.
18. Pirenne & van Zuylen 1933: 283
19. Anna, ihre Tochter Maria und Jesus. Die Annen-Verehrung, die in der Ostkirche auf
das 6. Jh. zurückgeht (S50 ließ Justinian in Konstantinopel eine Anna-Kirche
erbauen), gelangte zunächst über Rom (nach 770 Anna-Reliquie in S. Angelo in
Peschiera) in den Westen. 1212 brachte man im Verlauf der Kreuzzüge eine Anna-
Reliquie aus Jerusalem nach Mainz, von wo der Kult sich im 13. und 14. Jh. in
Deutschland rasch verbreitete. Da insbesondere die Franziskaner leidenschaftliche
Befürworter des Annen-Kultes waren, ergriff der ehemalige Franziskaner Sixtus IV.
1481 die Gelegenheit, das Anna-Fest (26.7) auf dem römischen Festkalender
festzuschreiben. Einen vorläufigen Höhepunkt erlebte der Anna-Kult in Nordwest-
Europa nach 1450 bis zum Ausbruch der Reformation durch die Lehre von der
unbefleckten Empfängnis Mariens. Im Zuge der Reformation ging die Anna-
Verehrung in vielen Gebieten zwar zurück, aber in katholischen Gegenden blieb ihre
Popularität als Patronin der Eheleute (Kindersegen) und Eltern, der Frauen, Schwan-
geren und Hausfrauen, aber auch der Armen und Arbeiterinnen, des Bergwerks, der
Besenbinder, Böttcher, Dienstboten, Drechsler, Flachshändler sowie der Feuerwehr
etc. ungebrochen. Die im Jahre 1500 erfolgte Translatio des aus St. Stephan in Mainz
gestohlenen Annen-Hauptes nach Düren macht deutlich, welche Bedeutung die
Heilige am Mittel- und Niederrhein gehabt haben muß. Gatz veröffentlichte allein 81
Verehrungsstätten von Speyer bis nach Nijmegen und von Maastricht bis Wetzlar
(vgl. Gatz, Erwin: Zur Geschichte der Annaverehrung. In: Gatz, E. (Hrsg.): St. Anna
in Düren. Mönchengladbach, 1972: 161-190)
20. "gemint + bistu + heilige + maiget + sijnt +
anna + mä + geugede + sijdt + mutter +
Maria - sta + mit + 0nS + ‚u... +
baeuen + eben + .............,€ + vader +
sijn + moene + wu... UF +
+ bitte + die + godt + " (Belonje, J. 1956: 63)
21. Indiesem Zusammenhang das Symbol! für die Erlösung von der Erbsünde durch Jesus
90
Christus, vgl. Kirchbaum, Engelbert (Hrsg.): Lexikon der christlichen Ikonographie,
Bd. 1, Rom - Freiburg - Basel - Wien, 1968: 123, hiernach als LCI Bd. I-V zitiert.
22. Deren Ehe der Legende zufolge - nach dem sogenannten Protoevangelium des
heiligen Jakobus - zunächst bis ins hohe Alter kinderlos blieb, bis sie dann als bereits
alte Frau noch drei Töchter gebahr, denen sie allen den Namen Maria gab (vgl. Gatz.,
E.: 1972: 149).
23. Vgl. LCI Bd. 5, 1973: 188
24. Oftmals einen Apfel, aber auch Trauben oder eine Birne, wie beispielsweise bei Jan
Baegerts "Anna Selbdritt" (Münster, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte)
können dem Kind angeboten werden.
25. Vgl. z.B. Hans Baldungs Anna Selbdritt mit Markgraf Christoph I. von Baden mit
Familie (Karlsruhe, Kunsthalle)
26. Vgl. Clemen, Paul: Die gotischen Monumentalmalereien der Rheinlande. Düssel-
dorf 1930: Fig. 349
27. Vgl. Clemen, P. 1930: 341
28. Einen ganz individuellen Zug mag man in der Jugendlichkeit Annens erkennen. Die
meisten Darstellungen der Zeit geben die Marienmutter als Matrone mit Haube *
wieder. Es gibt vergleichsweise wenige Beispiele, die von dieser Vorstellung
abweichen. Der Meister C.W. hat dies deutlich getan, auch wenn er, wie der
Streversdorper Maler, auf die weiße Kopfhaube nicht verzichten konnte. Das blieb
Leonardo vorbehalten, dessen "Anna Selbdritt" (Paris, Louvre) hier jedoch nicht als
Vergleich dienen soll.
29. Vgl. Stange, Alfred: Der Hausbuchmeister. Gesamtdarstellung und Katalog seiner
Gemälde, Kupferstiche und Zeichnungen. Studien zur deutschen Kunstgeschichte
Bd. 316, Baden-Baden, Strasbourg, 1958: 60, Nr. 29
30. Vgl. Geisberg, Max: Verzeichnis der Kupferstische von Israhel van Meckenem,
Straßburg, 1905: 186; Hollstein's German Engravings, Etchings and Woodcuts
1400-1700, Vol. 24 & 24 A: 94, Nr. 217, Amsterdam, 1986
31. Vgl. beispielsweise L. 599, L. 613, L. 620 bei Lehrs, Max: Geschichte und kritischer
Katalog des deutschen, niederländischen und französischen Kupferstichs im XV.
Jahrhundert, Bd. IX, Wien, 1934
32. Der Reiher gilt dem Physiologus als genügsamster aller Vögel, weil er nur eine
Wohnung hat und kein totes Fleisch frißt. Das Lehrbuch interpretiert dies wie folgt:
"Berühre nicht die toten Lehren... und suche nicht die Plätze der Ketzer auf." Vgl.
Treu, U. 1981: 89-90
33. Vgl. hierzu E. Gall & L. H. Heydenreich (Hrsg.): Reallexikon zur Deutschen
Kunstgeschichte, Bd. 4, Stuttgart, 1958: 922, hiernach RDK Bd. 1 ff.
34. Der Granatapfel könnte hier als Sinnbild der christlichen Liebe aufgefaßt werden,
aber auch als Auferstehungs- oder Mariensymbol. Zur Bedeutung des Granatapfels
in der christlichen Kunst vgl. LCI Bd 2, 1970: 198. Die Trauben können Sinnes-
zeichen für das Blut Christi, Symbol der Tugend und Gottesliebe, der ewigen
Seeligkeit usw. sein, vgl. LCI Bd 4, 1972: 484-5. Die Feigen mögen als Sinnbild des
Heiligen Geistes und seiner süßen Früchte aufgefaßt werden, oder als Symbol
Mariens und ihrer Jungfräulichkeit, vgl. LCI Bd 2, 1970: 22
35. Vgl. zur Dimension des Laub- und Rankenwerks als Kunstform sowie als Andeutung
des Himmelsgartens: Oettinger, Karl: Laube, Garten und Wald. Zu einer Theorie der
süddeutschen Sakralkunst 1470-1520, In: Festschrift für Hans Sedlmayr, C.H. Beck,
München 1962: 201-228. Ferner Braun-Reichenbacher, Margot: Das Ast- und
Laubwerk. Entwicklung, Merkmale und Bedeutung einer spätgotischen Ornament-
form. Nürnberg, 1966: insbes.: 86-88
36. Vgl. Müller, Christian: Studien zur Darstellung und Funktion "wilder Natur" in
deutschen Minnedarstellungen des 15. Jahrhunderts. Karlsruhe, 1982: 27
37. Belonje, J. 1956: 65
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9%
38. Vgl. Ohly, Friedrich: Die Suche in Dichtungen des Mittelalters. In: Zeitschrift für
Deutsches Altertum und Deutsche Literatur, F, Ohly (Hrsg.) Bd. 44, Wiesbaden,
1965: 171-184, insbes.: 178
39. Vgl. Jesaja 11, 6-8; 65, 25
40. Vgl. Markus 1, 12-13
41. Vgl. LCI Bd. 2, 1970: 491
42. Müller, Chr. 1982: 27
43. "Der Pfau ist der hübscheste unter allen Vögeln des Himmels. Dieser Pfau ist von
bunter Farbe und hat schöne Flügel. Er geht umher, sieht sich selbst mit Freude an
und schüttelt sein Gefieder, spreizt sich und blickt hochmütig um sich. Wenn er aber
auf seine Füße sieht, wird er ärgerlich aufkreischen, denn es entsprechen seine Füße
nicht seinem sonstigen Aussehen.
So auch du, Christenmensch, wenn du deine Aufgaben siehst und das Gute, das du
hast, freue dich von Herzen und jauchze in deiner Seele. Wenn du aber deine Füße
siehst, das sind deine Fehler, rufe klagend zu Gott und hasse die Ungerechtigkeit wie
der Pfau seine Füße, damit du vor dem Bräutigam gerecht erscheinst.
Schön spricht der Physiologus über den Pfau." (Treu, U. 1981: 96-97) Zum Pfau als
Paradiesvogel und Symbol des ewigen Lebens vgl. auch LCI Bd. 3, 1971: 409-411.
44. Der Physiologus erzählt, daß dieser Vogel die Nacht mehr liebt als den Tag.
Auslegung: Unser Herr Jesus Christus hat uns liebgewonnen, die wir in Finsternis
und Schatten des Todes sitzen, ..." (Treu, U. 1981: 13-14)
45. Wie bereits erwähnt, wird der Reiher im Physiologus als tugendhaftes Vorbild für
den Rechtgläubigen beschrieben. "Suche auch du, o Christenmensch, nicht die vielen
Plätze der Ketzer. Als einziges Lager diene dir die rechtgläubige Gemeinde Gottes
und als Speise das aus dem Himmel herabgestiegene Brot, der Herr Jesus Christus.
„.." (Treu, U. 1981: 89-90)
46. Belonje, J. 1956: 65
47. In diesem Zusammenhang ist das Tier möglicherweise als Symbol der Auferstehung
zu deuten. Die frühchristliche Kunst kennt an Trauben naschende Hasen an
Sarkophargen (vgl. Lexikon für Antike und Christentum, Bd. XIII, 1986: 670).
"Ambros, [ius] Hex. V 33 (PL 14, 252), versteht H.[asen] u. die mit der Jahreszeit
wechselnde Färbung der H.[asen] als Symb. der Auferstehung und der Verwandlung
(1. Kor 15, 51s.)." (LCI Bd. 2, 1979: 221)
48. Vgl. Belonje, J. 1956: 66 "van - ien - een - ijss - swijgen - goet - die - mij - besser -
den - mijen - moet"
49. "Horrich - Palant - (Krümmel von Eynatten) -
Wachtendonk - Parlo - Horst - Gent" (Belonje, J. 1956: 67)
50. Die Frauen tragen Hauben, die mit der Kopfbedeckung des «Bildnisses einer jungen
Frau» (Köln, Wallraf-Richartz-Museum, Inv. 189), das dem Meister von St. Severin
und dessen Werkstatt zugeschrieben wird (vgl. Budde, Rainer: Köln und seine Maler
1300-1500. DuMont, Köln, 1986: 133) identisch sind. Wenn die Forschung also das
Porträt in die Zeit um 1500 datiert hat (vgl. Budde, R. 1986: 133; Stange, Alfred:
Deutsche Malerei der Gotik. Köln in der Zeit von 1450 bis 1515. Deutscher
Kunstverlag, München, 1952: 99) und die in der Fensternische dargestellten Perso-
nen vom Streversdorper Maler nicht durch antikisierend veraltete Kostüme
"verkleidet" worden sind, dann könnte man in der Haubentracht einen recht konkre-
ten Anhaltspunkt für die Datierung der Wandmalerei gewinnen.
51. Vgl. Belonje, J. 1956: 64
52. Die Bezeichnung Noachidenkarte bezieht sich auf die alttestamentarische Vorstel-
Jung, die Erde habe erst nach der Sintflut ihre jetzige Gestalt angenommen. Nach der
Sintflut sind die drei Söhne Noahs zu den Stammvätern der Bewohner der damals
bekannten drei Erdteile Asien, Europa und Afrika geworden (vgl. RDK Bd. V: 1025)
53. Vgl. LCI Bd. 1, 1968: 660
92
54. Belonje, J. 1956: 64
55. Pirenne & van Zuylen 1933: 283
56. Vgl. Belonje, J. 1956: 67
57. Zumal der nicht mehr ganz jugendliche Bräutigam mit seiner zweiten Frau nun
Streversdorp zu seinem Hauptwohnsitz machte (vgl. Belonje, J. 1956: 69-70).
58. Vgl. Weingartner, Josef: Die profane Wandmalerei Tirols im Mittelalter. In: Münch-
ner Jahrbuch der bildenden Kunst, Neue Folge V, 1, 1928: 1-6, insbes. pp. 49-53.
Desweiteren ist inmitten einer großflächigen Laub- und Rankenwerk-Ausstattung im
Rübnacher Haus der Burg Eltz ein Verlobungszug dargestellt (vgl. Börsch-Supan,
Eva: Garten-, Landschafts- und Paradiesmotive im Innenraum. Eine Ikonographische
Untersuchung. Berlin, 1967: 233).
59. Vgl. Weingartner, J. 1928: 54
60. Vgl. Weingartner, J. 1928: 55
61. Vgl. d'Othee, J. 1955: 24-29
62. Vgl. Belonje, J. 1956: 58
63. Im Jahre 1542 fand eine Stiftung des Ehepaares Erwähnung, die durch den Bischof
von Lüttich bestätigt wurde. Diese Stiftung von mehr als 200 brabantischen Gulden ”
war von Johann Horrich III. und seiner Frau Christina von Wachtendonk für den
regelmäßigen Meßdienst in der dem Heiligen Antonius geweihten Burgkapelle
vorgesehen (vgl. d'Oth£e 1955: 24-27).
64. Vgl. d'Othee, J. 1955: 161-162; Belonje, J. 1956: 58
65. Als anekdotische Anmerkung sei nebenbei erwähnt, daß die erste Tochter, die aus
dieser Ehe Horrich- Wachtendonk hervorging, auf den Namen Anna getauft wurde,
1530 heiratete Anna von Horrich Jakob von der Heyden und brachte das Anwesen
von Streversdorp in ihre Ehe mit ein (vgl. Belonje, J. 1956: 72-73).
66. Vgl. D'Othee, J. 1955: 163; Belonje, J. 1956: 61-62
Dank
Zum Schluß möchte ich es nicht versäumen, Peter Gerlach, Alfred Jansen, H. Herbert
Mann und Leo Wintgens ganz herzlich für ihre wertvollen Hinweise zu danken. Ferner gilt
mein Dank dem derzeitigen Besitzer des "bunten Söllers" von Schloß Streversdorp, Herrn
F.J. Schiffer, der mir bereitwillig Zugang zu dem Saal gewährte.
Abbildungsnachweis
Abb. 1: Foto A. Ardeleanu-Jansen
Abb. 2: Foto Alfred Jansen
Abb. 3: Foto Alfred Jansen
Abb. 4: Umzeichnung Frank Kistmacher
VEN SENSE
93
Kampf um einen Bischof:
J. Th. Laurent,
Apostolischer Vikar des Nordens
von Hubert Jenniges
In Nummer 4 dieser Zeitschrift erschien 1968 aus der Feder
von Fr. Darcis ein Aufsatz über Johannes Theodor Laurent: "Ein
Pfarrer von Gemmenich wurde Bischof."
Der Beitrag beschreibt Lebenslauf und Tätigkeit des Pfarrers
Laurent in Gemmenich (1835-1839) und weist auch über das
Biographische hinaus auf die Zeitumstände hin, die Laurents
geistliche "Karriere" begleiteten (1).
Vor mir liegt nun eine höchst aufschlußreiche und gut
konzipierte Dissertation des luxemburgischen Kirchenhistorikers
Georges Hellinghausen, die sich eingehend mit dem Kampf um
die apostolische Vikarie des Nordens befaßt, und in diesem
Sachverhalt die Tätigkeit des aus Aachen stammenden J. Th.
Laurent nachhaltig im Lichte der vom Heiligen Stuhl betriebenen
Politik gegenüber den protestantischen Staaten Norddeutschlands
und Dänemarks um das Jahr 1840 würdigt (2).
Roms Interesse am sogenannten nordischen Vikariat ent-
sprach dem zu Beginn des 17. Jahrhunderts neu erwachten Be-
wußtsein apostolischer Verantwortlichkeit des Papsttums für die
gesamte Welt. Dasselbe fand in der Gründung der Römischen
Kongregation für die Glaubensverbreitung (1622) ihren konkre-
ten Ausdruck. Hierzu gehörten auch die Gläubigen, die im deut-
schen und skandinavischen Raum lebten. Die Kongregation für
die Glaubensverbreitung bestellte hier apostolische Vikare, die
im Auftrag des Heiligen Vaters die geistliche Jurisdiktion über die
nordischen Katholiken ausübten.
Diese "nordische Mission" funktionerte mit unterschiedlicher
Wirkung bis zur Wahl des Kongregationspräfekten Kardinal
Cappelani zum Papst im Jahre 1831 unter dem Namen Gregor
XVI. Nach der allgemeinen Dekadenz im Gefolge der Revo-
lutionswirren erhielten die katholischen Missionen im allgemei-
nen einen bedeutenden Aufschwung.
1837 faßte die Generalkongregation den Plan, einen haupt-
amtlichen Apostolischen Vikar mit Sitz in Hamburg zu ernennen;
94
er sollte den offensichtlich unkompetenten Paderborner Bischof
Ledebur, der seit 1836 Apostolischer Vikar des Nordens war, in
dieser Aufgabe ablösen.
Im Jahre 1839 erwog der Vatikan zunächst auf Vorschlag der
Generalkongregation die Wahl eines holländischen Kirchen-
mannes, des Barons van Wyherslooth, zum Apostolischen
Provikar. Da dieser aber ablehnte, wurde nach neuen Kandidaten
für das diplomatisch und politisch schwierige Amt Ausschau
gehalten.
Die Wahl fällt auf Laurent
Der Vize-Superior der holländischen Mission, Antonucci, ,
und der einflußreiche Konsultor der Generalkongregation für die
Glaubensverbreitung, Fornani, legten getrennte Namenslisten
vor. Uns interessieren die Kandidatenvorschläge Fornanis, der
zunächst ohne Erfolg beim belgischen Episkopat angefragt hatte,
geeignete Kandidaten in Erfahrung zu bringen.
Fornani erhielt über deutsche Vertrauenspersonen fünf Na-
men, die er nach Rom weiterreichte: Adam Fennig, Pfarrer in der
Diözese Mainz, Hutmacher, Pfarrer in einem nicht näher genann-
ten Eifeldorf der Diözese Köln, Pfarrer Adam Keller von Burtscheid
bei Aachen, Josef Istas, Kaplan in Aachen, und Johannes Theodor
Laurent, Pfarrer in Gemmenich, Diözese Lüttich. Da man die vier
erstgenannten Kandidaten nicht in ihrem Wirkungskreis auf preu-
ßischem Territorium entbehren wollte, entschied sich die
Generalkongregation am 15. Juli 1839 einstimmig für Pfarrer
Laurent.
Herkunft und Wirkungsstätte Laurents dürften zu dieser
Wahl beigetragen haben. Der 1829 in Namur geweihte Johannes
Theodor Laurent war 1804 als Sohn des Luxemburgers Franz
Laurent und der Aachenerin Gertrud Schönen geboren worden. Er
begann seine Theologiestudien in Bonn, das er 1826 wegen des
dort an der theologischen Fakultät verbreiteten Hermesianismus
(3) freiwillig verließ, um in Lüttich weiter zu studieren. Als
Priester der Diözese Lüttich wirkte er 10 Jahre lang als Kaplan in
Heerlen und schließlich von 1835 bis 1839 als Pfarrer in Gem-
menich.
In seine Gemmenicher Wirkungszeit fielen die sogenannten
Kölner Wirren (1836-1840), an denen er regen Anteil nahm. Er
EEE EN
95
trat nämlich als Verteidiger des gefangengenommenen Erzbi-
schofs Klemens August von Droste-Vischering, dem früheren
Weihbischof von Münster, auf. Publizistisch trat er in Artikeln des
"Journal historique et litt&raire de Liege" für Klemens August ein.
Dazu Georges Hellinghausen: "Durch seinen Aufenthalt im bel-
gischen Grenzort Gemmenich in unmittelbarer Nähe Aachens
war er in der Lage, einerseits mit seinen Freunden des Aachener
ultramontanen Kreises zu verkehren, andererseits ungehindert
Berichte über die Kölner Angelegenheit... an die Brüsseler
Nuntiatur und durch diese nach Rom gelangen zu lassen" (4).
J. Th. Laurent war also in römischen Kreisen kein unbe-
schriebenes Blatt.
Ernennung und Konsekration
Mit Einverständnis seines Lütticher Bischofs Van Bommel
nahm der Pfarrer von Gemmenich die Wahl an. Er wurde durch
zwei Breven vom 17. September 1839 zum Apostolischen Vikar
der Nordischen Mission und zum Titularbischof von Chersones
ernannt. Gleichzeitig wurde Bischof Ledebur von Paderborn
seiner Verantwortung über das nordische Missionsgebiet entle-
digt.
Der Sitz des neuen Apostolischen Vikars wurde Hamburg
("florentissima Hamburgi civitas"). Am 27. Dezember 1839 wurde
J. Th. Laurent in der Lütticher Kathedrale von seinem Freund,
dem Diözesanbischof Van Bommel, konsekriert. Als Leitmotiv
für sein bischöfliches Wirken wählte Laurent den Wappenspruch:
"Iter para tutum” (Bereite den sicheren Weg).
Um seine Bischofswürde zu heben, wurde er zum Ehren-
domherr der Lütticher Kathedrale ernannt und mit der Doktorwürde
"honoris causa" der Theologischen Fakultät der Katholischen
Universität Löwen ausgezeichnet.
Widerstand der nordischen Staaten
Bischof Johannes Theodor Laurent hat sein Amt als
Apostolischer Vikar der nordischen Mission aufgrund des Wi-
derstandes der betroffenen Staaten nie antreten können.
Georges Hellinghausen geht ausführlich auf die Gründe des
Scheiterns des römischen Projekts einer Reform der nordischen
Missionen ein. Die von Politikern und Presse vorgebrachte Argu-
4
96
mentation richtete sich sowohl gegen die als "Neuerung" empfun-
dene juridisch-kirchliche Konstellation "Apostolischer Vikar und
Residenzstadt Hamburg", als auch gegen die konkrete Person des
dazu bestellten Johannes Theodor Laurent. Auch im Norden
schien Laurent kein unbeschriebenes Blatt zu sein. Hellinghausen
berichtet von einem Pressekrieg um den neuen Bischof. "Viel-
leicht wäre es ohne die Presse gar nicht zu einer Affäre gekom-
men... Belgische, dänische und deutsche Blätter traten die Nachricht
breit und bauschten sie schließlich zu einer Sensation auf, die
noch hohe Wellen schlagen sollte " (5). Somit wurde die Ernen-
” nung Laurents im Ausland als eine Maschination.des belgischen
Klerus hingestellt: die "Hamburger Affäre" entstand. »
Auch die politischen Kreise Norddeutschlands und Däne-
marks liefen Sturm gegen den ernannten Apostolischen Vikar.
Der Bremer Senat verweigerte jede Kirchenvisitation durch
Laurent; der Hamburger Senat sprach sich entschieden gegen die
Installation des Apostolischen Vikars aus und informierte sich bei
der dänischen Regierung über deren Weigerung, an den beste-
henden kirchlichen Verhältnissen etwas zu verändern.
Auch Lübeck lehnte Laurent ab.
Es gilt festzuhalten, daß auch die Person des Ernannten eine
Rolle spielte. Wurde er ja vielfach in den nordischen Ländern als
"Jesuit", "Belgier" (was dieses Epithet auch bedeuten mag),
"römischer Abgesandter" u.s.w. angesehen. Immer wieder kam in
den Widerständen gegen J. Th. Laurent die Furcht vor einer
katholischen Propaganda und Expansion der römisch-katholischen
Lehre zum Ausdruck. Tatsache ist, daß zu dem Zeitpunkt in den
protestantischen Ländern des Nordens der Prestigezuwachs des
restaurativen Papsttums als "bedrückend und einengend" emp-
funden wurde. Berücksichtigt man dies, "dann wird man gewahr,
in welche Sprengstoffladung die Ernennung Laurents hinein-
geplatzt war" (6).
Was in den Hansestädten an Widerstand gegen die Ernen-
nung eines Apostolischen Vikars und namentlich gegen die Be-
zeichnung eines J. Th. Laurent zum Ausdruck kam, wiederholte
sich im großherzoglichen Mecklenburg-Schwerin und in den
dänischen Staaten.
EEE SEN TEE TEE —
98
Laurents Ausweisung aus Aachen
Auch Preußen versuchte, das Kommen Laurents zu vereiteln
und "hantierte nicht nur auf dem diplomatischen Parkett hinter
den Kulissen" (7). Am 4. Februar 1840 wurde Laurent durch eine
preußische Kabinettsorder aus seiner Vaterstadt Aachen ausge-
wiesen.
Dem Vorfall war eine rege Tätigkeit des ehemaligen
Gemmenicher Pfarrers in Aachen voraufgegangen, wo er sich mit
einem Paß aufhielt, den das belgische Außenministerium ausge-
stellt hatte.
Das Dokument bezeichnete Laurent als "Mr. Laurent,
particulier sans'profession, se rendant en Allemagne par Aix-la--
Chapelle" (8), eine Bezeichnung, die später als falsche
Qualifikation ausgelegt wurde, um die Bevölkerung in Aufruhr zu
versetzen. Tatsache ist, daß Laurent in Aachen mit bischöflichen
Funktionstätigkeiten (wie Firmen... ) hervortrat; ein Umstand, der
die preußischen Behörden beunruhigte. Hellinghausen berichtet
(9), der König und verschiedene Minister in Berlin hätten sich mit
dem Fall befaßt.
Auch der Kölner Generalvikar Hüsgen habe sich über das
Auftreten Laurents besorgt gezeigt und die Aachener Pfarrer zur
Verantwortung ihres Verhaltens dem fremden Bischof gegenüber
aufgefordert.
Schlußpunkt unter eine Affäre
J. Th. Laurent kehrte nach Belgien zurück, wo er auf die
Ergebnisse einer Vermittlungsaktion der katholischen Mächte
Österreich, Bayern, Belgien und Frankreich wartete. Als keine
Resultate sichtbar wurden, reiste Laurent im Mai 1840 nach Rom,
um seine Angelegenheit persönlich in die Hände zu nehmen.
Letztlich scheiterte jedoch seine Ernennung zum Apo-
stolischen Vikar der nordischen Missionen an der Opposition der
protestantischen Regierungen und an der Passivität der katholi-
schen Vermittlermächte. So wurde er am 1. Dezember 1841 zum
Apostolischen Vikar Luxemburgs, seiner zweiten Heimat, ernannt.
Anfangs war auch hier seine Tätigkeit von Spannungen begleitet,
da die Regierung des Großherzogtums an der Tradition des
napoleonischen Konkordats und der staatlichen Kirchenhoheit
festhielt. Es kam zu Auseinandersetzungen in der Schulproblematik
99
sowie in der Frage der Verweigerung des umstrittenen
Konkordatseides.
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Nach seiner Ausweisung aus Luxemburg (1848) kam Bischof Laurent nach Aachen
zurück und widmete sich nunmehr vor allem der geistlichen Leitung und Beratung
verschiederner Schwesterngenossenschaften, besonders der von Clara Fey gegr.
Genossenschaft der Schwestern vom Armen Kinde Jesus, deren geistlicher Direktor
er 1876 wurde. Als die Schwestern im Kulturkampf Aachen verlassen mußten,
folgte er ihnen ins nahe niederländische Simpelveld, wo das neue Mutterhaus des
Ordens entstand. Hier, im "Haus Loreto", verstarb Bischof Joh. Theod. Laurent
am 20. Februar 1884, Seine reichhaltige Bibliothek ist heute noch im Kloster
erhalten.
Im Revolutionsjahr 1848 wurde Laurent verdächtigt, gegen
die bestehende Ordnung zu agieren. Rom ordnete seine Abberu-
fung an. Obwohl ihn die luxemburgische Regierung 1856 reha-
bilitierte, trat Laurent endgültig zurück.
Das Fazit der Ernennung Laurents zum Apostolischen Vikar
der nordischen Mission und später Luxemburgs überlassen wir G.
Hellingshausen: (10)
"Im Norden hätte ihn seine entschiedene und undiplomatische
Art, insbesondere seine kämpferische Haltung gegen staats-
kirchliche Ansprüche, wie er sie in Luxemburg zeigte, zu einer
Entfremdung der sich eben erst emanzipierenden Katholiken
100
gegenüber Staat und Gesellschaft geradezu disponiert. Trotzdem
hätte auch hier der für Laurent typische energische Einsatz für die
gute Sache Aufbau und inneren Zusammenhalt der Katholischen
Gemeinden fördern können."
Anmerkungen:
(1) Diese ausgezeichnete Darstellung findet auch in der einschlägigen Literatur der
jüngsten Zeit über den "Fall Laurent" verwendung. Eine breite Literatur bietet
Hellinghausen, siehe Anm. 2.
(2) Georges Hellinghausen, Kampf um die Apostolischen Vikare des Nordens J. Th.
Laurent und C.A. Lüpke. Der hl. Stuhl und die protestantischen Staaten Nord-
deutschlands und Dänemark um 1840.
Editrice Pontificia Universitä Gregoriana, Roma 1987,
(In der Folge als Hellinghausen I)
desgl. mit gleichem Titel: Excerpta ex dissertatione ad Doctoratum in Facultate *
Historiae Ecclesiasticae Pontificiae Universitatis Gregorianae.
Roma 1987.
(In der Folge als Hellinghausen II).
(3) Benannt nach Georg Hermes (1775-1831). Hermes geht von rationalisierenden
Erkenntnissen aus, Er bestreitet die Wesenserkenntnis und nimmt die Offenbarung
als notwendig zur Wahrung der Menschenwürde an. Die Lehre wurde 1835 von
Gregor XVI. verworfen.
(4) Hellinghausen I, S. 77
(5) Hellinghausen I, S. 92
(6) Hellinghausen I, S. 122
(7) Hellinghausen I, S. 200
(8) Hellinghausen I, S. 201
(9) Hellinghausen I, S. 202
(10) Hellinghausen II, S. 63
A
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In der Nacht
von M. Th. Weinert
Tausend Lichter in dieser Stadt,
und der Himmel ist weit.
Niemand, der ihn gesehen hat,
denn der Dunst liegt über der Stadt,
das grelle Licht, es schreit,
und es hat niemand Zeit.
Draußen hat die Nacht ein Gesicht,
von ruhenden Dingen bewohnt.
Die scheuen Tiere lärmen nicht,
sie lauschen. Nur die Quelle spricht,
die glitzert in der Sterne Licht
und schimmert unterm Mond.
102
.... ° °
Tätigkeitsbericht 1991
von Freddy Nyns
Das Jahr 1991 nimmt in den Annalen der Vereinigung eine besondere
Stelle ein, konnten wir doch das 25-jährige Bestehen der Göhltalvereinigung
feiern. Dieses Jubiläum verdiente es, auf besondere Weise begangen zu werden.
Unsere Tätigkeiten waren wie immer breit gefächert und reichten von
Vorträgen und Exkursionen bis zu Ausstellungen und Werksbesichtigungen. Im
einzelnen:
Am27. Januar fand die statutengemäße Generalversammlung statt. Nach
den üblichen Berichten und der Neu-bzw. Wiederwahl des Vorstandes folgte ein
einstündiger Dia-Querschnitt durch unsere Landschaft mit dem Titel
"Musikalische und poetische Naturbetrachtungen", für den Fr. Margar. Wahl
reichen Beifall erntete. ®
"Das Bistum Aachen im Dritten Reich": so lautete das Thema einer
Wanderausstellung des Diözesanarchivs Aachen, die vom 18. Januar bis zum 14.
Februar im Göhltalmuseum zu sehen war. Da unsere deutschsprachigen Pfarren
in den Kriegsjahren der Diözese Aachen unterstanden, konnten die Besucher -
auch wenn Eupen-Malmedy wegen fehlender Unterlagen in den Exponaten’
kaum berücksichtigt wurde - sich ein eindrucksvolles Bild über das Mit-bzw.
Gegeneinander von Kirche und Staat in diesen kritischen Jahren machen.
Eine weitere Ausstellung im Museum war der Postgeschichte im Göhltal
gewidmet. Vortandsmitglied Leo Göbbels sammelt seit vielen Jahren Unterlagen
zu diesem Thema und stellte vom 22. Februar bis 17. März die Früchte dieser
Sammel-Leidenschaft aus: alte Briefe, Stempel, Freimarken etc. sagen viel zur
wechselvollen Geschichte unseres Gebietes aus.
Am 20. März führte unser Vorstandsmitglied Alfred Jansen eine Exkursion
zur Trinkwasseraufbereitungsanlage des Kreises Aachen in Roetgen. Die
Teilnehmer bekamen Einblick in die vielfältigen Probleme, die sich heute bei der
Aufbereitung des Trinkwassers stellen.
Am 11. April war Herr Peter Bertram aus Vaals unser Gast mit einem
Lichtbildervortrag über die Mühlen im Grenzraum des Dreiländerecks, wobei
der Vortragende auf die Tecknik und die Geschichte der bekanntesten Mühlen
einging, die sich häufig von Kupfer- oder Getreidemühlen zu Textilbetrieben
weiterentwickelten.
Unter der Leitung unsers Sekretärs, Herrn W. Palm, fand am 11. April eine
Tagesfahrt zum Braunkohlekraftwerk Weisweiler statt, wobei die Teilnehmer
neben den technischen Anlagen auch die Rekultivierungsgebiete besichtigen
konnten.
Eine weitere Exkursion unter der Leitung von Vorstandsmitglied und
Kassierer Fritz Steinbeck führte nach Vianden, wo das beeindruckende
Pumpspeicherwerk besichtigt wurde. Die restaurierte Burg Vianden und das
dort untergebrachte kleine Kriegsmuseum waren ein weiterer Höhepunkt dieser
Tagesfahrt.
Der9. Juni war Wandertag unter der Leitung unseres Vorstandsmitgliedes
Astrid Schmitz. Mit einer zahlreichen Gruppe von Vennfreunden erwanderte sie
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ab Mützenich eine ca 20 km lange Strecke unter dem Motto "der Frühling im
Hohen Venn",
Organisation und Leitung einer Exkursion in die Provinz Namür am 16.
Juni lagen in den Händen von Frau M. Wahl, die die berühmte
Prämonstratenserabtei von Floreffe mit der Klosterkirche und deren
bemerkenswertem Chorgestühl, die Provinzhauptstadt Namür mit der Zitadelle
und Fosses-la- Ville mit der Stiftskirche St. Feuillien ins Besichtigungsprogramm
"gepackt" hatte.
Da das Jahr 1991 auch dasjenige der "Königsfeiern" war, zeigte der
Museumshausmeister, Herr Hub. Severin, von Januar bis Juli eine vor allem
durch wertvolle Postkarten bemerkenswerte Darstellung der belgischen Dy-
nastie von ihren Anfängen bis heute.
Die mehrtägige kulturelle Fahrt in die ehemalige DDR, genauer: nach
Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen (6.-14. Juli), stand ebenfalls unter der
versierten Leitung von Frau Wahl. Die Teilnehmer übernachteten in Naumburg,
von wo aus Leipzig, Dresden, Meissen, Saalfelt und Erfurt besichtigt wurden.
Vor Ort erwartete die Gruppe jeweils ein Stadtführer, so daß die architektonischen
Glanzlichter der einzelnen Städte fachkundig vorgestellt wurden.
Auf Einladung des Monschauer Geschichtsvereines fand am 20. Juli das
schon zur Tradition gewordene internationale Geschichtsvereinstreffen statt.
Der gastgebende Verein legte den Akzent diesmal auf Stadtplanung und
Stadterneuerung undzeigte, welche Möglichkeiten bestehen, Auto und Fußgänger
miteinander leben zu lassen.
Die Ganztagswanderung am 15. September stand wiederum unter der
Leitung von Fr. Astrid Schmitz. Mit der Vennbahn fuhren die Wanderer von
Raeren nach Konzen, von wo aus die Wanderung über Steinleyvenn, Brachkopf,
Steinbach und Wesereinmündung nach Raeren zurückführte.
Der Monat September stand unter dem Zeichen der Feiern zum 25-
jährigen Bestehen der Göhltalvereinigung. Im Rahmen einer akademischen
Feier, die vom Kelmiser "Cercle Musical” und dem Cäcilien-Gesangverein
Eynatten umrahmt wurde, betonten die Redner, darunter der für kulturelle
Angelegenheiten zuständige Minister Bernd Gentges und der Kelmiser
Bürgermeister M. Grosch, das kulturelle Engagement der Göhltalvereinigung,
das sie zu schätzen wissen, und sicherten weitere Unterstützung zu. Die Sieger
eines in den Mittelschulen unseres Gebietes ausgeschriebenen
Aufsatzwettbewerbs wurden proklamiert und die Preisverleihung vorgenommen.
Ein in den Volksschulen von Raeren bis Bleyberg durchgeführter Malwettbewerb
zum Thema "Meine Heimat im Bild" war bei Lehrern und Schülern auf ein
lebhaftes Echo gestoßen. (S. den Bericht dazu in diesem Heft).
Bei Gelegenheit dieser Festveranstaltung konnte auch die Sondernummer
49/50 der Zeitschrift "Im Göhltal" vorgestellt werden.
Die Göhltalvereinigung konnte an diesem Abend auch die Glückwünsche
der ihr freundschaftlich verbundenen Schwestervereinigungen Ostbelgiens sowie
des deutschen und niederländischen Grenzgebietes entgegennehmen.
Nach einem Dia-Vortrag von Dr. Peter Neu am 12. Oktober über die
Eisenindustrie in der Nordeifel folgte vom 12. bis 28, Oktober eine Ausstellung
zum Thema "Mit Wasser und Dampf. Zeitzeugen der frühen Industrialisierung
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im belgisch-deutsch-niederländischen Grenzraum”. Die mit der Unterstützung
der DG organiserte Ausstellung zeigte in zahlreichen großformatigen
hervorragenden Schwarz-weiß-Aufnahmen den vor allem im 19. Jh.
stattgefundenen Wandel vom Handwerks-zum Fabrikbetrieb mit den
Auswirkungen dieser technischen Revolution auf die Landschaft, die
Sozialstruktur der Bevölkerung und das Wohnungswesen. Als Komplement zu
dieser Ausstellung und mit dem gleichen Titel legte der Meyer u. Meyer Verlag,
Aachen, ein reichbebildertes Werk vor, an dessen mehr als 140 Seitenumfassenden
Textteil rund 60 Autoren mitgearbeitet haben.
Die Papierherstellung im Raum Aachen-Maastricht war das Thema
eines Dia-Vortrages von Herrn Jaak Nyssen am 21. November. Die Herstellung
des Papiers, die Lokalisierung der einzelnen bekannten Papiermühlen und vor
* allem das mit kriminalistischer Akribie durchgeführte Studium der Wasserzeichen
verstand der Redner in seinem spannenden und lehrreichen Vortrag darzustellen.
Den Abschluß der Veranstaltungen bildete vom 30. November bis zum *
15. Dezember eine Ausstellung der Malerinnen Patrice Mennicken-Dorr und
Myriam Generet (Kelmis).
.u.\<."n....
Unser Museum wurde nicht nur durch die vielen Veranstaltungen belebt,
sondern auch durch die Zusammenarbeit mit dem Verkehrsamt der Ostkantone,
dessen Kontakte zu flämischen und wallonischen Reiseveranstaltern viele
Tagesbesucher nach Ostbelgien und ins Göhltalmuseum brachten. Am 14.
September konnte Minister K.-H. Lambertz dem Museum einen kurzen Video-
Film über Neutral-Moresnet und die Zinkindustrie übergeben. Auch das
sehenswerte Gemälde Bastine's, 1843 entstanden und den Kelmiser Tagebau
darstellend, hat inzwischen einen definitiven Platz im Museum gefunden.