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Im Göhltal
ZEITSCHRIFT der
VEREINIGUNG
für
Kultur, Heimatkunde und Geschichte
im Göhltal
No 10
DEZEMBER 1971
Vorsitzender : Peter Zimmer, Kelmis, Siedlung P. Kofferschläger, 10.
Sekretärin : Frl. Georgette Xhonneux, Neu-Moresnet, Lütticher Straße, 168
Tel. 59.467
Lektor : Alfred Bertha, Hergenrath, Bahnhofstraße 20 b
Schriftleiter : Jules Aldenhoff, Gemmenich, Craborn 9 A.
Kassierer : Fritz Steinbeck, Kelmis, Kirchstraße, 20
Bankkonto 251.251 der Soci&t& Generale de Banque, Verviers (P.S.K. 695)
Die Beiträge verpflichten nur ihre Verfasser.
Alle Rechte vorbehalten.
Entwurf des Titelblattes : Frau Pauquet - Dorr, Kelmis,
Diese Skizze zeigt den Moresneter Göhlviadukt sowie die Hergenrather
Hammerbrücke in ihrer ursprünglichen Form.
Druck. : Jacques Aldenhoff, Gemmenich.
Inhaltsverzeichnis
Geschichtliches :
Franz Uebags, Kelmis Aus der jüngsten Geschichte des
Altenberger Grubenfeldes 4
Alfred Bertha, Hergenrath Notizen zur Postgeschichte von
Neutral-Moresnet 17
Erinnerungen und Gedichte :
Leo Homburg, Hauset Bajeere 28
Hermann Heutz, Hauset (+) Jugenderinnerungen -
Heimkehr ins «Mutterhaus», erstes
Schuljahr und letztes Kriegsjahr 31
Volksschulzeit zwischen 1919
und 1925 36
Görard Tatas, Gemmenich Et Päed va Alosse Jang 41
Gerard Tatas, Gemmenich Der Champett van ajjen Eckske 42
” Peter Emonts-pohl, Die Wilde Jagd 44
Iserlohn (Raeren)
Gerard Tatas, Gemmenich Der Bohrer 46
Neue Bücher :
Alfred Bertha, Hergenrath Auf dem Büchermarkt 48
Foto-Quiz :
J. Demonthy, Neu-Moresnet Kennst Du Deine Heimat ? 51
4
Aus der jüngsten Geschichte des
Altenberger Grubenfeldes
von Franz Uebags
Grube Eschbroich (1)
Wenn man vor ungefähr vierzig Jahren die Grünstraße,
das heißt die Straße über Schnellenberg nach Welkenraedt ent-
lang ging, lag ganz nahe bei der zweiten Kreuzung, an der rech-
ten Seite, eine weitere Grube der ”Vieille Montagne”, und zwar
”Eschbroich”. Dieser Name ist den meisten Bewohnern der hie-
sigen Gebiete völlig unbekannt. Wird über Eschbroich heute ge- n
sprochen, empfindet man sogleich, daß keiner weiß, worum es
sich handelt. Selbst manche ältere Leute, die es wissen müßten,
geben zu, den Namen nie gehört zu haben. Alle stellen sie die
Frage : ”Was ist das? Wo war das ?” Von Grube Schmalgraf
wissen sie, sind aber erstaunt, wenn sie jetzt erfahren, daß sich
in ihrer Nähe noch ein Erzbergwerk befand. Der stolprige und
schlecht unterhaltene Weg, der da hinaufführte, wurde wenig
begangen und dürfte auch ein Grund sein, weshalb Eschbroich
nicht so allgemein bekannt gewesen ist. Man sah weder hohe
Bauten noch Schornsteine, die eventuell darauf hätten hinwei-
sen können, daß man in der Nähe einer Grube war. Wuchsen die
Hecken hoch hinauf, lag sie ganz versteckt und manch einer ist
daran vorbeigegangen, ohne sie zu bemerken. Jeder, der durch
Zufall das kleine Unternehmen ausfindig machte, schüttelte den
Kopf und sprach für sich : ”Jösses, wat e kle Küllsche !” (Herr-
gott, was ein kleines Grübchen). Wie dem auch sei, hier trifft
das altbekannte Sprichwort ”Schein trügt” wirklich zu, denn
war auch das Werk klein, so ist seine Geschichte umso größer
und interessanter.
Wo lag die Grube Eschbroich ?
Dieses Werk, eigentlich das bescheidenste und primitivste
der Gesellschaft des Altenberges, lag auf dem Gebiet der Ge-
meinde Lontzen, 500 m südwestlich der Schwestergrube Schmal-
graf, in der Wiese des Bauerngutes Henri Corman-Radermacher,
heute Richard Bosch-Corman. Über die Halde von Schmalgraf
führte ein Pfad, der durch die Wiesen des genannten Gutes lief,
(1) Im Plattdeutschen ”Eischbröck”
5
um in einigen Minuten das Werk zu erreichen. Der Hauptein-
gang befand sich rechterhand, etwa 100 Meter hinter der Kreu-
zung der Wege Neu-Moresnet-Welkenraedt und Montzen-Lont-
zen. Es war so, daß sich jeder, der dorthin mußte, seinen eigenen
Weg bahnte, um so schnell wie möglich am Arbeitsplatz zu sein.
Man kletterte über Hecken und Stacheldraht, um so einige Me-
ter zu gewinnen. Wenn es keiner sah, war alles erlaubt.
Die Inbetriebnahme
Ins Leben gerufen wurde Eschbroich im Jahre 1882, zur
Zeit als die Leitung der Abteilung Moresnet Direktor Oskar
Bilharz anvertraut war. Nun öffnete die Vieille Montagne schon
die dritte Grube innerhalb 15 Jahren, da Schmalgraf 1867 und
Fossey 1878 entstanden waren. Dadurch gab es immer mehr
Arbeitsplätze in unserer Gegend. Dem Bergmann, der damals
jenseits der Grenzen in den Kohlengruben sein Brot verdienen
mußte, war nun Gelegenheit geboten, dasselbe unweit seines
Heimes zu tun. (1)
Die Betriebsleitung
Zu Beginn hat die kleine Zeche keinen eigenen Betriebs-
führer gekannt. Steiger Blissenbach von der Nachbargrube
Schmalgraf oblag die Aufgabe, dann und wann hier in die Tiefe
zu steigen, beziehungsweise eine Inspektion vorzunehmen, ob die
Arbeiten fach- und sachgemäß verliefen. Dann besprach er die
Lage mit den beiden Oberhauern und erteilte ihnen die nötigen
Anweisungen. Wenn sie seiner Hilfe bedurften, stand er stets
gern mit Rat und Tat zur Seite. Natürlich wurde das auf die
Dauer für Herrn Blissenbach zuviel. Desto größer die Werke,
desto größer wurden auch die Verantwortungen. Das sah die
Direktion ein. Sie beschloß, dieses Amt dem Leiter der Grube
Fossey, Herrn Hubert Heuschen, zusätzlich zu übertragen. Da-
mit stellte man Herrn Heuschen auf eine harte Probe, zumal
die beiden Werke ziemlich weit voneinander gelegen waren. Der
neue Chef, ein Mann, dem an Verantwortung einiges gelegen
war, tat gewissenhaft seine Pflicht und Schuldigkeit, bis zur
Schließung der Grube Fossey im Jahre 1923. Nun galt sein
(1) Mein Großvater (geb. 1854) hat mir des Öfteren erzählt, daß die
Männer von hier nach Höngen in die Gruben arbeiten gingen. Sie
gingen von Kelmis bis Aachen - Nordbahnhof zu Fuß und nahmen
dort den Zug.
6
voller Einsatz der Grube Eschbroich allein. Lange Jahre blieben
ihm die Kelmiser Oberhauer, die Herren Mathieu Lavalle und
Wilhelm Schmetz, eine gute Stütze. 1926 trat er in den Ruhe-
stand und verstarb 1928. Ihm folgte im Jahre 1927 der von
Schmalgraf kommende luxemburgische Steiger Kalbreier. Seine
Amtszeit währte nicht lange, denn vier Jahre später, im Jahre
1931, konnte auch Eschbroich der Schließung nicht entgehen.
Das Grubengelände
Der Mini-Grubenkomplex, so würde man heutzutage sagen,
lag auf einem niedrigen, lehmigen Hügel, der aus extrahiertem
Boden entstand. Darauf stand ein einziger, etwas längerer Fach- :
werkbau, der wie eine Halle aussah ; vom Dach ragte ein kleines
baufälliges Türmchen hoch. Darin war eine Glocke verborgen ;
sie hatte im Laufe der Zeit den Namen ”Betglocke” erhalten,
weil sie bei Schichtbeginn die Bergleute zum gemeinschaftlichen
Gebet rief. Etwa vier bis fünf Meter vor dem Grubengebäude
sank ein enger Schacht in die Tiefe. Darüber stand der armse-
lige, aus Holz gezimmerte, zwei bis drei Meter hohe Förder-
turm, in dem nur ein Förderkorb an einem Drahtseil hing. Am
Bau des Korbes konnte man sofort feststellen, daß er für die
Förderung von Personen nicht geeignet war. In der obersten
Ecke des Geländes lag das dauernd benötigte Grubenholz.
Weil das Ganze mitten im Weideland lag und nur mit Pfählen
und Stacheldraht abgezäunt war, kam es des öfteren vor, daß
das grasende Vieh den Zaun durchbrach. Die Tiere suchten
hier Schutz gegen Regen oder Sonne. Der Übertagearbeiter trieb
sie alsdann in die Wiesen zurück, reparierte die Umzäunung
ohne viel Aufhebens und fand sich damit ab, daß dieses alles
mit zum Werk gehörte. Weder Maschinen noch Motorenlärm
störte die bemerkenswerte Stille. Bei Schichtwechsel kam ein
bißchen Leben auf den Platz, aber nur solange, bis alle entweder
nach Hause gegangen oder in die Tiefe gestiegen waren. Be-
trachtete man Eschbroich vom Wege aus, hatte man eher den
Eindruck, bei einer Kapelle als bei einer Grube zu sein. Wer
sie gekannt hat und sich ihrer noch erinnert, muß zugeben,
daß das Werk sich in der Bauart gänzlich von den andern un-
terschied und als Ansicht ein idyllisches Bild bot.
7
Was tat sich über Tage ?
Nur ein einziger Tagelöhner arbeitete oberirdisch, ganz mit
Gemach. Er mußte alles können und selbstverständlich auch
alles tun, sozusagen das Mädchen für alles spielen. Es war seine
Sache, alles auf Lager zu haben, was der Bergmann für die Aus-
führung seiner Arbeiten brauchte. Das Steigerbüro, den Wasch-
und Ankleideraum, das Magazin, den Maschinenraum und die
Lampenbude mußte er ebenfalls sauber halten. Ferner reinigte
und füllte er die Karbidlampen. Deswegen gab es öfters heftige
Auseinandersetzungen. Die Bergleute, die ein Fahrrad besaßen,
benötigten Karbid für dessen Lampe und versuchten auf raf-
finierte Art und Weise sich dasselbe zu besorgen. Die Gruben-
lampe wurde nach Empfang entleert und der Tagelöhner be-
zichtigt, dieselbe nicht neu gefüllt zu haben. Dieser verteidigte
sich zu Recht, so daß ein Wortwechsel nicht ausblieb. Im Ma-
gazin, bei der Ausgabe von Nägeln, Schaufeln, Schrauben, u.s.w.
konnte er nicht wachsam genug sein. Nur wer im Besitze eines
vom Steiger ausgestellten Bestellscheines (”ene Bong”) war,
konnte das Erwünschte erhalten. Wer was für sich brauchte, bes-
ser gesagt, klauen wollte, wandte gleichwelchen Trick an, an das
Gewünschte heranzukommen, ohne auf die Verantwortung des
Lagerhalters Rücksicht zu nehmen. Wie oft versetzten ihn seine
Kollegen in die heikelsten Situationen, wenn bei Inventur seine
Lagerbestände ein Manko aufwiesen. Das Gros der Belegschaft
nahm mit nach Hause, was nicht niet- und nagelfest war. ”Die
Gesellschaft hat’s ja doch”, hieß die Parole, und alle hielten fest
an dem Ausdruck : ”Der Herr ist mit dir und du gehst mit mir.”
Jeder, der nach Feierabend den Heimweg antrat, wollte bepackt
sein ; man machte sich daraus eine Gewohnheit, die tatsächlich
bei der ganzen Firma zur Tradition wurde. Direktor Timmer-
hans soll sogar zu einem Bergmann, der wegen einer Lohner-
höhung bei ihm vorsprach, gesagt haben, daß er auch zusätzlich
alle Tage eine Kleinigkeit mit nach Hause nehme. Daraufhin
habe der Arbeiter seinen Vorgesetzten davon überzeugen wollen,
daß er sowas nicht täte. Ruhig und lächelnd habe dieser ihm
alsdann erwidert : ”Dann haben wir wenigstens einen bei der
Gesellschaft, der nicht stiehlt.”
Dem Übertagearbeiter oblag es ebenfalls, das von den Hau-
ern bestellte Grubenholz nach Maß zu sägen. Mit Eimern
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schleppte er vor Schichtende Wasser heran, um die Waschbek-
ken zu füllen. Die stumpfen Bohrer brachte er täglich zum
Schleifen nach Schmalgraf und holte sie wieder zurück. Auch
war es seine Aufgabe, die kleine Fördermaschine zu bedienen.
Angetrieben wurde sie mit Preßluft, die unterirdisch von Schmal-
graf nach hier geleitet wurde. Alles, was der Bergmann in der
finsteren Erde an Nachschub haben mußte, ließ er durch den
kleinen Schacht hinunter,
Nachdem der Vorgesetzte, Steiger oder Oberhauer, seine
Runde in der Tiefe beendet und zurück an die Oberfläche ge-
kommen war, erledigte er seine schriftlichen Arbeiten. Die Direk-
tion verlangte täglich einen geschriebenen Bericht zur Lage, um &
dauernd im Bilde über die Geschehnisse des Tages zu sein. Die-
ser Bericht wurde in ein Tagebuch geschrieben, in eine Blech-
kassette gelegt, die mit einem Vorhängeschloß verschlossen war,
und von einem Überbringer im Büro des Direktors oder des
Grubeningenieurs Bleyfusz in Kelmis abgelegt. Nach Überprü-
fung desselben schrieben diese Herren dann ihr Gutachten, neue
Anordnungen und Befehle an die Grubenleitung hinein. Am
nächsten Morgen nahm derselbe Mann, der es brachte, es wie-
der mit zur Grube. Wäre auf dem Werk ein Telefon gewesen,
hätte diese Schreiberei den Steiger nicht soviel Arbeit und
Zeit gekostet. Der Grubeningenieur traf zwei- bis dreimal im
Jahre auf der Zeche ein, um mit den Verantwortlichen eine ge-
meinsame Inspektion zu machen. Das Auszahlen der Löhne er-
folgte wie überall an jedem 6. und 20. des Monats,
Die Arbeitseinteilung
Die Arbeitszeit verteilte sich in zwei Schichten, Früh- und
Nachmittagsschicht. Von Nachtschicht ist nie die Rede gewesen.
Die durchschnittlich 40-köpfige Belegschaft begann morgens um
6 und nachmittags um 14 Uhr. Zum Feierabend läutete es um
14 und 22 Uhr. Bei Schichtbeginn erklang das Geläut der Bet-
glocke durch die Gegend und mahnte zum Gebet. Die Kumpels
versammelten sich im Umkleideraum, andächtig ihr Gebet zu
sprechen. Vor der ersten Schicht erhielt jeder Neuling eine Ab-
schrift desselben und man bat ihn, es auswendig zu lernen. Nah-
men jüngere Kumpels aus Lauheit, das gab es auch schon in
den zwanziger Jahren, nicht am Gebet teil, so grämten sich die
9
Ältern und unternahmen alles Erdenkliche, die Abtrünnigen wie-
der für das Gebet zurückzugewinnen. Solche, die von Beten
überhaupt nichts hielten, forderte man auf, den Raum zu ver-
lassen oder sich äußerst ruhig zu verhalten. Diese Sitte blieb
bis Toresschluß bestehen. Danach gingen alle, die keinen festen
Posten hatten, ins Steigerbüro, wo der Steiger oder der Ober-
hauer die Arbeitsplätze verteilte, Anweisungen gab und die
Bestellscheine für Material aushändigte. Die bekam natürlich der
Mann über Tage, der das Bestellte mit der zischenden För-
dermaschine nach unten besorgte. Erzählt wird, daß ein Ma-
schinist, der mit der Förderung nicht ganz vertraut war, die
Maschine nicht mehr zum Stillstand brachte und den ganzen
Holzturm von der Stelle riß. Derartige Überraschungen, woran
meistens der Schnaps schuld war, kamen nicht nur einmal vor.
Das bezeugt, wie gutherzig und großzügig die ”Vieille Montagne”
den Arbeitern gegenüber gewesen ist, denn wo über solche und
noch viele andere Sachen so einfach und gelassen hinweggeschaut
wurde, konnte es für die Arbeiter nicht so schlecht sein, wie
immer wieder behauptet wurde.
Die verschiedenen Schächte
Außer dem schon erwähnten Förderschacht besaß Esch-
broich noch zwei weitere, die der Bergmann Kletterschächte
nannte. Einer davon, Schacht VII, der meistgebrauchte, führte
50 Meter vom Grubengelände in die Erde. Der zweite lag fünf
Minuten weiter als das Werk, am Ort ”Stinkert”, und diente
hauptsächlich als Luftschacht. Beide hatte man mit einer Bret-
terbude abgeschirmt, die an Sonn- und Feiertagen vorschrifts-
mäßig verschlossen blieb.
Teufe und Sohlen
Im Jahre 1928 hatte Eschbroich eine Teufe von 172 Me-
tern erreicht. In der restlichen Zeit bis zur Stillegung hatte die
Leitung davon abgesehen, tiefer zu sinken. Von 172 bis 157 Me-
ter war alles Erz abgebaut. Die Sohlen lagen auf 74, 100 und,
132 Meter Tiefe,
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Das Klettern
Im Unterschied zu den anderen Gruben kannten die Berg-
leute von Eschbroich keine Seilfahrt. Das Absteigen in die Grube
geschah durch die Kletterschächte. Dorthin gingen die Hauer,
Lehrhauer und Hilfsarbeiter (”Manöver”) in kleinen Gruppen.
Sie wählten denjenigen, der am nächsten bei ihrem Arbeitsre-
vier mündete. Vor dem Abstieg zündeten sie ihre Lampen an,
hingen das unentbehrliche Licht an ihren Hosenriemen, um zum
Klettern beide Hände frei zu haben. Um das Brennen der Klei-
der und das Auslöschen der Flamme zu verhindern, ließ man
sich einfallen, kleine Blechschirme zu fabrizieren, die mittels der
Lampendruckschraube über dem Brenner, das heißt über der .
Flamme befestigt wurden. Etwas mußte erfunden werden, denn
das Versagen der Beleuchtung ist das Unangenehmste, was dem
Untertagearbeiter passieren kann. Wenn die Kletterpartie begann,
stieg einer nach dem andern in die Fahrten. So hießen die Lei-
tern, die schachtabwärts an den soliden Jochen (Vierkanthölzern)
mit geschmiedeten Eisenhaken befestigt waren. (1) Diese Fahr-
ten haben 3 Meter gemessen. Nach vier Leitern, die mit Laschen
aneinandergeschraubt waren und dann aussahen, als sei es nur
eine, kam ein Podest. Hier mußte zur nächsten umgestiegen wer-
den. Das wiederholte sich so oft, bis man zu der Galerie kam,
wo das Revier, der Arbeitsplatz lag. Das Absteigen konnte nur
im gleichen Schritt und Tritt geschehen, anders gab’s Schimpf
und Fluchworte, sogar obendrein noch blaue Finger. Bei An-
fängern schlugen aus Angst die Herzen unwillkürlich etwas
schneller. Allerhand schlimme Vorstellungen gingen einem durch
den Kopf : die Fahrten könnten brechen oder losgehen, es könn-
te einer die Lampe fallen lassen oder auch das Gezähe, das
meist in die Rocktaschen gesteckt wurde, im Schacht könnten
sich Steine absetzen, und ähnliches. Ratsam war, nie nach oben
zu schauen, da die Gefahr bestand, daß man den Dreck, der sich
von den Nagelschuhen der Männer löste, in die Augen bekam.
Darum rieten die Alten immer : ”Zähle die Sprossen der Leiter,
dann kommst du am flottsten weiter”. Es gab welche, denen die
Übung nicht gut bekam. Diese gingen bis zur Grube Schmalgraf
und fuhren hier ein, da die Verbindungsbahn es ihnen ermöglich-
(1) Diese Leitern waren aus Holz. In den anderen Gruben wurden die
Holzleitern etwa um 1930 durch Eisenleitern ersetzt,
11
te, an ihren Posten zu gelangen. Das Aufklettern ging bequemer,
jedoch mühsamer, denn nach getaner Arbeit mußte die letzte
Reserve in Anspruch genommen werden, um endlich wieder das
Tageslicht froh und heil zu erblicken. Mit dem Bergmannsgruß
”Glück auf” war ja auch gemeint : ”Komme glücklich wieder
nach oben”.
In der Grube
Unterirdisch zeigte sich, wie in allen Bergwerken, dasselbe
Bild. Grube ist Grube, meinten die Kumpels, und wenn man in
dem Loch drin sitzt, heißt es dafür sorgen, daß man wieder mit
heiler Haut herauskommt. Es lag ein gewisser Unterschied in
der Teufe, in der Ausdehnung, in den Einrichtungen und schließ-
lich in der Quantität und Qualität des Rohmaterials, Eschbroich
soll reichhaltige und kostbare Vorkommnisse aufgewiesen haben.
Heute noch hört man sagen, wie herrlich es gewesen sei, wenn
der Hauer vor Ort mit der Lampe das Gebirge abgeleuchtet
habe. Nach allen Seiten hin habe es dann geglitzert, als sei das
ganze Gestein nichts als Silber gewesen.
Der Bergmann war einzig und allein auf seine Karbidlampe
angewiesen, weil das elektrische Licht fehlte und nie angelegt
worden ist. Die Besorgnisse um den Grubenfeind Nr. 1, das
Wasser, blieben hier der Gesellschaft erspart. Mithin waren kost-
spielige Pumpen nicht erforderlich (1). Nur einige Reviere wie-
sen Nässe auf. Da, wo das Wasser minimal durch das Gestein
rieselte, mußten Hauer und Schlepper die Arbeit danach ein-
richten. Etwaige Schwierigkeiten oder Komplikationen verursach-
te das flüssige Element keinesfalls.
Wohin man schaute, drohten mächtige rotbraune Felsbrok-
ken auf einen niederzufallen. Das seltsame, ungewisse Gefühl,
das Ganze könnte einstürzen, plagte einen jeden, der das erste
Mal die Grube bestieg. Ohne es zu wollen, guckte er stets nach
oben, um festzustellen, ob sich nirgends was lockerte. Manche
wurden das unsichere Gefühl nicht los und gaben sogar die
(1) Es gab nur geringe Wasserzuflüsse. Diese zu beheben, genügte an-
scheinend eine leichtere, nur in der feuchten Jahreszeit funktionie-
rende Pumpe : sie war erst im Schachtsumpf der 73-Meter-Sohle
des Jahres 1893 angebracht (Bericht von Direktor Ch. Timmerhans
1898), später auf der 100-Meter-Sohle (Beschreibung des Bergre-
viers Düren, Bonn, Vlg. Marcus und Weber 1902, S. 149).
32
Arbeit auf. Stollen und Bahnen waren durchgehend mit soliden
Rundhölzern gestützt. Das Holz, das längere Zeit unter Tage
stand, schimmelte und verbreitete einen üblen, modrigen Geruch.
Betonierte Strecken oder Kammern hatte Eschbroich nicht. Auf
132, in einem fachmännisch verbauten Raum, stand eine durch
Preßluft angetriebene Seilwinde (”Kapistong” genannt, vom frz.
”cabestan’””). Diese diente zum Sinken des Schachtes. Mit dem-
selben sank und hob der Maschinist einen eisernen Kübel nach
und von Endstation 172. Was der Mann im Schacht an Utensilien
brauchte, ließ man in diesem Behälter zu ihm hinunter. Auch
er selbst mußte sich, wie riskant es für ihn war, mit dieser Ein-
richtung zu seinem Arbeitsplatz befördern lassen. Die Berge (1) ;
zog der Maschinist hoch, dann wurde sie verladen und nach
Schmalgraf gebracht. Wegen der geringen Arbeiterzahl herrschte
in der Grube eine auffallende Stille.
Wie wurde unter Tage gearbeitet ?
Der Arbeitsvorgang in dem primitiven Werk konnte nicht
mit dem der Schwestergruben und viel weniger noch mit dem
einer Kohlengrube verglichen werden. Dafür fehlte es an fort-
schrittlichen Anschaffungen, da solche bei der Entstehung nicht
vorgesehen wurden. Es handelte sich tatsächlich um ein
Unternehmen nach altem System, wo der Bergmann sich an die
traditionelle Methode klammerte. Er konnte sich mit dem Neu-
zeitlichen nicht vertraut machen. Der Hauer vor Ort, im Quer-
schlag oder in der Strecke arbeitete nach dem Schema, das ihm
von seinen Vorgängern beigebracht und als das richtige em-
pfohlen worden war. Der ”Manöver” und manchmal sogar der
Lehrhauer brachten das gewonnene Erz von vor Ort per Schub-
karre bis zur nächstgelegenen Sturzrolle, da die gewonnene Blen-
de der gesamten Grube für den Abtransport nach Schmalgraf
bis zur Sohle 132 gekippt werden mußte. Wie schon erwähnt,
besaß Eschbroich keinen vorschriftsmäßigen Förderschacht, des-
halb diese Umleitung, den Stoff zum Bestimmungsort ”Wäsche”
zu schaffen. Das Fahren mit den Schubkarren in den Strecken
hatte seine Eigenarten. Sie waren vollbeladen, schwer wie Blei,
wie man sich ausdrückte. Durch die Last sank das gußeiserne
Speichenkarrenrad in den schlammigen Gang ein und es kostete
(2) Berge : taubes Gestein, ohne nutzbare Metalle.
13
große Anstrengungen, von der Stelle zu kommen. Dem abzuhel-
fen, wurde eine Bretterbahn angelegt. Bretter von 20-30 cm
Breite reihte man aneinander und schuf so bequemere Schiebe-
bahnen, die fortan keine Probleme mehr stellten. Bis zu den
entferntesten Revieren führte eine Schienenbahn, worüber die
Fahrjungen in Kippwagen kleineren Formates die teuere Last
an die Ablagerungsstellen rollten. Diese Wagen, drei an der
Zahl und von ungewohntem Modell, vermehrten sich all die
Jahre hindurch nicht. Sie waren speziell für Eschbroich ange-
fertigt worden. Mit größter Wahrscheinlichkeit blieben sie bei
Einstellung des Werkes im Schoße der Erde. Von der 100-Meter-
Sohle nach 132 sanken drei Sturzrollen, wovon in den letzten
Jahren nur zwei benutzt wurden. Nach Norden lagen die beiden
Blenderollen und nach Süden die ”Prattrolle” (1). An letzterer
luden die Fahrjungen alle ungern. Das Zeug, das hier verladen
werden mußte, wollte nicht auf die Schaufel und nicht von der
Schaufel. Es war eine rotbraune, fettige Tonart, die der Berg-
mann Letten nannte. Mit dieser Masse hatte selbst der Hauer
vor Ort oder in den Strecken eine harte Nuß zu knacken. Darin
zu arbeiten, bereitete allerlei Schwierigkeiten, die zur Folge hat-
ten, daß die Arbeit nur langsam und mühevoll vorwärtsging. Wie
zu ersehen, traten in jeder Grube andere unangenehme Vorkomm-
nisse auf. Das Bohren geschah nach alter Manier. Erst längere
Zeit nach den anderen Bergwerken forderte die Grubenleitung
die Preßluft-Bohrhämmer an. Bis dahin wurde mit dem ”Queng”
(vom frz. ”coin” = Keil) gebohrt. Dieses Bohrgezähe, eine Stahl-
stange, die an einem Ende in einer scharf geschliffenen Krone
endete, wurde durch Hammerschläge in die Felsmasse getrie-
ben. Einer hielt das Werkzeug und der andere schwenkte den
dicken Hammer. Am oberen Ende des Bohrers war ein Quer-
loch. Dadurch steckten die Bergleute ein Stück Rundeisen, um
bei jedem Hammerschlag der Stange eine viertel oder eine halbe
Drehung zu geben und sie bei gewünschter Bohrtiefe besser
herausreißen zu können. Traf so ein Schlag ins Leere, gab es
Verwundungen an Hand oder Arm, und derbe Fluchworte hall-
ten durch das Revier. Dieses Bohrverfahren hatte den Vorteil,
keinen gesundheitsschädlichen Steinstaub aufzuwirbeln, und so
(1) ”Pratt” = Schlammerde. Diese Schlammerde war eine rote Ton-
erde, die in der Gegend "rue Bonnes” genannt wird.
14
gefährdete es die Atmungsorgane des Menschen nicht. Zum
Sprengen benutzte man auch das Dynamit. Bei der ”Vieille Mon-
tagne” konnte jeder Hauer Sprengstoff abholen, die Schüsse laden
und selber zur Explosion bringen. Das geschah mittels einer
Zündschnur, die bei mehreren Ladungen verschieden lang ange-
legt wurde, um die Detonationen genau zählen zu können. Es
passierte, daß einer, manchmal auch mehrere Schüsse nicht los-
gingen und der Hauer gewarnt war. Sobald alle Schnüre, die mit
der Karbidlampe angezündet wurden, brannten, erklang vor Ort
immer der Ruf : ”Es brennt!” Alle, die sich in unmittelbarer
Nähe befanden, suchten das Weite und gingen in Deckung, bis
der letzte Schuß gefallen war. Erst wenn Rauch und Staub sich )
verzogen hatten und die Luft wieder rein geworden war, wag-
ten sich die Männer zurück zum verwüsteten Posten,
Zur Brotzeit, das heißt zur Kaffeepause, kamen alle Mann
an verschiedenen Stellen zusammen, ihre Mahlzeit einzunehmen.
Jeder hatte seinen Stammplatz und eine selbstangefertigte Sitz-
gelegenheit. Die bestand aus einer aus Rundhölzern zusammen-
genagelten Bank. Dahinter kam ein Brett in schräger Stellung,
dem Rücken einen Halt zu bieten. Alles das war gepolstert mit
alten Kleidungsstücken und Säcken. Kurz, es ging nichts über
die Gemütlichkeit. Vor dem Essen betete jeder für sich das
Tischgebet. Nach der Stärkung griff man zur Pfeife, die mit der
Flamme: der Karbidlampe angesteckt und deshalb nach einer
Seite hin bis zur Hälfte weggebrannt war. Die ganz Frommen
zogen es vor, sich in eine stille Ecke zurückzuziehen, um unge-
stört den Rosenkranz zu beten. Andere hielten in der Pause (und
darüber hinaus) mehr von einem Nickerchen. Wie lange die
Pause dauerte, hing, wenn der Oberhauer nicht in Sicht war, von
der Laune der Leute ab. Während der zweiten Schichthälfte
wurde das Mutterholz zurechtgemacht. Dafür kam nur Holz ohne
Astknoten in Frage, das auf 20 cm Länge, das heißt Ofenlänge,
gesägt wurde. In der Brottasche, die absichtlich groß von Mo-
dell war, brachte man es nach Hause. Ohne diese Tasche am
Rücken fühlte sich der von Schicht kommende Bergmann nicht
wohl. Man teilte die Arbeit nach der Pause so ein, daß der
Hauerposten bei Schichtwechsel für die Ablösung ein sauberes
Bild bot. Für den Feierabend verließ sich der Kumpel auf seine
dicke Taschenuhr, -Marke ”Roßkopp” - die er gewöhnlich an
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einer Kordel oder einem Schuhriemen in seiner Westentasche trug.
Wer die Feierabendzeit zuerst feststellte, schrie nach allen Rich-
tungen ”Feierabend”, Das ließ sich keiner zweimal sagen. Sofort
ging es im Gänsemarsch dem Schacht zu. Das Aufsteigen be-
gann und jeder freute sich, recht bald wieder an der Oberfläche
zu sein. Der Gruß ”Glück auf” hatte sich wunschgemäß ver-
wirklicht.
Die Arbeitskleidung
Allgemein wird der Bergmann der Kohlengrube im blauen
Arbeitsanzug, mit schwarzem Lederhut und rotem Halstuch dar-
gestellt, so wie es heute noch besteht. Das war auf Eschbroich
und auf all den hiesigen Gruben nicht der Fall. Kleidungsstücke,
die abgetragen, verschlissen oder außer Mode waren, wurden
mit in die Grube genommen. Als Kopfbedeckung galten alte
Hüte und Mützen, und man sah manchmal die komischsten Fi-
guren, Betriebsführer und Steiger konnte man an den gelben
Anzügen und Mützen erkennen, die ihnen von der Gesellschaft
zur Verfügung gestellt und gewaschen wurden. Auch erkannte
man sie an der kupfernen Lampe. In den Zechen, wo das Was-
ser das Sinken der Schächte erschwerte, schützten sich die Hauer
mit Gummianzügen. Wenn man darin arbeiten muß, so sagten
sie, hört die Gemütlichkeit auf, denn in diesem Zustande arbeiten
ist nicht menschenwürdig ; das Wasser und der Schweiß auf der
Haut machen einem das Leben sauer.
Toresschluß auf Eschbroich
Weil längere Zeit schon immer wieder die Gerüchte von
der Schließung der Grube Eschbroich umliefen, hatten ganz be-
sonders die älteren Arbeiter, die hier in der Überzahl waren,
weder Rast noch Ruhe. Sie konnten es einfach nicht fassen, daß
der Tag kommen könnte, wo ”ihre” Grube, wie sie immer sagten,
sich der Schließung unterwerfen müßte. Einer versuchte, dem an-
deren den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, bis doch eines
Tages, als keiner mehr davon redete, die Hiobsbotschaft ans
Anschlagebrett gehängt wurde. Diese unerwartete Neuigkeit soll
wie eine betäubende Pille auf die Belegschaftsmitglieder gewirkt
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haben. Entmutigt stiegen die Betroffenen in die Tiefe. Witz und
Humor blieben mit einem Male aus. Es herrschte in der Tat nur
mehr Trauerstimmung, bis der Tag des Stillstandes, der 1. Ok-
tober 1931, da war. Den Jüngsten, denen gekündigt wurde, gab
man die Entlassungspapiere, wogegen man die Restlichen zu
den noch bestehenden Betrieben schickte. So stellte Eschbroich
als dritte Grube die Arbeit ein.
Mit Überzeugung kann gesagt werden, daß bei der ”Vieille
Montagne” zu arbeiten nicht so schlecht war, wie zur damaligen
Zeit vielfach behauptet wurde. Wäre die Arbeit wirklich so hart
gewesen, hätten nicht so viele nach Feierabend eine Nebenbe-
schäftigung ausüben können, denn fast alle verdienten, gleich .
wie und wo, etwas nebenbei. Einige erzählen heute noch, daß
sie mehr nach Schicht arbeiteten, als in der Grube. Sie sagen
sogar, sie hätten sich unter Tage sehr oft ein Schläfchen ge-
gönnt. Auch ist die Direktion in den langen Jahren sehr groß-
zügig gewesen. Sie stellte Leute ein, deren sich mit Bestimmt-
heit keine andere Firma erbarmt hätte. Schade, daß der Unter-
gang eines solchen Unternehmens, das mit dazu beigetragen
hatte, aus unserer Gegend das zu machen, was sie heute noch
ist, nicht vermieden werden konnte.
17
Notizen zur Postgeschichte von Neutral-Moresnet
von Alfred Bertha
”Es steht uns ein interessanter Prozeß in Aussicht, Es hat-
ten einige Spekulanten Briefmarken von 1, 2, 3, 4, 5, 10, 20
und sogar 50 Pf für das neutrale Gebiet herstellen lassen und
dieselben sodann für eigene Rechnung emittiert. Einer dieser
Markendebiteure ist nunmehr auf Betreiben des belgischen Mi-
nisteriums vor das Gericht gezogen worden und man ist auf den
Ausgang der Sache sehr gespannt. Von preußischer Seite scheint
man den einträglichen Markenhandel der Betreffenden ignoriert
zu haben.”
Wenn Sie, lieber Leser, versuchen sollten, einige dieser
Marken am Postschalter zu erwerben, so wird man Sie wahr-
scheinlich in ungläubigem Staunen ansehen und Sie vielleicht
darauf hinweisen, daß es mit dem 1. April noch gute Weile hat.
Nun, es handelt sich nicht um einen verfrühten Aprilscherz.
Die oben wiedergegebene Meldung stand am 18. Januar 1886
im ”Freien Wort”, einer in Dolhain bei Verviers zweimal wö-
chentlich erscheinenden deutschsprachigen (!) Zeitung.
Wir wollen diese Kurzmeldung zum Anlaß nehmen, die
Postgeschichte von Neutral-Moresnet näher zu untersuchen. Was
war Kelmis von 1816 bis 1919 ? In jeder Hinsicht ein Kuriosum,
kann man wohl antworten. Von den einen Republik, von den
anderen Kondominium getauft, neutral, doch von Preußen und
den Niederlanden, ab 1831 von Preußen und Belgien gemein-
sam verwaltet, juristisch ein Zwittergebilde, staatsrechtlich ein
Ausnahmefall : das war Kelmis vor hundert Jahren. Manche
haben behauptet, es sei ein Refugium für allerhand lichtscheue
Elemente gewesen. Diese Behauptung ist jedoch historisch
falsch.
Aber kommen wir auf die eingangs zitierte Meldung zu-
rück. Was hatte es mit den Freimarken auf sich ? Neutral-Mo-
resnet, das heutige Kelmis also, besaß keine eigene Postverwal-
tung. Zuständig für die Postgeschäfte waren Belgien und Preu-
18
Ben bzw. das Deutsche Reich (ab 1871). Als gültige Postwert-
zeichen galten folglich sowohl die preußischen wie die belgi-
schen Marken. Frankiert wurde mit belgischen Postwertzeichen,
wenn der Adressat in Belgien wohnte, und mit deutschen, wenn
der Brief an einen in Deutschland wohnenden Empfänger ge-
richtet war.
Die belgische Postverwaltung hat die ersten Postwertzeichen
am 1. Juli 1849 in Umlauf gebracht. Nun besaß aber nicht jeder
Ort ein Postamt. Als erste Postablagestelle in unserem Gebiet
wird Henri-Chapelle genannt. Vom 1. 10. 1815 bis zum 1. 12.
1850 wurde das Postwesen im Bezirk Montzen, Moresnet, Gem- .
menich, Bleyberg und Neutral-Moresnet von Henri-Chapelle aus
geleitet. Solange die Postkutsche von Lüttich nach Aachen fuhr,
war die Lage dieser Ortschaft günstig. Das änderte sich jedoch
nach dem Bau der Eisenbahn. So wurde denn am 1. 12. 1850
das Postamt nach Herbesthal verlegt. Es befand sich im Hotel
Herren (1), wo auch das preußische Postbüro war, und Neutral-
Moresnet fiel unter seine Zuständigkeit. Da die zu befördernde
Postmenge jedoch ständig zunahm, sah man sich gezwungen, in
immer mehr Ortschaften Postämter einzurichten. Von 1862 an
besteht eine Postablagestelle in Montzen; 1873 wird sie offi-
ziell von der Postverwaltung zum Postamt bestimmt. Die meisten
Postgeschäfte des neutralen Gebietes wurden nun in Montzen
getätigt. 1905 wurde dann die Postablagestelle von Moresnet
ebenfalls offiziell zum Postamt erhoben und für Neutral-Mores-
net zuständig.
Preußischerseits bestand, wie schon kurz berichtet, ein Büro
für Postangelegenheiten im Hotel Herren in Herbesthal. Als Er-
Ööffnungsdatum wird der 1. 9. 1849 genannt. Nach Schließung des
Amtes am 28. 2. 1850 (aus uns bisher unbekannten Gründen)
wurde es am 1. 4. 1852 wiedereröffnet. Dieses Herbesthaler Büro
war ebenfalls für Neutral-Moresnet zuständig. Es ist nicht aus-
(1) Das Hotel Herren wurde durch die Familie Thiriard de Mützhagen
gebaut, der ebenfalls das ”Weiße Haus” gehörte, nachdem dieses
durch den ‘Bau der Eisenbahn als Raststätte an Bedeutung verloren
hatte,
19
geschlossen, daß in Preußisch-Moresnet eine Abgabestelle für
die preußische Post bestand, eine Art Postfiliale also, die es den
Bewohnern ersparte, sich nach Herbesthal zu bemühen.
Am 6. 8. 1871 stellt die Bergwerkgesellschaft ”Vieille Mon-
tagne” den Antrag, die deutsche Post möge doch speziell für
das neutrale Gebiet ein Postamt eröffnen. Unterstützt wurde
der Antrag durch den Gemeinderat. Wahrscheinlich ist es auf
diese Initiative der ”Vieille Montagne” zurückzuführen, daß
Deutschland das Postamt in Preußisch-Moresnet einrichtete. Es
arbeitete seit 1872, und wir können annehmen, daß von diesem
Zeitpunkt an sozusagen alle Postgeschäfte dort abgewickelt wur-
den, zumal damals von dem Amt kein Auslandsporto erhoben
wurde, wenn die Briefe oder sonstige Postsachen das neutrale
Gebiet nicht verließen.
Dieses Postamt war in einem der ”Vieille Montagne” ge-
hörenden Gebäude untergebracht. Dort befand sich auch das
gemeinsame Bürgermeistereiamt von Neutral- und Preußisch-
Moresnet. Das Gebäude wurde 1944 durch Bomben zerstört.
Die Schalter befanden sich rechts des Flures, an dessen Ende die
Büros lagen. Heute steht auf diesem Gelände die Garage Lavalle.
Da Belgien bzw. Belgisch-Moresnet und Preußen bzw. Preu-
Bisch-Moresnet beide postalisch für Neutral-Moresnet zuständig
waren, wird es wohl nicht selten vorgekommen sein, daß sich
Postboten beider Nationen in ein und demselben Haus ein Stell-
dichein gaben.
Dies war also die postalische Lage Neutral-Moresnets in
den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. Mehrere deut-
sche Städte hatten damals noch eigene Postwertzeichen für den
örtlichen Postverkehr. Warum nicht auch Neutral-Moresnet ?
Die Situation war verlockend. Und das neutrale Gebiet wurde
um ein Kuriosum reicher.
Die Idee, eine eigene Verkehrsanstalt zu gründen, ging aus
vom Geheimen Sanitätsrat Dr. Wilhelm Molly, einem aus Blas-
20
bach bei Wetzlar stammenden und bei der ”Vieille Montagne”
als Oberarzt fungierenden Herrn mit ausgesprochenem Geschäfts-
sinn. Unter dem Datum des 6. Oktober 1886 richtete er folgen-
des Schreiben an den Bürgermeister :
Herr Bürgermeister Schmetz, wohlgeboren dahier.
Euer Wohlgeboren zeige ich hiermit ergebenst an, daß
mit dem heutigen Tage zu Neutral-Moresnet eine Ver-
kehrs-Anstalt mit dem Namen ”Kelmiser Verkehrs-An-
stalt zu Neutral-Moresnet” eröffnet wird. Die Anstalt #
hat den Zweck, Bestellungen jeder Art zu besorgen, so-
wie Briefe und Drucksachen im Ort zu befördern. Ihren
Sitz hat die Anstalt im Hause des Herrn Peter Beaufays
zu Bruch. (1)
Hochachtungsvoll
Im Auftrage der Kelmiser Verkehrs-Anstalt zu N.-M.
Dr. Molly
Der Bügermeister war von der Initiative des Dr. Molly be-
stimmt vorher unterrichtet worden, war doch der geschätzte
Doktor seit dem 1. August 1881 sein erster Beigeordneter
(= Schöffe) in Preußisch-Moresnet. Hubert Schmetz war gleich-
zeitig Bürgermeister von Preußisch- und von Neutral-Moresnet.
Später, von 1916 bis 1919 war Dr. Molly auch Gemeinderats-
mitglied von Neutral-Moresnet.
Am 7. Oktober 1886 unterrichtet der Bürgermeister dem
belgischen Kgl. Kommissar für die Verwaltung des neutralen Ge-
biets von der Gründung der Verkehrsanstalt. Kommissar Cremer
residierte in Verviers. Er besann sich nun auf das Gesetz vom 25.
(1) Bisher hatte man angenommen, daß der Vertrieb der Marken im
Hause des Apothekers Dovifat (heute Apotheke Cornely) stattge-
funden habe. Möglicherweise gab es zwei Verkaufsstellen. Molly
selber wohnte in der Jansmühle in Neu-Moresnet.
22
frimaire des Jahres VIII der Republik (= 12. Dez. 1799), dem
zufolge das Postwesen ein Staatsmonopol war. Dieses Gesetz
(wie übrigens die gesamte französische Gesetzgebung) war im
neutralen Gebiet von Moresnet in Kraft geblieben. Der Kgl. bel-
gische Kommissar verständigte seinen preußischen Kollegen und
gemeinsam erließen sie eine Verordnung, die den Gebrauch der
Marken der Kelmiser Verkehrsanstalt untersagte. Es ist unklar,
wieviele Tage sie in Umlauf gewesen sind. Nach dem ”Illu-
strierten Briefmarken Journal” von 1889 (S. 42) waren es 18
Tage, nach anderen Angaben etwas weniger.
Auch der Postvorsteher von Montzen erhob Anklage gegen ‘
die Markenemittenten beim Polizeigericht von Aubel.
Daraufhin erkundigte sich der Minister für Eisenbahn, Post-
und Telegraphenwesen am 29, 1. 1887 beim Außenministerium
nach dem Verhalten von Kommissar Cremer in der Angele-
genheit der Kelmiser Verkehrsanstalt. Der Außenminister bittet
Kommissar Cremer um einen Bericht. Am 8. 2. 1887 erstattet
Cremer diesen Bericht, und nur zwei Tage später, am 10. 2.
1887, antwortet der Außenminister seinem Kollegen auf dessen
Anfrage vom 29. i. 1887, indem er ihm den Bericht des kgl.
Kommissars zukommen läßt.
Der erste Briefmarkenhändler Belgiens, der Brüsseler Jean-
Baptiste Moens, wies in seinem regelmäßig erscheinenden Jour-
nal auf die neuausgegebenen Marken hin, die er nicht als voll-
gültig anerkannte, Auch andere Kenner der Materie haben die
Marken als Phantasiesatz bezeichnet. In einem Brief an Moens
behauptet der Geheime Sanitätsrat, seine Marken seien beinahe
14 Tage in Umlauf gewesen, che die beiden Kommissare, denen
das Gebiet unterstand, den Vertrieb verboten hätten. Molly be-
stand auf der internationalen Anerkennung seiner Marken. Es
entbrannte eine heftige Polemik, die weite Kreise zog, bis nach
Dresden und Genf. Moens ließ nicht locker. Er wandte sich an
den belgischen Kommissar. Unter dem Datum des 15. 6. 1887
antwortete ihm dieser : ”Im Laufe des Monats Oktober hatte
man tatsächlich auf dem Gebiet von Neutral-Moresnet einen
ausschließlich innerhalb des Gebietes tätigen Postdienst einge-
richtet.” Er und sein Kollege, so berichtet er weiter, hätten je-
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Brief des Neutral-Moresneter Bürgermeisters Schmetz an
| den Kgl. Kommissar Cremer, in dem er letzteren von der
Gründung der ”Kelmiser Verkehrs-Anstalt” unterrichtet.
26
Die Aubeler Gerichtsakten sind 1951 eingestampft worden.
So entzieht es sich unserer Kenntnis, ob die Herren gerichtlich
belangt worden sind. Da es sich um einflußreiche und hochge-
stellte Persönlichkeiten handelte, ist es nicht ausgeschlossen, daß
das Gerichtsverfahren niedergeschlagen oder eingestellt worden
ist.
* Y“ %
Noch eine interessante Begebenheit rankt sich um die Kel-
miser Postgeschichte. Der schon eben erwähnte Brüsseler Frei-
markenhändler Jean-Baptiste Moens hatte 1862 in Brüssel das
Briefmarkenjournal ”Le Timbre Poste” gegründet. Sehr bald
folgten andere dem Beispiel Moens’ und gaben ebenfalls phila- X
telistische Zeitschriften heraus. Dabei kopierten sie unverfroren
die Artikel des Herrn Moens, ohne jedoch ihre Quelle anzuge-
ben. Da keinerlei Gesetz die Urheberrechte von Herrn Moens
schützte, beschloß dieser, seinen unfairen Kollegen einen ganz
besonderen Leckerbissen hinzuwerfen.
In der Nr. 52 des ”Timbre Poste” vom 1. April 1867 er-
schien ein J. S. N&om signierter Artikel, der die detaillierte Be-
schreibung einer Neutral-Moresneter Freimarke brachte. Die
Marke zeige das Wappen der Gemeinde, schräg darüber die Frei-
heitsmütze. Die Beschriftung laute : ”Freie Gemeinde von Mo-
resnet” und in den Winkeln seien die Werte angegeben. Auch
genaue Farbangabe brachte der Schreiber. Sein Artikel war umso
glaubwürdiger, als das Ganze durch geschichtliche Details über
Neutral-Moresnet in den richtigen Rahmen gestellt wurde.
Schließlich schrieb J.S. Nom, die Marken seien auf weißem
Papier gedruckt und hätten als Wasserzeichen die Freiheitsmüt-
ze. Sie seien hergestellt worden durch De Visch und Lirva in
Brüssel.
Die Bestellungen auf die neue Marke ließen nicht auf sich
warten. Und die Briefmarkenzeitschriften übernahmen wie zu
erwarten die vom ”Timbre Poste” verbreitete Nachricht, gaben
sogar noch weitere Einzelheiten über die Kelmiser Marke be-
kannt, die dem ”Timbre Poste” entgangen seien. Einen Monat
ließ Jean-Baptiste Moens die Herren gewähren. Dann aber platz-
te die Bombe. In der Nummer 53 seiner Zeitschrift deckte er
27
alles auf : J. S. Ne&om war nichts als das Anagramm von J. /
Moens. De Visch und Lirva aus Brüssel war zu übersetzen mit
”poisson d’avril de Bruxelles”, d.h. Aprilscherz aus Brüssel!
(Visch, niederl. = poisson ; Lirva = Anagramm von avril).
% “ *
Nach dem 15. 9. 1919 wurde Preußisch-Moresnet in Neu-
Moresnet umbenannt, das dort bestehende Postamt blieb aber
weiterhin für das ehemalige Neutral-Moresnet und jetzt in La
Calamine/Kalmis umbenannte Gebiet zuständig. Am 16. 12.
1921 bekam das Postamt die Benennung La Calamine/Neu-
Moresnet. So blieb es bis zum 10. Mai 1940. Während der
Kriegsjahre waren die Gemeinden Belgisch-Moresnet, Neu-Mo-
resnet und Kelmis auf die Postämter Moresnet 1 und Moresnet 2
verteilt. Die beiden Ämter befanden sich in Neu-Moresnet, Max-
straße Nr. 1 bzw. Hospitalstraße Nr.2 in Moresnet-Kapelle. Nach
Kriegsende wurde die Vorkriegsbenennung La Calamine/Neu-
Moresnet wieder eingeführt. Bis zur Verlegung des Amtes von
der Maxstraße/Neu-Moresnet zur Kirchstraße in Kelmis am 11.
5. 1968 wurde sie beibehalten. Seitdem heißt das Amt Kelmis/
La Calamine.
A X *
Diese Notizen zur Postgeschichte von Neutral-Moresnet/
Kelmis stützen sich auf die zu diesem Thema von Herrn Leo
Göbbels, Kelmis, zusammengetragene Dokumentation. An die-
ser Stelle möchten wir ihm für sein Entgegenkommen herzlichst
danken. Wertvolle Hinweise gab uns ebenfalls Herr Kulturin-
spektor Firmin Pauquet. Auch ihm sei hier gedankt.
28
Bajeere
von L. Homburg
Wenn in den zwanziger Jahren ein Nachbar oder ein guter
Bekannter zu meinem Vater kam und ihn fragte : ”Karl; ech
treck öm, bajieschte mech met ?”, dann war die Gegenfrage
meines Vaters : ”Wuebaan jeet et daan ?” Und wenn der Um-
ziehende den Ort angegeben hatte, sagte Vater : ”Ech scheck
dech der Jong.” Damit war für ihn die Sache klar.
Vater besaß ein gutes Pferd und einen modernen vierräd-
rigen Heuwagen. In der letzten Aprilhälfte wurde mit den
Vorbereitungen begonnen. Der Wagen wurde gereinigt und .
angestrichen, die Leitern grün, die Räder leuchtend rot,
die Eisenteile schwarz. Abends wurden Papierrosen gemacht,
das Pferd bekam beim Hufschmied neue Eisen aufgeschlagen,
das Geschirr wurde geputzt. Die Lederteile glänzten schwarz,
die Kupfernägel funkelten wie Gold, und zu den eigenen Schel-
len und Glocken wurde wenn möglich noch ein Schellenkranz
hinzugeliehen ; von meinem Taschengeld kaufte ich mir noch
eine neue Peitsche und hatte nur einen Wunsch : daß am ersten
Mai schönes Wetter herrsche.
Die Pachtverträge der hiesigen Bauern endeten damals
meistens, wenn sie nicht verlängert wurden, nach drei Jahren,
und zwar am 30. April. Sie konnten jedoch auch vor Ablauf
dieser Dreijahresfrist vom Eigentümer aufgelöst werden, wie
noch in meinem Pachtvertrag unter ”Vorbehalte” zu lesen steht, d
nämlich 1. wenn das Gut verkauft wird ; 2. beim Ableben des
Pächters. Hierzu heißt es wörtlich : ”Der Eigentümer behält
sich ohne jede Entschädigung das Recht vor, den gegenwärtigen
Pachtvertrag beim Ableben des Pächters aufzulösen, und ist in
diesem Falle die Pacht des laufenden Jahres sowie der beiden
eventuell noch folgenden Jahre sofort an dem Tage fällig, an
welchem der Eigentümer anzeigt, daß er von diesem Vorbehalt
Gebrauch macht.”
So kam es also, daß Bauern manchmal sehr kurzfristig
ihren Hof verlassen mußten (Siehe auch ”Im Göhltal” N°9, S.
30 ff.). Schon morgens früh fanden sich die helfenden Nach-
barn mit ihren Karren und Wagen auf dem Hofe des Umziehen-
29
den ein, denn bis zum Mittag mußte er geräumt sein. Von 12
Uhr an stand er dem Nachfolger zur Verfügung.
Aber so viele Fahrzeuge auch da waren, manchmal waren
es noch zu wenige. Besonders bei den Kleinbauern, die selbst
kein Pferd besaßen, mit dem sie schon vorher das eine oder an-
dere zum neuen Hof hätten fahren können, war das Verladen
und Verstauen des ganzen Hausrats ein Problem. Wenn da alles,
was sich in Jahren in Haus und Stall und Scheune angesammelt
hatte, zusammengetragen war, mußten die Wagen und Karren,
wollte man alles mitnehmen, überladen werden ; manches fiel
denn auch unterwegs herunter.
Zuerst wurden die guten Möbel verladen, und zwar auf
den schönsten Wagen. Wenn der meinige diese Ehre hatte, dann
bat ich die Umziehenden, sie selbst zu verladen. Durch Erfah-
rung war ich klug geworden und wußte, daß trotz aller Vorsicht
und Sorgfalt beim Verpacken die Möbel nicht unbeschädigt ans
Ziel kommen würden. Bei den damaligen schlechten Straßen
und einer 10 bis 15 km langen Fahrt auf ungefederten und auf
Eisenrädern laufenden Wagen war das nicht erstaunlich. Das
Gegenteil wäre es gewesen.
So trug ich also die Möbel aus dem Hause und reichte sie
zum Wagen hinauf. Wenn alles verladen war, machte der Um-
ziehende noch einen letzten Rundgang durch Haus und Hof, um
sich zu vergewissern, daß auch nichts zurückgeblieben war, und
sagte dann : ”Mit Gott fahrt los.”
Lachte die Sonne vom Himmel oder drohte wenigstens kein
Regen, so waren es die Fuhrleute zufrieden, und an jedem Wirts-
haus, an dem der Zug vorbeifuhr, wurde angehalten. Auf Ko-
sten des Umziehenden wurden ein paar Gläschen getrunken. Die
Zuschauer bewunderten oder kritisierten den Zug. Am neuen
Hof angekommen, wurde zuerst der Herd an den Kamin ange-
schlossen, dann die Möbel und Betten aufgestellt. Beim anschlie-
Benden Kaffee mit ”Platz” (1) wurden gute Ratschläge erteilt.
Schließlich wünschte man noch viel Glück im neuen Heim und
brach auf, um noch vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause zu
sein, was jedoch nicht immer glückte.
(1) In unserer Gegend eine Art großer runder Kuchen aus Hefeteig mit
Zucker und Rosinen,
30
”Dremol bajiet es eemol afjebrannt.” So lautete der Spruch.
Am 1. Mai 1925 hatte ich wieder einmal alle Vorkehrungen ge-
troffen. Nicht weit sollte es diesmal sein, nur von Astenet bis
Schönefeld in. Eupen. Der Umziehende war ein nur 200 Meter
von mir entfernt wohnender Nachbar. Er verfügte selbst nicht
über Pferd und Wagen. So fuhr ich unseren Wagen bis zu sei-
nem Hof und brachte das Pferd, da es zu schneien begann, wie-
der in den Stall. Die guten Möbel wurden auf meinen Wagen
geladen ; eine Plane zum Abdecken war nicht vorhanden. Als
man mit dem Verladen fertig war und ich das Pferd holte, um
anzuschirren, zerstörten der Schnee und der aufkommende hef-
tige Wind die meisten Papierrosen. Trotz Schnee und Sturm .
fuhren wir los mit der Hoffnung auf Wetterbesserung. Im Wal-
horner Feld wuchs das Schneetreiben zu einem orkanartigen
Sturm. Er hatte‘ schon das von Stephan Heyendahl 1821 errich-
tete Hochkreuz umgestürzt ; als wir dort vorbeifuhren, lag es
darnieder, in mehrere Teile zerbrochen. Es wurde erst 1929
renoviert.
Die Pferde versuchten, sich gegen den Sturm zu stellen.
Mit der einen Hand die Zügel und mit der anderen die Peitsche
haltend brachten wir sie voran. Auf der Ketteniser Hochstraße
erwarteten uns Bekannte des Umziehenden. Dick vermummt
standen sie dort hinter einem Tisch und hielten heißen Kaffee
und Schnaps für uns bereit. Innerlich erwärmt fuhren wir weiter.
Da die‘ Pferde keine Stollen trugen, hatten wir beschlossen, in
Eupen nicht die Neustraße mit ihren glatten Pflastersteinen zu
nehmen, sondern den Rothenberg hinaufzufahren. Allerdings ü
mußten wir uns dort gegenseitig vorspannen. Als wir oben waren,
besserte ‘ sich das Wetter. Es gab nur noch einzelne Schnee-
schauer.
Auf dem neuen Hof befand sich ein kleiner Saal. Da hi-
nein trugen wir alles Wertvolle. Teile der Möbel waren aus dem
Leim gegangen, das Bettzeug war durchnäßt. Nur der Herd
Konnte aufgestellt werden, alles andere mußte erst trocknen.
Wir Fuhrleute wünschten auch diesmal viel Glück auf dem )
neuen Hof und machten uns, durchnäßt, wie wir waren, auf die
Heimfahrt. Im Walhorner Feld fanden wir noch im Straßen-
graben Gegenstände, die der Sturm von den überladenen Wagen
herabgeblasen hatte.
31
Jugenderinnerungen
von Hermann Heutz
Heimkehr ins «Mutterhaus», erstes Schuljahr
und letztes Kriegsjahr
Das erste Kapitel schloß ich damit, daß Mutter mich in
meinem 6. Lebensjahr vom Großelternhaus in Eupen ins ”Mut-
terhaus” heimholte. Ich sage mit Absicht ”Mutterhaus”, denn
von Vaterhaus konnte damals keine Rede sein. Der Vater war
nämlich seit den bösen Augusttagen 1914 als Soldat eingezo-
gen, geriet bereits 1915 in französische Gefangenschaft, wurde
in ein Gefangenenlager in Algerien gebracht, holte sich dort
ein zünftiges Malariafieber. Schließlich wurde er in der Schweiz
zwecks Genesung interniert. Zu Beginn des Jahres 1918 ist er
dann heimgekommen. Mutter hat den ganzen Krieg mit 5 klei- |
nen Kindern durchgefochten, ohne das Sparbuch anzugreifen,
Das war eine harte Leistung. Mutters Hexengewicht von 99
Pfund am Kriegsende bewies das. Ich sagte im letzten Kapitel,
daß Mutter mich in eine muntere Schar Geschwister, Vettern
und Bäslein am Aachener Busch heimbrachte. Es empfingen
mich dort mit großem Hallo nicht weniger als 3 Schwestern,
1 Bruder, 8 Vettern, 6 Bäslein und eine nicht geringe Zahl an
Nachbarskindern. Nach Heimkehr der Väter setzte übrigens der
Kindersegen nochmal ein. Trotz dieser munteren Genossenschar
hatte ich noch wochenlang Heimweh nach dem stillen Haus im
Bellmerin. Zu Ostern 1918 ging ich zum ersten Mal an der ma-
geren, kalten Hand meiner ältesten Schwester zur Schule. Ich
kann mich noch genau an den Tag erinnern. Es war ein kalter
Apriltag. Manche Schulneulinge weinten, andere klammerten
sich schüchtern an die Hand der Mutter oder einer Schwester,
nur wenige blickten erwartungsvoll und unternehmungslustig in
das neue Leben. Im Portal empfing uns der eigentümliche Schul-
geruch, ein Gemisch von Holzrauch und Ausdünstung von nas-
sen Kleidern. Den gleichen Geruch hat die Schule übrigens heute
noch nach fünfzig Jahren. Im Portal stand der Hauptlehrer K. :
Eikopf mit Haarbürste. Die großen Jungen nannten ihn schlicht
”Speckkopp”. Fräulein K., lang, blond, kalt, war meine erste
Lehrerin. Viel weiß ich nicht mehr von ihr. Ich weiß nur mehr,
32
daß sie mir in der Folgezeit sehr oft und fast regelmäßig Schlä-
ge mit dem Riedstock auf die offene Handfläche verabreichte,
wenn ich mit großer Regelmäßigkeit keine Hausaufgaben machte.
Im Sommer dieses Jahres 1918 gingen die Kinder meistens in
Holzschuhen oder barfuß in die Schule. Beim Barfußgehen wur-
den unsere Fußsohlen lederhart, und wir wetzten barfüßig über
Schotter und Kleinschlag. In diesem letzten Kriegssommer zogen
die Schulkinder an manchem Nachmittag in den Wald zum
Laubsammeln. Dieses Laub wurde in der Laubpresse am Panne-
schopp zu Ballen gepreßt und sollte als Futter für die ”helden-
haft kämpfenden” Pferde an der Front verwendet werden. Pro
Sack Laub gab es von Hauptlehrer K. ein Brotmärkchen. Da- ’
mit eilten wir Kinder dann ”schnurstracks” - wie wir sagten -
zu den Bäckern Kockartz oder Gatz, empfingen dafür eine
Schnitte trockenes Kriegsbrot und aßen diese Schnitte auf dem
Heimweg. Im Herbst des Jahres 1918 kam Vater heim. Ich er-
innere mich noch, wie er uns in Aachen bei Tante Mia begrüßte.
Er hob jedes Kind hoch und küßte uns mit sehr bärtigem Mund.
Das ist übrigens der erste und letzte Kuß, den ich von Vater
bekommen habe. Früher waren derartige Zärtlichkeiten nicht
in Gebrauch. Kinder waren ja keine Mangelware. Das heißt nun
nicht, daß unsere Eltern uns nicht lieb hatten, sie hatten nur
keine Zeit und kein Geld, uns zu verwöhnen. Vater war vorzeitig
entlassen worden, hatte aber vor einem internationalen Komitee
eidlich erklären müssen, sich mit allen Mitteln einer Wieder-
einberufung zum Heer zu widersetzen. Eine deutsche Dienst-
stelle hatte ihrerseits erklären müssen, Vater nie wieder einzu-
berufen. Ich glaube kaum, daß Vaters Heimkehr unsern sehr
mageren Küchenzettel bedeutend aufgemöbelt hat. Vater konnte
auch kein Mehl, Speck oder Butter machen. Auch in Erziehungs-
oder besser Bestrafungsangelegenheiten merkten wir Kinder kei-
ne Änderung. Mutter behielt das Strafvollzugsrecht bei und fuhr
fort, uns mit ihrer kleinen festen Hand, die wie ein Maschinen-
gewehr trommeln konnte, zur gegebenen Zeit zur Raison zu
bringen. Bisweilen forderte sie wohl Vater auf, auch einmal ein
Machtwort zu sprechen. Vater schaute uns aber nur böse an,
und ich glaube, daß er nur böse war, weil er durch eine derar-
tige Aufforderung in seinen Geschäften und in seiner geliebten
Dorfpolitik gestört wurde. Im November ging der Krieg zu Ende.
33
Ich kann mich noch gut an den Rückmarsch der deutschen
Truppe und an den Einmarsch der Franzosen erinnern. Zuerst
kam die heimkehrende deutsche Armee in guter Ordnung und
brachte Einquartierung, bärtige Männer, Schweißgeruch, Läuse
und Krätze. Diese Krätze, ”Krau” genannt, haben wir dann alle
pünktlich bekommen. Sie wurde mit einer schwarzen, nach Teer
riechenden Salbe behandelt. Wir Kinder durften uns nicht krat-
zen, taten es aber mit Genuß und großem Eifer unter der Bett-
decke. Außer der guten Heimkehrerlaune, den Läusen und der
Krätze war bei den deutschen Soldaten nicht viel zu holen. Nach
Abzug der Deutschen war es an einigen Tagen unheimlich still
auf der ausgefahrenen Straße von Eupen nach Aachen. Dann
aber kamen die Franzosen mit einer Art Zigeunerwagen, mit
viel Geschrei, Rotwein und reichlich Eßwaren. Leider kamen sie
als Feinde, machten grimmige Gesichter und verlangten von
den männlichen Exemplaren der besiegten Deutschen eine Sie-
gerehrung in Form von Abnehmen der Kopfbedeckung. Mein
Vater war nun durch die mehr unsanfte Behandlung in Algerien
nicht gerade ein Bewunderer der Söhne der ”Grande Nation”.
Wenn Vater die Straße vom Wohnhaus zur Ziegelei überschrei-
ten mußte, trug er seine ”Kapp” unter dem ”Stübb” (Joppe).
Auch die Franzosen schliefen in unseren Betten, und wenn sie
einige Tage im Hause blieben, merkte man, daß sie im Grunde
gar nicht so grimmig waren. Mancher Poilu fuhr den Kindern
mit schmutziger Hand über den blonden Haarschopf und schenk-
te ihnen eine Schnitte Weißbrot oder ein Stückchen Schokolade.
Ob auch belgische, amerikanische und englische Truppen vor-
beigezogen sind, weiß ich nicht mehr. Möglich ist es, da wir
Kinder für das ganze Volk nur die Sammelbezeichnung ”de
Franzuese” hatten. Der Winter brachte wieder Ruhe auf der
Landstraße. In diesem Winter 1918/1919 amtierten die deut-
schen Lehrer weiter in der Schule, d.h. an kalten Tagen war
wegen Mangel an Heizmaterial gar keine Schule. Nur der
”Speckkopp” unterhielt im Schulofen der Oberklasse ein Feuer-
chen. Die großen Knaben brachten hierzu Holzstücke aus Keller,
Stall und Wald mit. Dafür schrieb, rechnete und sang Haupt-
lehrer K. mit den Jungen. Das Lied ”viel Blumen am Wege”
begann er immer mit der Tonangabe ”fi Bu, fi Bu”. Auch üb-
te Hauptlehrer K, in Vorahnung einer fremden Machtübernahme
34
patriotische Lieder wie : ”Die Wacht am Rhein”, ”Heil Dir im
Siegerkranz”, ”Dir, Kaiser, sei mein erstes Lied” u.a.m. Ältere
Leser müssen mich berichtigen, wenn ich irrtümlich sage, daß
die ersten belgischen Lehrer im Sommer 1919 erschienen. Es
waren dies meist junge Lehrer aus der belgischen Provinz Lu-
xemburg oder selbst aus dem Großherzogtum Luxemburg. Ich
weiß, daß in Hauset Lehrer M. Th. erschien ; klein, blaß und
mit Pappkarton. Das soll keine Verächtlichmachung sein, denn ich
bin auch also aussehend und ausgerüstet zu meiner ersten Leh-
rerstelle erschienen. Der belgische Junglehrer und der deutsche
Hauptlehrer haben noch einige Monate recht und schlecht, mehr
schlecht als recht, nebeneinander fungiert. Unten in der Ober-
klasse öffnete Hauptlehrer K. Tür und Fenster und sang mit .
seinen Schuljungen aus Leibeskräften ”die Wacht am Rhein”.
Bei den ”Kleinen”, zu denen ich gehörte, forderte Junglehrer
Th. das Aufschlagen der Lesebücher, um das Bild des deut-
schen Kaiserpaares bloßzulegen. Dann forderte der Lehrer uns
auf, dem abgesetzten Herrscherpaar mit der Stahlfeder die Augen
auszustechen. Wir Kinder taten dies in Unkenntnis der Sachlage
und aus Freude am Zerstören mit Begeisterung. Nachdem Haupt-
lehrer K. seine Ziegen verkauft hatte, feierte er feuchtfröhlichen
Abschied von seinen Hauseter Kartenfreunden - Skat wurde
damals noch nicht gespielt - und zog ”ohne viel Blumen am
Wege” heim ins Reich. Ersetzt wurde er bald danach durch
Hauptlehrer J. Cr. aus Sippenaeken. Dieser war älter und ruhi-
ger als sein junger Kollege und hat bis nach dem 2. Weltkrieg
gut und segensreich in Hauset gewirkt. Auch der deutsche Haupt-
lehrer K. und sein belgischer Kollege Th. hatten gute Lehrer-
qualitäten, verloren aber zur Zeit ihres kurzen Zusammenseins
die Nerven. Die damalige Zeit mit ihrem engen Horizont und
ihrem Haß mag sie entschuldigen. An den Übereifer des Lehrers
Th. erinnert mich noch folgende Begebenheit. Eines Tages hän-
digte Lehrer Th. den Schulkindern Schreibhefte aus, auf deren
Umschlag ein stolz aufgerichteter Löwe einen Adler zertrat.
Die Bedeutung dieser Geschmacklosigkeit war nicht schwer zu
erraten. Wir Kinder rannten mit diesen Heften wie mit einer
Beute heim, gespannt auf Gesicht und Reaktion unseres Vaters,
der übrigens seinen Schnurrbart immer noch aufgezwirbelt ä la
Wilhelm II. trug. Vater riß die Umschläge kurzerhand ab und
35
heftete neue Umschläge aus dünner Pappe an. Am anderen
Tage war es an Lehrer Ths. Reihe, sich zu ärgern. Er schlug uns
die Hefte kurz um die Ohren und verbesserte in Zukunft unsere
Hausaufgaben nicht mehr. Heilfroh darüber schränkten wir Kin-
der unsere Hausaufgaben vorerst beträchtlich ein. Als dies ohne
Folgen blieb, stellten wir sie ganz ein und verlebten einen sor-
genfreien Sommer. Diese goldenen Zeiten nahmen ein jähes
Ende, als Vater an einem Abend die nähere Bekanntschaft von
Lehrer Th. machte, ihn nach gemeinsamem Genuß von Bier und
Schnaps als einen ”feinen Mann” erkannte, uns durch Mutter
verprügeln ließ und fortan wieder Hausaufgaben von uns ver-
langte. Lehrer Th. hat sie übrigens seit diesem Tage wieder
nachgesehen. Die Zeit ging ins Land. Baron Baltia wurde Gou-
verneur der Kreise Eupen und Malmedy, und wir Kinder durf-
ten ihn mit Fähnchenschwenken begrüßen. Zu dieser Begrü-
ßung sangen wir übrigens das neueinstudierte Lied ”Nach frem-
der Knechtschaft dunkler Zeiten”. Das Wort Knechtschaft hat
in mir damals nur den Gedanken an den kleinen krummen
Knecht Quirinus - genannt ”Krienes” - von Bauer van Weersth
geweckt. Ich sage dies nicht, um obiges Lied verächtlich zu ma-
chen, sondern um zu zeigen, daß politische Umwälzungen unsere
sorglose Jugendzeit wenig zu stören vermochten.
HH
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36
Volksschulzeit zwischen 1919 und 1925 |
Wie bereits im letzten Kapitel berichtet, begann 1919 langsam
der Abzug der deutschen Lehrer und der Einzug der belgischen
Lehrer in die hiesigen Volksschulen. Nur wenige deutsche Leh-
rer blieben im Dienst, obwohl die Regierung Baltia sie darum
bat und ihnen den Übertritt in das belgische Beamtenverhältnis
schmackhaft und leicht machte. Mancher deutsche Lehrer wäre
wohl im Lande geblieben, wenn das Schulamt in Aachen ihn
nicht so energisch zurückgepfiffen hätte, Den wenigen Lehrern,
die damals die Kreise nicht verließen, hat die Regierung in Aachen
1940 den Laufpaß gegeben. Während des zweiten Weltkrieges
waren sie ohne Beschäftigung. Die belgische Regierung ließ ihnen .
heimlich Warte- oder Pensionsbezüge zukommen. Das war eine
schöne Geste. Ich nenne nur einige mir bekannte derartige Fälle
aus dem Kreise Eupen : Blank, Raeren ; Piana, Lichtenbusch ;
Breuer, Eupen. Wie bereits gesagt, rekrutierte die vorläufige Re-
gierung Baltia in Malmedy die Lehrer aus dem ostlimburgischen,
plattdeutschen Raum, aus dem deutschsprachigen Teil der bel-
gischen Provinz Luxemburg und selbst aus dem Großherzog-
tum Luxemburg. Im vorigen Kapitel schilderte ich bereits den
Einzug des Junglehrers Marcel Th. in Hauset. Dieser nicht un-
begabte Lehrer hat in seinem jugendlichen Fanatismus und viel-
leicht aus unbegründeter Angst vor dem hiesigen Preußentum
des Guten etwas zuviel getan, wenn er uns Kindern die Begei-
sterung für das neue Vaterland mit etwas sonderbaren Methoden
eintrichtern wollte. Später hat sich dieser jugendliche Eifer be-
ruhigt, und Lehrer Th. hat seinen Schülern vor allem in Rechnen
und Raumlehre gute Grundkenntnisse mitgeben können. Wie
gesagt, Junglehrer M. Th. erschien als erster Lehrer, während
der deutsche Hauptlehrer noch einige Monate im Schuldienst
blieb. Das Verhältnis der beiden war korrekt aber frostig. Das
merkten bereits wir Kinder und manche taten ihr Bestes, dieses
kühle Verhältnis noch mehr zu trüben. Leider waren auch man-
che Eltern hier die Triebkraft. Nach Abzug des deutschen
Hauptlehrers wurde Jules Cr. aus Sippenaeken hier zum Haupt-
lehrer ernannt. Er war zeitlebens ein guter Erzieher, einer der
wenigen, die die Kinder mit den Augen zwingen können. Wer
das nicht kann, soll nicht lehren, Mit dem Munde darf der gute
37
Erzieher nur selten rügen und ermahnen, er soll es mit den
Augen tun, denn den Mund braucht er zum Unterrichten. Herr *
Cr. hat in seiner Amtszeit vor dem Kriege mit uns die vielen
alten Volkslieder mehrstimmig gesungen. Ich glaube, daß selbst
die Spatzen auf dem Schulhof ihr Schilpen einstellten, wenn
wir sangen; man hörte sie jedenfalls nicht mehr. Leider hat
Herr Cr. diese sehr schönen Unterrichtsstunden nach dem Krie-
ge nicht wieder aufgenommen. Reichte seine Stimme nicht mehr,
oder trug er doch zuviel Groll gegen das deutsche Volkslied ?
Nur kurze Zeit hat ein Junglehrer K. aus der belgischen Eifel
uns unterrichtet. Ich nehme an, daß er zu den Junglehrern ge-
hörte, die auf Wunsch der Regierung Baltia im Schnellverfahren
ausgebildet wurden, um die Lücken im hiesigen Schuldienst zu
füllen. Junglehrer K. war klein von Gestalt. Unvergessen sind
mir bis heute seine sehr roten Pausbacken geblieben. Dieser
Lehrer sang auch mit uns deutsche Volkslieder. Er wunderte
sich, daß wir sein erstes Lied gleich ”konnten”. Dieses Lied :
”Treue Liebe bis zum Grabe” hatten wir nämlich schon mit
dem letzten deutschen Hauptlehrer K. kräftig singen müssen.
Die Alten unter uns kennen noch Text und Weise dieses Liedes.
Der Anfang lautet : ”Treue Liebe bis zum Grabe schwör ich dir,
mein Vaterland. Was ich bin, und was ich habe, schenk ich dir,
mein Vaterland”. Wir Kinder sangen es laut und forsch, ohne
dabei zu bedenken, daß man uns hier aufforderte, in sehr kurzer
Zeitspanne den Gegenstand unserer ””Treue bis zum Grabe” zu
wechseln. Aber so geht das oft im Leben. Ich kenne Beamte,
die in ihrem Leben drei- bis viermal einen Treueid auf ein
neues Staatsoberhaupt leisten mußten. Einer dieser Beamten hat
mir gesagt, daß er beim letzten Mal die Eidesformel laut ge-
sprochen habe, dann aber in Gedanken folgende Rückversiche- |
rung hinzugefügt hat : ”bis dein Tod uns trennt !” Dieser bos- |
hafte Eidesabschluß soll aus amerikanischen Gangsterkreisen |
kommen. Im geschilderten Fall jedoch ist dieser Eidesabschluß
berechtigt. |
Nun zu unseren damaligen Lehrerinnen. Da war zuerst
Fräulein Schifflers. Dieses große und schöne Mädchen stammte
eigentlich aus Aachen. Sie war die Tochter des ”belgischen
Bäckers” aus Aachen. Seine Spezialität waren die belgischen
Reisfläden, deren wohlschmeckender Aufstrich aus einem stei-
38
fen Gemisch von Reis, Milch, Eiern und Makronen bestand. |
Daß Fräulein Schifflers ein schönes Mädchen war, habe ich da-
mals übrigens nicht selbst festgestellt. In meinen Knabenjahren
hielt ich nichts von weiblicher Schönheit. Für mich waren nur
Großmutter und Mutter schöne Frauen. Die übrigen ”Weiber”
verachtete ich herzlich, auch weil sie nicht den Handstand ma-
chen konnten. Später erst habe ich erfahren, daß sie das wohl
gekonnt hätten, es aber aus gewissen Gründen nicht taten. Heu-
te ist das ja anders geworden. Kaum ein kleines Mädchen ge-
niert sich mehr, den Buben zu beweisen, daß es den ”Hoch-
stand”, wie wir damals den Handstand nannten, wohl beherrscht.
Daß Fräulein Schifflers ein schönes Mädchen war, orakelte eines ;
Tages mein Vater bei Tisch. Auch diese unwichtige Feststellung
hätte ich vergessen, wenn ich nicht den erstaunten, belustigten
und spöttischen Blick meiner Mutter aufgefangen hätte. Sie hatte
übrigens nur einen Kommentar zu dieser väterlichen Feststel-
lung : ”Dow auwe Dölle !” Mich befremdete es, daß ein Mensch
etwas Lobenswertes von einem Dritten sagt und dafür getadelt
wird. Ich wußte damals noch nicht, was Eifersucht ist. Unver-
gessen wird meinen Hauseter Zeitgenossen und mir die Lehre-
rin Madame Pierre bleiben. Dieses kleine, ältliche Persönchen
mit den gütigen Augen nannten wir treffend und ab sofort ”Oma”.
Daß die ”Oma” erhebliche Disziplinschwierigkeiten in der Schu-
le hatte, liegt auf der Hand, Ich bin übrigens der Meinung, daß
in früheren Jahren die Disziplin den Schulmeistern viel mehr
zu schaffen machte als heute. Dies keineswegs, weil heute die
Schuljugend braver geworden ist. Heute darf das Schulkind sich
in der Schule relativ frei bewegen und reden. Bei uns und zu
unserer Zeit war das nicht so. Wir sollten immer Sstillsitzen,
durften nicht ”schwätzen” und schon gar keine Fragen stellen.
Dies reizte natürlich zu Übertretungen der vielen strengen Ver-
bote. Ein Kind brauchte nur grundlos zu kichern, schon sahen
andere Kinder belustigt zu dem Kicherer hin und begannen
ihrerseits zu kichern, bis ein Unbeherrschter dann zum Schluß
”ausplatzte”. Meistens folgte dann eine Massenbestrafung, die
für den Einzelnen interessant wurde, wenn er ”dran” gewesen
war, und die Grimassen und das Wehgeschrei eines weiteren
Delinquenten aus sicherem Hinterhalt genüßlich beobachten
39
konnte. Nun, Madame Pierre sang auch mit uns. Wir Jungen
zwangen ihr unsere forschesten Jägerlieder auf. Soldatenlieder
waren verboten ; Lehrer Th. duldete sie nicht. Die ”Oma” brach- |
te uns aber ihr französisches Lieblingslied bei. Es hieß : ”J’irai
la voir un jour.” (Ich werde sie eines Tages sehen). Wir ver-
standen die Worte dieses Marienliedes nicht, hatten sie aber
mit Hilfe von Lehrer Ths. Stock doch erlernt... Madame Pierre |
hat uns das Lied unzählige Male mit ihrer hohen Altfrauen-
stimme vorgezirpt, bis es leidlich saß. Bald wurde es uns Jungen
zu süßlich und mitten im Lied, auf ein Zeichen von Josef R.,
schmetterten wir Jungen dann plötzlich mit dem ”Jäger aus
Kurpfalz” dazwischen. Die ”Oma” blickte uns verzweifelt und
bittend an, aber wir Jungen hatten keinerlei Mitleid mit der |
alten Dame. Schließlich wurde sie dann auch noch in Stich ge-
lassen von den kichernden Mädchen und mußte diese dann auf-
fordern, mit uns weiterzusingen. Dieser plötzliche Ton- und
Rythmuswechsel lockte nicht selten Lehrer Th. auf den Plan.
Dann folgte ein exemplarisches Strafgericht. Zur Ehre der guten
alten ”Oma” muß gesagt werden, daß sie diese peinlichen Ab-
urteilungen gar nicht wollte und ihnen mit leidvollem Gesicht
folgte. Lehrer Th. hat übrigens in dieser Zeit recht lange. den
erkrankten Hauptlehrer Cr. vertreten.
Die Reihe der Lehrenden kann ich nicht abschließen, ohne
den damaligen Pastor Schoellgens zu erwähnen. Er kam ja auch
sehr regelmäßig in die Schule, um Katechismusunterricht zu er-
teilen. Pastor Schoellgens war ein ebenso gottesfürchtiger wie
rauhbeiniger Hirt seiner kleinen Herde. Er strahlte förmlich
eine selbstherrliche Unfehlbarkeit aus, wie übrigens die meisten
der damaligen Dorfpfarrer. Als einmal in der Katechismusstun- |
de die Frage der alleinseligmachenden Kirche reichlich kom- |
mentarlos abgetan werden sollte, wagte ich es, den Verdacht |
auszusprechen, daß unter diesen Umständen der liebe Gott wohl |
von all den vielen Menschen nur wenige Himmelsgenossen haben |
werde, zumal nach Pastor Schoellgens’ Ansicht sogar nur wenige |
Katholiken das Himmelsziel erreichen würden. Pastor Schoell-
gens sah mich bestürzt an, hob aber wider Erwartung nicht seine |
lange, dicke Hand zur Ohrfeige, brach den Unterricht ab und
40
nahm mich mit ins Pfarrhaus. Dort fragte er mich nicht unfreund- |
lich, warum ich diese Frage stelle. Ich sagte, daß unser evan-
gelischer Nachbar, Herr Rauhut, und seine Buben patente Leute
seien und mir als Höllenaspiranten nicht recht passen wollten.
Da erst hat Pastor Schoellgens mir kleinem Buben eine Erklä-
rung gegeben, die mich befriedigte, die aber den anderen Schafen
und Schäflein der Herde nicht gegeben wurde, weil eben kein
Mensch danach fragte. Die Unterrichtsstunden von Pastor
Schoellgens waren ohne Zweifel sehr inhaltsreich aber keines-
wegs interessant. Gewöhnlich schob er seine Hände in die wei-
ten Ärmel seines Priesterrocks, schloß die Augen und dozierte
knochentrockene Lehre. Wenn vor ihm die Belustigungen zu :
derbe Formen annahmen, ergriff er den ersten besten Strolch und
verabreichte ihm ein paar saftige Ohrfeigen. Ich sagte bereits,
daß Pastor Schoellgens’ Hand fleischig und schwer war. Die Fin-
ger waren außerdem so lang, daß man mit jeder ”Knallzia” so-
zusagen eine doppelte Ohrfeige einsteckte, denn wenn die Hand-
fläche das rechte Ohr traf, langten die Finger bis zur linken
Backe. Mit diesen Händen malte Pastor Schoellgens übrigens
auch Heiligenbilder. Er hat z.B. die Kreuzwegbilder für die
Pfarrkirche gemalt. Pastor Schoellgens’ Nachfolger hat diese
Stationen entfernen lassen und hat sie nach dem 2. Weltkrieg
der Notkirche in St. Vith geschenkt. Diese Bilder waren nicht
schlecht gemacht, nur die einfarbig bunten Gewänder waren
wie aus Pudding gegossen. Pastor Schoellgens stammte aus Aa-
chen. Er war kein Freund der 1918 einmarschierenden Besat-
zungssoldaten. Herr Pastor Levieux hat mir erzählt, daß Pastor
Schoellgens in der Pfarrchronik sehr entrüstet schrieb : ”Die
einmarschierenden Belgier zwangen meine Pfarrkinder, ihnen
die Betten zu überlassen.” Meiner Ansicht nach ist es nicht
weiter schlimm, wenn ein Soldat zur Abwechslung mal in einem
Bett und ein Zivilist mal auf einem trockenen Fußboden schläft.
Im Pfarrhaus hat jedenfalls kein Belgier ein Bett verlangt. Man
sagt jedoch, daß Pastor Schoellgens ein gutes Herz für die Ar-
men hatte, und dafür wird ihm der Herrgott seine Grobschläch-
tigkeit gerne verziehen haben.
HH
41
Et Päed va Alosse Jang
von Gerard Tatas
Vör Johre, flex vör väteg Johr,
Wie alles auertitsch noch wor,
Du handelde der dicke Jang
- Bejrave es häe hüj at lang - |
Met Önne, Muhre, Kompes, Schlat,
Met Bonne, Ärte en Spinat.
Die vresche en döcks auer War,
Die vuet häe ut met Päed en Kar,
Dä örme Jübaij, dä kos kom
Mie uterweg va Odderdom,
E wor a alle Jled’re stiev
En hau der Zedder op e Liev. |
Döcks, wenn der Jang vuet lans en Döre,
Da jong vör Ströpp der Baij ens köre,
Dat wor os Nellesse wal strang
Verbo döcks woede van der Jang;
Dröm dong vör dat och metstepad
Wenn höm va bennes örjens jrad
Ne tietlank de Tapiet jevol
En häe sech jätt an’t kakle hol,
Ens, wie vör werr met veer, vof Jonge
Et Meddags öm dä Schömmel honge, |
Du hau häe plötzlech os, owie,
Va örjens ut en Hus jesie., |
Der Jang, dä Mooß wor an’t verkope, |
Koem met der dicke Buck jelope, |
Worp no os met en vull Schavow |
En ropde : ”Lott dat Deer met Row !” |
Vör vrodde : ”Aloss, bitt et da ?” |
”Nee - sat der Jang - mä blitt derva !”
”Of mingt dör - sat vör - met de Puete
Köß os die Krack meschien noch stuete ?
Bö, dovör hant vör jenge Bang !”
”Nee, nee, et stött net - sat der Jang -
Mä wenn et ömvellt, Boxekacker,
Da litt dör dronder, Himmelssacker !”
42
Der Champett van ajjen Eckske |
von Gerard Tatas
Lev Lüj, ut os plattdütsch Land
Weet ech noch e amesant
En e lösteg Anekdötsche
Va Champett, der auwe Kötsche :
Also Kötsches Gerard wor
Onjevähr vör vofteg Johr, ;
Wie noch männechenge wett,
Ajjen Eckske der Champett.
Weil now Klöpperej en Striet
ö En dä schöne auwe Tiet
Wor der Sondestietverdriev,
Jong sech alles ane Liev.
Met die janze Howerej
Hauw die örem Polezej
Hönne Ärjer en Verdroß,
Weil se met drä howe moß.
Och der Kötsche hauw sie Werk,
Mä e Denst volt häe sech stärk ;
En wie werr ens op ’ne Dag
Tösche söve Man of ach
Ejjen Wietschaft Rüse wor,
Kant der Kötsche jeng Jevohr.
Häe bejov sech radikal
Schnurstracks no dat Krachlokal,
Wu at Mätschere en Jonge
Vör en Dör an’t jaape stonge.
43
Do als strang Respektpersuen,
Sate e Beamtetuen :
”Ech well do erän ens jue,
Blitt där merr va butes stue
En da tellt där ens die Lüj,
Die ech no en Strot op brüj !”
Selver brüdde sech met Lost
En sing auw Champettebrost
En marschiede mie of män
Frech wie Blücher do erän.
Ajjen Dör stong alles met |
Spannong vör. te telle prett. } |
Plötzlech jong de Dör och op, |
En et flog Hals över Kop,
Bej et Kling’le van en Rut
Enge met Hurra erut.
Äver me sog net mie klor
Ene Düster wä dat wor.
”Enge ! ... ” toht tereck dat Kött,
Mä de Stemm van der Champett
Melde sech janz jämmerlech :
”Hot de Mulle, dat ben ech!” -
Of de Lüj sech hant jewagt
En Champett hant utjelacht,
En de Name van die Helde,
Kann de Chronik net mie melde.
|
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44
Die Wilde Jagd |
von Peter Emonts-pohl
Nachstehende Zeilen sendet uns der Verfasser als Nach-
trag zu seinen bereits in Nr. 9 erschienenen ”Waldgeheimnis-
sen”. Diese gaben - wohl in stilisierter Form - Winterabend-
erzählungen eines verstorbenen Onkels des Verfassers wieder.
Die hier folgende ”Wilde Jagd” scheint demselben Onkel Mat-
thies nacherzählt zu sein. Es handelt sich um ein Thema, das
in den Tiefen uralten Grauens vor den Naturgewalten wurzelt :
das Sturmesbrausen in Herbst- und Winternächten hat durch
Jahrhunderte die Vorstellung von einem vorüberrasenden Gei- .
sterritt heraufbeschworen, den der Wilde Jäger (ursprünglich
der heidnische Gott Wodan) anführte.
In meiner Jugendzeit brauste noch die Wilde Jagd mit den
nächtlichen Novemberstürmen durch den Hertogenwald. Wenn
die kahlen Wipfel sich ächzend und heulend bogen und sich
unter der Windsbraut wie im Schmerz krümmten, dann ver-
schlossen die Bauern und Holzfäller die Haustüren und hockten
beim wohlig warmen Holzfeuer im Schein der blakenden Petro-
leumlampe und beteten den Rosenkranz für die armen Seelen.
Einmal lag die Bäuerin auf dem Nachbarhofe krank darnieder.
Sie hatte keine Schmerzen, doch zehrte eine große Mattigkeit
an ihren Kräften, und eine innere Unruhe raubte ihr den Schlaf.
In jener Nacht orgelte der Sturm mit verbissener Wut in den
Bäumen ; dazwischen jaulte Gewinsel und seufzte es wie Klage.
Zuweilen huschte der bleiche Schein des Mondes über das Fen-
ster. Einen Herzschlag lang hielt die Nacht ihren Atem an, dann
wieder verdoppeltes Wüten der Elemente an Fensterladen und
Torflügeln. Die Kranke wälzte sich stöhnend in den Kissen und
lauschte mit Bangen dem Toben der Naturgewalten. Es war, als
ob alle Geister aus grauer Vorzeit den finsteren Waldesklüften
entflöhen. Jetzt hielt die Kranke es nicht mehr aus in ihrem
schmalen Pfühl, mühsam erhob sie sich und schlurfte ans Fen-
ster. Als sie den Vorhang erhob, sah sie wildes Getier, das sich
im Hof wie in großer Angst zusammendrängte. Da wogte ein
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Wald von Hirschgeweihen. Das Weiße der Augen leuchtete
schreckhaft im Mondenlicht. In der Mitte drängten sich die Ha-
sen zu einem Angstknäuel zusammen und bleckten mit angeleg-
ten Löffeln die gelblichen Nagezähne. Füchse standen da mit
hängenden Köpfen und Lunten. Die Dachse hatten sich zusam-
mengerollt, den gestreiften Kopf zwischen den Vorderpfoten.
Die Sauen keilten sich zu einer dunklen Masse zusammen, zwi-
schendurch schlüpften Marder, Wiesel und Iltisse. Und die Luft
erbrauste vom Schlagen ungezählter Schwingen. Da kamen von
den Forstweihern die Fischreiher und ließen sich auf dem Stall-
first nieder. Da drängten sich die Krähen und Dohlen, die Bus-
sarde und Habichte, selbst die seltenen Weihen fielen ein und
äugten scharf herüber. Wie grünliche Lichter leuchteten die Au-
gen der Eulen, und zahlreich wie Blätter hingen die Amseln,
Finken, Rotkehlchen und Zaunkönige im Geäst der Obstbäume.
Die Frau wußte, daß nun auf jagendem Wolkenrosse der
Wilde Jäger vorüberbrauste. Das Blut wollte ihr in den Adern
erstarren. Die Tiere suchten Schutz in der Nähe der Menschen
und im Bannkreis des Kreuzes am Hoftor. Der Bauer vernahm
einen dumpfen Fall in der Krankenstube. Er fand seine Frau
entseelt ausgestreckt am Fußboden. Die Hände, von den Runen
eines Lebens voll Arbeit gezeichnet, regten sich nicht mehr. Das
Herz, ein Leben lang erfüllt von verhaltener Liebe zu den Ihren,
hatte aufgehört zu schlagen. |
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46
Der Bohrer |
Eine Schmunzelgeschichte vom Dreiländereck
von Gerard Tatas
Der Südländer Tino hatte in Gemmenich sein Glück ge-
funden : Eine Frau und die zu ihr aus erster Ehe gehörende Fahr-
radreparaturwerkstatt. Dieses Glück wäre vollkommen gewesen,
wenn nicht ein heißer, bis jetzt unerfüllbarer Wunsch an seinem
Herzen genagt hätte. Mit der Leidenschaft eines Südländers
sehnte er sich nämlich nach einem elektrischen Bohrer, den er
in seiner Werkstatt so gut hätte gebrauchen können. Aber so
ein Ding war in Belgien verflixt teuer. In Deutschland war es .
billiger, und so begann er mit dem schwarzen Gedanken zu
spielen, einmal auf einem großen Umweg um das Zollamt den
heißersehnten Bohrer aus dem Nachbarland zu »importieren«.
Als dieser Gedanke in schlaflosen Nächten der Tat entge-
gengereift war, machte er sich eines Tages auf, den krummen
Weg über den Dreiländerblick zu gehen und sein Traumobjekt
in Aachen zu erstehen. Mit Sorgfalt wählte er im fünften Ge-
schäft, das er besuchte, die preiswerteste Maschine aus, und kein
Mensch auf Gottes Erdboden war jemals so glücklich wie unser
Tino, als er, den Bohrer unterm Arm, das Weichbild der alten
Kaiserstadt beflügelten Schrittes verließ.
Je näher er der Grenze kam, je mehr verlangsamte er den
Schritt, und im Wald, wo die unsichtbare völkertrennende Linie
verläuft, kam Tino nur noch im Zeitlupentempo voran, so müh-
sam hatte er an dem schweren Herzen im Hosenboden zu tragen.
Was ihm schwante und was ihn aus seinen Alpträumen in den
Nächten, wo er mit seinem Plan in den Wehen lag, noch in den
Ohren klang, passierte jetzt prompt. Gott sei Dank nicht
in unmittelbarer Nähe. Der den Wald zur stillen Dämmerstunde
durchdringende Ruf »Halt !» kam aus einiger Entfernung. Tino
blieb einen Augenblick, in dem er die ganze Gefahr und die
Folgen seiner Tat wie in einem harten Filmknüller an seinem
geistigen Auge vorüberziehen sah, wie angewurzelt stehen. Dann
schoß aus seinem Unterbewußtsein der Selbsterhaltungstrieb her-
vor und setzte sofort sein Reflexvermögen in Aktion. Er warf
47
den Bohrer, der ihm wie ein die Hüter der Wirtschaftsordnung
mächtig anziehender Magnet vorkam, in ein dichtes Gebüsch,
in der Hoffnung, ihn dort am nächsten Tag noch vorzufinden
und gab Fersengeld. Ein zweites »Halt !« wirkte wie ein Tritt
auf das Gaspedal. Er glitt den abschüssigen Fußpfad von der
Höhe am Dreiländerblick bis zum Eingang des Tunnels wie auf
einer Rutschbahn hinunter, und nur der Dämmerung hatte er es
zu verdanken, daß er den Zöllnern über die Wiesen von Bot-
zelaer entkommen konnte.
Schweißtriefend und bleich wie eine Leiche langte er zu
Hause an. An allen Gliedern zitternd berichtete er seiner Frau
über das Mißgeschick und schloß mit den Worten : «Hoffent-
lich haben sie mich nicht erkannt, du weißt, daß die meisten
Zöllner zu unserer Kundschaft zählen.»
Noch ist der Bohrer nicht verloren, dachte Tino, als er
etwas ruhiger geworden war und zu Bett ging. Morgen werde
ich ihn sehr wahrscheinlich in dem Busch wiederfinden.
Sein erster Kunde am nächsten Morgen war ein Zöllner.
Tino mußte schlucken und dann verlegen husten, als er ihn in
die Werkstatt eintreten sah. Aber es schien sich wirklich nur
um eine Reparatur am Fahrrad zu handeln. Ganz nebenbei sag-
te der Zöllner : «Tiens, Tino, Du hast doch schon oft davon ge-
sprochen, daß Du dir einen elektrischen Bohrer anschaffen möch-
test, wenn er nur nicht soviel Geld kosten würde. Ich hab mir
vor einiger Zeit so’n Zeug gekauft und weiß doch nichts Rechtes
damit anzufangen. Wenn Du noch daran interessiert bist, dann
kannst Du ihn sehr billig haben. Ich werde ihn dir gleich mal
holen.»
Nach einer Viertelstunde erschien der Zöllner mit einem
funkelnagelneuen Bohrer, legte ihn auf die Werkbank und nann-
te den Kaufpreis. «Zu dem Preis ist er doch geschenkt«, meinte
er lächelnd. Tino biß sich auf die Lippen und zog die Briefta-
sche.
Jetzt müßte ich die Pointe erzählen, aber ich glaube, sie
ist schon zu transparent geworden, um noch zu überraschen, und
jeder, der nicht mit äußerster Hartnäckigkeit an eine absolute
Staatsordnung glaubt, weiß schon, daß Tino seinen eigenen Boh-
rer kaufte.
48
Auf dem Büchermarkt
von A. Bertha
”Was Poesie eigentlich sei, ist umstritten. Sie tritt in so
vielfältigen Formen und Tönen auf, daß ihr keine Definition ge-
recht werden kann. Poesie ist auch nicht an erster Stelle Ge-
schriebenes, sondern eine Lebenshaltung, eine Geistesverfassung,
eine seelische Einstellung ... Poesie ist schließlich ein Spiel. Da-
mit das Spiel aber ganz vollzogen wird, bedarf es auch noch des
Spielens mit der Sprache ; und hier wird es ernst, denn die Spra-
che gibt nur her, was man ihr mühsam abringt.”
Diese Zeilen stehen in der Einleitung einer kürzlich er- .
schienenen ”Anthologie ostbelgischer Dichter”. Herausgegeben
wurde sie im Auftrag des belgischen Kulturministeriums (Kul-
turamt für die deutschsprachige Gegend) von Dr. Jules Alden-
hoff in Zusammenarbeit mit Kulturinspektor Firmin Pauquet.
Versucht wurde in dem gut 100 Seiten starken Bändchen,
einen Querschnitt durch die hochdeutsche Dichtung im Osten
unseres Landes zu geben. Der Bogen spannt sich von Robert
Hamacher (Jahrgang 1892) bis Suzanne Vise (Jahrgang 1949).
60 Jahre liegen zwischen den schwermütigen, von Tod und Ab-
schied überschatteten Versen Hamachers und denen von Suzanne
Vise, Marcel Bauer und Hans Niessen.
Das ”Spiel mit der Sprache” hat sich grundlegend gewan-
delt. Zwischen der Vorkriegsgeneration und den jüngeren Dich-
tern gibt es kaum etwas Verbindendes. Sprechen sie überhaupt
dieselbe Sprache ? Karg und herb ist sie geworden, die Sprache
unserer jungen Dichter. Der schmückenden Beiwörter hat man
sie beraubt. Was geblieben ist, ist das Wesentliche, sind oft nur
einzeln hingeworfenen Wörter. Und doch ist diese Sprache
reich. Reich an Bildern und Assoziationen, die manchmal ein
Klima von großer poetischer Dichte schaffen.
Zugegeben : es ist nicht alles leicht zugänglich, was sie
schreiben. ”Ist das ein vor- oder nachpoetisches Chaos ?” so
fragt Dr. Aldenhoff in seiner Einleitung. Und er gibt auch die
Antwort : ”In Zeiten des Umbruchs haben selbst die Scharfsin-
nigsten nur selten die Gefühlswelt der aufkommenden Generation
49
verstanden und gutgeheißen. Was heißt übrigens verstehen ?
Zum Verständnis von Gedichten gehört weniger Verstandesar-
beit als Einfühlungsvermögen.”
”In deines Lebens Garten
Blüh’n Blumen mannigfalt ...
Doch wer will Glück erwarten ?
Die Blumen welken bald.”
So dichtete Robert Hamacher. Und noch bei Emil Gennen (Jahr-
gang 1932) ist das Versmaß klassisch, die Form konventionell :
”Welker Blumen Stengel geh’n
in der Stürme lautem Weh'n,
wie ein Schifflein auf dem Meer,
dauernd ächzend hin und her.”
Andere Wege gehen Bauer, Niessen und Vise. Hier von jedem
der drei eine Kostprobe :
”wir sammeln
pilze im kanal.
im zweiten strauch hängt Absalon ;
der regen
hat ein loch im bauch ... ” (M. Bauer)
ICH BIN
UNTER DER MÜTZE
DES BRIEFTRÄGERS,
EIN UNTERWOHNTES
HAUS
TIEFER ALS UNTERWÄSCHE
MIST UNTERM HAHN
UNTER ALLER KANONE
WURM UNTERM STEIN
KURZ,
SEHR HERUNTERGEKOMMEN.
(Hans Niessen)
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manchmal
fällt der nacht
der schwarze farbtopf
zu früh aus der hand,
man nennt es dann winter
wenn heulend lieder
tief in müde kamine fallen
wenn die sterne sich häuter
und die häuser weiße kapuzen
auf zentralgeheizte hirne setzen.
(S. Vise) (1)
Die Cäsur des zweiten Weltkrieges ist deutlich sichtbar.
Die liedhafte Form des neunzehnten Jahrhunderts ist verschwun-
den. Deutlich sind die Spuren des Expressionismus. Die Natur-
lyrik, die seit Goethe einen besonderen Platz einnahm und die
nichts mit ”Wald- und Wiesenpoesie” gemeinhatte, scheint tot
zu sein. Im Walten der Natur sieht man nun nicht mehr das
Walten göttlicher Kräfte. Wahrscheinlich ist dies der Tribut, den
die Dichtung an unsere technisierte Zivilisation zahlen muß.
Zum Schluß noch eine Bemerkung : Das Bändchen ost-
belgischer Poesie kommt nicht in den Handel. Es wird jedoch
an die öffentlichen Bibliotheken (auch an die größeren Bibliothe-
ken des Auslands) und an die Schulen vergeben.
(1) Neben Versen von R. Hamacher, E. Gennen, M. Bauer, H. Niessen
und S. Vise bringt die Anthologie Gedichte von V. Gielen, P.
Emonts-pohl, M. Th. Weinert-Mennicken, G. Tatas und L. Wintgens.
Im Anhang finden sich zu jedem Dichter ein paar kurze biographi-
sche Notizen.
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Kennst Du Deine Heimat ?
Hier die Lösungen der Fragen aus Heft Nr. 9 :
Zu Bild A (Wo steht der Brunnen ?)
Lösung : In Moresnet/Dorf, im Burghof der Ruine Alensberg.
Sein Grundwasser, wie auch das Grundwasser eines zweiten Brun-
nens, der im Burghof steht, ist versiegt.
Zu Bild B (Wo findet man diese alte Wasserzapfstelle ?)
Lösung : Sie befindet sich an der von Gemmenich nach Sippe-
naeken führenden Straße, und zwar dort, wo die aus Bleyberg
kommende Straße in erstere einmündet, kurz vor der Hufschmie-
de.
Zu Bild C (Wo ist diese Handpumpe angebracht ?)
Lösung : An der Mauer im Burghof der Eyneburg in Hergenrath.
Sie liefert noch immer Wasser.
Zu Bild D (Wo steht diese Pferdetränke ?)
Lösung : Sie steht in Henri-Chapelle, an der Abzweigung nach
Ruyff. Soweit ich erfahren konnte, diente sie im vorigen Jahr-
hundert als Pferdetränke für die Postkutsche, die von Lüttich
über Henri-Chapelle nach Aachen fuhr. Sie wird jedoch nicht
ausschließlich den Postkutschenpferden vorbehalten gewesen sein.
Und nun zu neuen Aufgaben ! Kennst du deine Heimat ?
Auch ihre Kirchen? Von innen und außen? Na, wir wollen
sehen.
Frage eins : Wo stehen die vier hier abgebildeten Kirchen ?
Frage zwei : Welche Innenansicht gehört zu welcher Kirche ?
Frage drei : Gehört vielleicht eine der Innenansichten nicht zu
einer der abgebildeten Kirchen ?
Viel Erfolg beim Raten wünscht Euer Photoquiz-Freund
Jac. Demonthy
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